Peter Huemer

1968. Eine Kulturrevolution

 

„Wir haben sie so geliebt, die Revolution“, nannte Herausgeber Daniel Cohn-Bendit 1987 ein Buch der Erinnerung. Sein nächstes, 20 Jahre später, hieß terminologisch präziser „1968. Die Revolte“. Wobei „1968“ als Chiffre gilt für eine im weitesten Sinn zusammenhängende Ereigniskette, die in Europa im Wesentlichen den Zeitraum 1967 – 1969 umfasst, aber mit einem Vorher und Nachher, das dazu gehört.

Wo beginnen? Die Musik war wichtig für das neue Zeitgefühl. „The Times They Are A-Changin‘“, Bob Dylan 1964, war Prognose und musikalisches Manifest. „(I Can‘t Get No) Satisfaction“ der Rolling Stones 1965 mit dem genialen Gitarrenriff von Keith Richards am Beginn war ein (im Grunde etwas weinerlicher) Aufschrei, der genau passte. Und natürlich gehören auch die Beatles und „Beatlemania“ in den Aufbruch. Aber: die meistverkaufte Single in Deutschland 1968 wurde von einem 13jährigen Buben namens Heintje gesungen und heißt: „Mama“. Nicht alles war Kulturrevolution.

Für Deutschland und Österreich besonders wichtig wurde ein Foto. Am 2. Juni 1967 war der Schah auf Staatsbesuch in Berlin. Es gab eine wütende Gegendemonstration, die den Schah als Marionette der USA betrachtete. Die Polizei reagierte. Ein Student namens Benno Ohnesorg wurde in einen Hinterhof getrieben und durch Kopfschuss von hinten getötet. Davon gibt es ein Bild: eine elegant gekleidete junge Dame beugt sich über den Sterbenden, hält seinen Kopf und blickt entsetzt in Richtung Täter. Mit diesem Bild, das tausendfach publiziert wurde, ist etwas gekippt. Es wuchs die Wut bei den Jungen und die Bestürzung der liberalen Gesellschaft: Sie töten unsere Kinder!

Nachdem der Polizist, der Ohnesorg erschossen hatte, im November 1967 freigesprochen worden war, wurde Gewalt zum Thema. „Gewalt gegen Sachen“ hieß es zunächst. Am 2. April 1968 brannten in Frankfurt zwei Kaufhäuser. Der Schaden war gering, unter den Tätern Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Neun Tage später, am Gründonnerstag 1968, wurde der Berliner Studentenführer Rudi Dutschke von einem jungen Hilfsarbeiter zweimal in den Kopf geschossen. Dutschke überlebte, starb jedoch an den Folgen des Attentats 1980.

Für den mitteleuropäischen Diskurs zur Gewaltfrage waren zwei Philosophen besonders wichtig: Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno. Adornos Satz in den „Minima Moralia“ (1951): „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ wurde seit 1968 zu Tode zitiert, hat aber, nimmt man ihn wörtlich, radikale Konsequenzen: richtiges Leben kann dann nur Widerstand bedeuten. Das heißt aber auch – muss nicht unbedingt – Gewalt. Adorno selbst, der 1969 seine Vorlesung nach Konflikten mit den Studierenden einstellte, schreckte davor zurück. Die Rote Armee Fraktion nach dem politischen Scheitern der Studentenbewegung hat er nicht mehr erlebt, da er im Sommer 1969 starb.

Zur RAF: An deren Beginn stand ein falscher Faschismusbegriff. Der Politikwissenschaftler Reinhard Kühnl veröffentlichte 1969 „Deutschland zwischen Demokratie und Faschismus“. Darin schreibt er: „Eine solchermaßen autoritär-unpolitisch-antikommunistisch präparierte Bevölkerung . . . musste bei studentischen und anderen Demonstrationen nach dem Knüppel rufen und . . . nach dem starken Mann verlangen, der endlich Ordnung schafft . . .“ Das bedeutet: Die Demokratie gilt den Bewegten als gewalttätig und wird von den Gewaltbereiten für schwächer gehalten als sie tatsächlich ist. Daher bei vielen die realitätsferne Illusion, diese Ordnung könne gestürzt werden. Und als das nicht ging, landete eine winzige Minderheit im Terror. Aber am Beginn stand ein falscher Faschismusbegriff.

Herbert Marcuse prägte in einem Essay 1965 das Schlagwort „repressive Toleranz“: eine staatliche „Toleranz“, die in den USA Vietnamkrieg und Rassendiskriminierung akzeptiert, sei in Wirklichkeit Unterdrückung. Protest dagegen sei legitim. Ein Schlagwort jener Jahre hieß „entlarven“: den vorgeblich toleranten Staat als gewalttätig entlarven.

Der Vietnamkrieg war ein zentraler Auslöser für die 68er-Bewegung und führte zu Protesten weltweit durch viele Jahre. Die Demonstrationen in den USA erreichten 1969 einen Höhepunkt, als das zunächst vertuschte amerikanische Massaker im März 1968 in My Lai bekannt geworden war. Aber schon in den Jahren davor hatte es wütende Proteste gegen den Krieg gegeben, besonders spektakulär bei der Convention der Demokraten in Chicago im August 1968. Die Fernsehkameras zeigten den Aufruhr und das brutale Vorgehen der Polizei. Es gibt die Theorie, dass diese TV-Bilder vom Wahlkongress der Demokraten mitentscheidend waren, dass der Republikaner Nixon Präsident wurde, weil viele verschreckte Bürger am Wahltag zu den Konservativen geflüchtet sind.

Und die Rassenfrage: Im Sommer 1967 hatte es schwere Unruhen in Detroit gegeben nach einer Polizeirazzia. Und im Herbst 1968 die schwarzen Olympiasieger in Mexico City bei der Siegerehrung mit erhobener Faust und gesenktem Kopf während der amerikanischen Hymne. Das schürte die Angst vor „Black Power“. Dazu muss man wissen: 1967 hatte der Supreme Court entschieden, dass schwarze und weiße Menschen einander heiraten dürfen. Bis 1967 war das in mehr als einem Dutzend Bundesstaaten der USA verboten gewesen! Und im April 1968 war Martin Luther King in Memphis/Tennessee von einem weißen Rassisten ermordet worden.

Der Kampf gegen den Imperialismus war ein weltweites Ziel der Bewegung, hing mit dem Vietnamkrieg zusammen und wurde befeuert von Kampfschriften wie „Die Verdammten dieser Erde“ von Frantz Fanon, mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre (1961). Dieser Kampf war konkret, beflügelte aber gleichzeitig einen Traum: den Traum von einer anderen Welt. „Wir können eine Welt gestalten, wie sie die Welt noch nie gesehen hat“, proklamierte Rudi Dutschke: eine Welt ohne Krieg, ohne Hunger, ohne Unterdrückung. Und Che Guevara: „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche.“

Guevara war d e r Held des antiimperialistischen antiamerikanischen Kampfes. „Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam!“ proklamierte er. Das Foto, das Korda 1960 von ihm gemacht hatte, ist angeblich das meistreproduzierte Bild des 20. Jahrhunderts. Auch das Foto des aufgebahrten Che, nachdem er im Oktober 1967 in Bolivien ermordet worden war, wurde zur Ikone. Die Revolution braucht solche Bilder. Und solche Sätze: „Che lebt!“

Doch die Revolution ist gescheitert. Gescheitert der Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus, gescheitert Hippies und Flower Power, gescheitert der Kampf um Reformen in Warschau und Prag, gescheitert der Kampf der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Über „gewaltige soziale Ungerechtigkeiten“ hatte Erzbischof Dom Helder Camara aus Brasilien gesprochen und die lateinamerikanische Bischofskonferenz in Medellin 1968 tat desgleichen – aber: politisch und innerkirchlich gescheitert unter Johannes Paul II. Doch der gegenwärtige Papst greift diese Ideen wieder auf.

Es gab allerdings auch Momente des Glücks: im Pariser Mai, als die erträumte Kampfgemeinschaft von Studenten und Arbeitern zu gelingen schien. „Meine Idee war damals“, schrieb Cohn-Bendit 1975 in „Der grosse Basar“, „dass sich nach den Barrikaden der Sieg der Bewegung materialisieren müßte. Es durfte nicht bei einer Hoffnung bleiben, es mußte einen wirklichen Umschwung geben.“ Dazu kam es nicht. Ende Juni 1968 ließ De Gaulle wählen und siegte deutlich. Schon davor hatte der Innenminister ein Aufenthaltsverbot in Frankreich über Cohn-Bendit verhängt. Es gab bewegende Solidarität dagegen: „Wir sind alle deutsche Juden!“ Es gab aber auch: „Cohn-Bendit nach Dachau!“

Als Ende Juni in Frankreich gewählt wurde, veröffentlichte Ludvik Vaculik in Prag sein „Manifest der 2000 Worte“. Der Text steht (noch) auf dem Boden des Sozialismus, befasst sich aber auch mit dessen Irrtümern. Es spricht einiges dafür, dass damals in Moskau entschieden wurde: Das ist Konterrevolution! Das gibt dem „Manifest“ seine welthistorische Bedeutung. Der „Prager Frühling“ war eine radikale innerkommunistische Reformbewegung im sowjetischen Machtbereich in der ersten Jahreshälfte 1968, proklamierte den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ und ist gescheitert. Am 20. August 1968 besetzten Panzer der Warschauer Pakt-Staaten die CSSR. Damit war klar geworden, dass dieser „reale Sozialismus“ sowjetischer Prägung nicht reformierbar ist. Nachsatz: Ich habe Vaculik einmal gefragt, ob es wirklich 2000 Worte waren. Seine Antwort: Die ganze Familie habe gezählt und alle hatten ein anderes Ergebnis. Aber ungefähr 2000 stimmt schon.

Parallel zum Prager Frühling kam es im März 1968 zu Studentenprotesten in Warschau und anderen polnischen Städten. Die wurden niedergeschlagen. Und weil einige protestierende Studenten jüdischer Herkunft waren, kam es in Polen zu einer wilden antisemitischen Kampagne: „eine 5. Kolonne des Zionismus“ sei am Werk. Die Mehrheit der polnischen Juden verließ das Land.

Alles gescheitert. Ist „1968“ dennoch wichtig? Und wie! Dieses Jahr hat unser Leben verändert. Bis heute, durch einen umfassenden Wertewandel. Eine Kulturrevolution.

Im Bereich der Erziehung hieß das Modell Summerhill: „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ von Alexander Neill. „Antiautoritär“ meinte: Dürfen wir den Kleinen verbieten, die Wand mit Marmelade zu bestreichen oder schadet das ihren zarten Seelen? Neill schreibt: Wenn Ihr dreijähriger Sohn den Hammer nimmt und auf Ihr neues Auto zuläuft, müssen Sie sich entscheiden: für das Kind oder für das Auto. Das Beispiel ist hervorragend und mit britischem Sarkasmus gewählt, weil auf der Hand liegt, wie die Entscheidung ausfällt. Daher: Wenn Sie „antiautoritär“ ernst nehmen, dann wird es mühsam. Das sagt uns der Autor damit. Und es war mühsam.

Aber: Nach Faschismus und autoritärer Nachkriegszeit wurde „Gehorsam“ als Erziehungsziel jetzt abgeschafft. Das war entscheidend. Soll sein, zunächst mit Übertreibungen und einiger Ratlosigkeit der Erziehenden, doch das ändert nichts daran: das dumpfe Ideal zerbrach. Und wenn der Bundespräsident vor wenigen Wochen beim „Gedenkakt zum 80. Jahrestag des 12. März 1938“ (zum Glück haben wir den richtigen Mann gewählt!) von einer Jugend sprach, „deren Maxime nicht das Gehorchen, sondern das kritische Hinterfragen sein soll“, dann ist das: 1968.

Es gab den Streit um sogenannte „Sekundärtugenden“: Disziplin, Pünktlichkeit, Ordnungsliebe, Manieren usw. Brauchen wir die? Oskar Lafontaine hat es später auf den Punkt gebracht: „Damit kann man auch ein KZ betreiben.“ Weg damit! Doch bald hat sich herausgestellt, wie mühsam unser Zusammenleben ohne diese Sekundärtugenden wird. Daher wurden sie reaktiviert. Was aber blieb, war die Erkenntnis: Es sind Sekundärtugenden, nicht mehr.

Zur Diskussion um das Prinzip „Gehorsam“ gehört der Generationenkonflikt. Auf der einen Seite eine Mehrheit der Älteren, die noch im Nachkrieg steckte: brav sein, sparen, Mund halten! Die nationalsozialistische Erfahrung wirkt nach. Andererseits: „Trau keinem über 30!“ Die Begeisterung über das eigene Jungsein und die Abrechnung mit dem zornigen Unverständnis vieler Alten: Was wollen diese Rotzlöffel? Dagegen als Waffe im Streit die Frage an Eltern und Großeltern: Was habt ihr gemacht in der Nazizeit? In Deutschland war das ein wichtiger Aspekt im Generationenkonflikt. In Österreich weniger. Da ging es erst 1986 richtig los, mit dem Streit um Waldheim.

Das Sexuelle: In einem interessanten Buch „Die neuen Sexfronten“ (2000) schreibt Mariam Lau, die „sexuelle Revolution“ werde zu Unrecht der Studentenbewegung zugeschrieben. Die habe schon früher begonnen. Nach dem Erfolg des „Wirtschaftswunders“, nach Zulassung der Pille, sei das Bürgertum der ständigen Bevormundung müde geworden: Jungfräulichkeit als Ideal, ein uneheliches Kind als Schande, Ehebruch strafbar, vom Kuppeleiparagraphen bedroht, wer Unverheirateten ein Zimmer gibt, Homosexualität strafbar. Dagegen Beate Uhse, Inhaberin einer Kette von Sexshops, laut Mariam Lau „die Gräfin Dönhoff der sexuellen Befreiung“, und der Journalist Oswalt Kolle mit seinen Büchern und Filmen zum Thema sexuelle Aufklärung, über den die „Bild“-Zeitung 1968 schrieb: „In deutschen Ehebetten wird nur noch zu dritt geschlafen, links der Mann, rechts die Frau und in der Mitte Herr Kolle.“ Uhse und Kolle, meint Lau, seien für die „sexuelle Revolution“ wesentlich wichtiger gewesen als die Studentenbewegung, wo man recht naiv meinte: sei das Geschlechtliche befreit, werde der Rest schon nachfolgen.

Als Zentrum vermuteter Ausschweifung galt die legendäre Kommune I in Berlin, über die der Kommunarde Bommi Baumann allerdings in „Wie alles anfing“ schreibt, es habe dort in Wirklichkeit häufig Frauenmangel geherrscht. Und über seine studentischen Mitbewohner urteilt der junge Arbeiter: „Die Typen waren ja auch irgendwie noch verklemmt, mit Bräuten haben sie es ja immer nich gebracht.“ Als ich viele Jahre später Baumanns Mitbewohner Fritz Teufel darauf ansprach, meinte der, so viele wie der Bommi habe er mindestens flachgelegt - eine Formulierung, die in dieselbe Richtung weist wie der bekannte Rebellenspruch: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“

Kein Wunder, dass es dagegen weiblichen Widerstand gab. Im Flugblatt des Frankfurter Weiberrats im November 1968 heißt es: „Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!“ (mit 19 Rufzeichen dahinter!) Die jungen Frauen nahmen die revolutionäre Maxime „Das Private ist politisch“ offensichtlich ernster als ihre männlichen Kommilitonen das taten. Zwar löste sich der Frankfurter Weiberrat bereits Anfang 1969 wieder auf, doch ist er eine wichtige Vorstufe für Frauenbewegung und feministische Theorie, die in den 70er Jahren eine spannende Blütezeit erlebten. Auf dem Weg dahin sind die weiblichen Erfahrungen von 1968 – die positiven wie die negativen – ein Meilenstein. Und unbestritten ist auch, dass die Rebellion das Zusammenleben verändert hat – sowohl in partnerschaftlicher als auch in sexueller Hinsicht. Man wurde „freier“. Und das Prinzip Ehe und Kleinfamilie wurde radikal in Frage gestellt. Mit bleibenden Folgen.

Nachsatz: Und dass der Papst ausgerechnet 1968 in „Humanae vitae“ den Katholiken den Gebrauch der Pille verbot, führte endgültig dazu, dass katholische Sexualmoral für die Mehrheit der Katholiken irrelevant geworden ist.

Und Österreich? Ein etwas verschlafener Kleinstaat, nicht mehr arm, aber auch noch nicht wohlhabend, mit einer konservativen Regierung, der jedes Verständnis, was vorging, verwehrt blieb, während auf der Gegenseite Bruno Kreisky jene Aufbruchsstimmung, die weit über das rebellische Studentenmilieu hinausreichte, für seine sozialdemokratischen Reformpläne zu nutzen wusste. Dazu kam, dass es ab 1967 den ORF gab (ein Verdienst der konservativen Regierung!) mit einer „Informationsexplosion“, die Fenster zur Welt aufstieß. In diesem Zusammenhang gilt der Satz von Marshall McLuhan 1964: „The medium ist the message.“ Der ORF selber war die Botschaft. Der Sender wurde zur Zentralanstalt einer Modernisierung des Landes, war mitbeteiligt an einem Klima neuer Offenheit. Das alles half damals Kreisky, der sich zudem sehr schnell im neuen Medienzeitalter zurechtfand. So wurde der sozialdemokratische Wahlsieg 1970 möglich.

Es gab 1968 ein Ereignis in Österreich, das international registriert wurde: die Aktion „Kunst und Revolution“ im Juni 1968 im Neuen Institutsgebäude der Universität Wien, gemeinhin bekannt als „Uni-Ferkelei“. Ausführende waren die Aktionisten Günther Brus, Otto Mühl, Peter Weibel, Oswald Wiener und der Journalist Malte Olschewski. Unter den Zuschauern der junge Wiener Journalist Jeannee, der für die Tageszeitung „Express“ einen Bericht schrieb, der so beginnt: „Ein Zufall (ob ein glücklicher oder nicht, vermag ich nicht zu sagen) war es, der mich Freitagabend in den Hörsaal I führte. Meine Zeitung hat mich nicht hingeschickt. Niemand schaffte mir, darüber zu berichten. Trotzdem tue ich es. So schwer es mir auch fällt . . .“ Im Folgenden schildert der Chronist zutiefst erschüttert, wie auf dem Pult uriniert, defäkiert und masturbiert wurde unter Absingen der Bundeshymne. Ein Vermummter wurde „blutigrot“ geschlagen, ein anderer schnitt sich selber die Brust mit der Rasierklinge blutig, einer erbricht sich. Auch wurde Bier getrunken.

Als die Aktion nach einer halben Stunde vorbei war, habe einer der Zuschauer erklärt: „Gut. Sehr gut. Aber doch nicht hier, vor uns, die wir das alles verstehen. Mein Vorschlag: Ab, in die Stephanskirche, sofort, und das ganze noch einmal . . .“ Laut Jeannee: „Beifall“.

Natürlich kann man diese Aktion den für 1968 typischen Übertreibungen zuzählen, aber interessant daran ist, dass es in Österreich die Kunst war, die den Aufstand probte. Dazu muss man wissen, dass der Wiener Aktionismus schon in den Jahren davor wiederholt mit der Polizei in Konflikt geraten war. Und interessant ist auch, dass es in der Literatur in dieser Zeit, ab Ende der 60er, einen radikalen Generationswechsel gab: Elfriede Jelinek, Peter Turrini, Wolfgang Bauer, Michael Scharang, Barbara Frischmuth, Gerhard Roth, Christine Nöstlinger, Renate Welsh, Walter Kappacher, Gustav Ernst. Dazu die finsteren Heimatdichter Franz Innerhofer und Gernot Wolfgruber. Alle binnen weniger Jahre. Etwas früher Thomas Bernhard und Peter Handke, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker. Dies ist ein bedeutender österreichischer Beitrag für eine Generation, die theorieversessen war, aber auch literaturversessen. Eine Genration, die gelesen hat.

Gleichzeitig sei festgehalten, dass vieles in die Irre ging – kein Wunder, wenn so viel probiert wird: in Österreich das Experiment „Friedrichshof“ des oben erwähnten Otto Mühl, ein böser Irrweg. Der Terror ab Anfang der 70er, nicht nur in Deutschland, war eine Katastrophe. Der verbreitete Konsum von Drogen, nicht nur unter Studierenden, zunächst Haschisch, aber auch LSD und Heroin. Daran gingen viele zugrunde. Und wenn Janis Joplin 1970 sang: „Freedom´s just another word for nothin´ left to lose“, dann klingt das wundervoll poetisch – aber die Studenten in Prag sahen das anders. Joplin starb 1970, Jimi Hendrix starb 1970, Jim Morrison 1971. Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Meistens Heroin. Live fast, love hard, die young.

An sich gab es keinen Anlass für dieses Jungsterbenwollen. Das war eine Generation von jungen Menschen, die im Westen in steigendem Wohlstand aufwuchs und deren Zukunftsaussichten recht gut waren. Und als Rudi Dutschke überlegte, es könnte mit der Revolution vielleicht doch nichts werden, schlug er den „Marsch durch die Institutionen“ vor. Dazu kam es auch vielfach, mit doppeltem Effekt: die Institutionen veränderten sich durch die 68er, die 68er veränderten sich durch die Institutionen.

Verändert hat sich auch der 1968 so wütend bekämpfte Kapitalismus. Er hat daraus gelernt, verlor seinen etwas antiquierten paternalistischen Nachkriegscharakter, wurde moderner, geschmeidiger und brutaler. „Aus Durst wird Coca Cola.“ Ivan Illich prägte den genialen Satz 1970 gegen eine hilflose Entwicklungshilfe. Gleichzeitig beschreibt er, wie es dieser Marktwirtschaft immer besser gelungen ist, die Welt zu durchdringen und die Bedürfnisse von Menschen auch zu deren eigenem Nachteil erfolgreich zu manipulieren. Und als Pinochet 1973 in Chile putschte, wurde dessen blutige Militärdiktatur das Experimentierfeld für ein neues Wirtschaftskonzept, das wir heute als „Neoliberalismus“ bezeichnen.

Alles sollte sich ändern für die Generation von 1968, doch vieles ist gescheitert. „Es lebe Heraklit, nieder mit Parmenides!“ lautete ein Wandspruch in der Sorbonne im Mai 1968. Mit seinem berühmten Satz „Alles fließt!“ vertrat Heraklit die Position, alles auf der Welt sei in ständiger Bewegung und Veränderung. Parmenides bestritt das. Daher mochten ihn die Studenten nicht. Es war eine gebildete Generation, die kämpfte und erreichte, dass die Universitäten reformiert wurden. Das war auch notwendig. „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren.“ Für diesen Spruch forderte ein Professor in Hamburg im November 1967 „Konzentrationslager“.

Letzte Frage: Warum so plötzlich? Warum annähernd gleichzeitig von San Francisco über Paris, Berlin, Prag bis Tokio? Weil die Zeit dafür reif war. Weil ein gewisser Wohlstand erreicht war, der Sicherheit garantierte, aber zugleich der Weg ins Freie durch angstbesetzte Verbote, durch ein autoritäres „Du darfst nicht“ den jungen Menschen verschlossen schien. Diese Ungleichzeitigkeit ist es gewesen, die den Kessel zum Explodieren brachte.

Innenminister Kickl hat erklärt, diese ÖVP-FPÖ-Koalition sei ein „offensiver Gegenentwurf zur 68er-Generation“. Sollte die Regierung damit erfolgreich sein, wäre das ein fundamentaler gesellschaftspolitischer Rückschritt – am allermeisten für Frauen. Die Ideen von 1968 hatten viele Lebensbereiche erfasst, haben junge Menschen befreit und ihnen geholfen, ein selbstbestimmteres Leben zu führen. Das heißt nicht, dass sie deswegen glücklicher geworden sein müssen. Aber ihre Chancen, es zu werden, hatten sich verbessert.