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Coca Colonisation und Kalter Krieg


© by Reinhold Wagnleitner


Einleitung


„...von Europa aus hat man beim Amerikanerwerden immer eines gemeinsam, und das ist die Verachtung für mich - es ist nichts anderes als die Hautfarbe. Wo immer sie herkommen mochten, in diesem Punkt hielten sie zusammen (...) Jeder Immigrant wußte, daß er nicht der letzte Dreck war. Auf jeden Fall stand er über einer Gruppe, und das waren wir (...) So in a sense, becoming an American is based on an attitude: an exclusion of me.“ 1)

Sie werden sich wahrscheinlich wundern, warum ich mein Buch über den Einfluß der Kultur der USA in Österreich mit dieser beklemmenden Aussage der afro-amerikanischen Autorin Toni Morrison einleite. Gewiß, ich könnte auch fragen, ob Sie diese Woche schon shopping waren oder ob auch Sie die ÖIAG bereits wie AUSTRIAN INDUSTRIES buchstabieren, wo doch die Cheese-base so schön zum Himmel stinkt? Und wie steht es denn mit Ihrer Gesundheit und Ihrem Schönheitsideal? Gehen Sie Joggen, machen Sie Workouts, builden Sie den Body, oder bereiten Sie sich auf den Showdown mit Boetyling vor? Besuchen Sie gar am Wochenende ein American Football Match der Vienna Ramblocks gegen die Styrian Panthers, oder der Salzburg Lions gegen die Hallein Diggers? Informieren Sie sich davor in der Radio Holiday Wetter Show, ob Sie auch den Trenchcoat mitbringen sollten? Oder reicht der klassische Trachtenjanker im Jeans-Look? Oder sind Sie überhaupt eine(r) derjenigen, die der Coca-Colonisation dadurch tapfer widerstehen, daß sie Almdudler trinken - jenes Getränk, von dem die Marketing Experten behaupten, es sei der Drink mit Drive aus Österreich?
Jene Europäer, die die 'Amerikanisierung' ihres Kontinents beklagen, haben sich sicher gefreut, als die Donald-Duck-Partei bei den schwedischen Reichstagswahlen von 1982 nur 175 Stimmen erhielt. Wie aber sollen wir mit der Information umgehen, daß im April 1986 im burgenländischen Nickelsdorf angeblich rechtsradikale Bauern gegen die sozialistische Agrarpolitik mit Transparenten demonstrierten, auf denen zu lesen stand: MORE POWER FOR THE BAUER. Saß ich gar in einer Zeitmaschine des globalen Dorfes, als ich am 1. Mai 1989 die sowjetische Parteiführung dabei überraschte, als sie beim Maiaufmarsch am Roten Platz wohlgefällig eine akrobatische Rock'n'Roll-Parade von Dutzenden Tanzpaaren abnahm?

Es sollte eigentlich unumstritten sein, daß es sich bei dem globalen Erfolg der US-amerikanischen Kultur um ein bedeutendes Kapitel der Geschichte unseres Jahrhunderts handelt. Faszinierend ist diese Entwicklung ja vor allem deshalb, weil wir es hier eben nicht nur mit einem kulturellen Prozeß im engeren Sinn, sondern auch mit einem Wirtschaftlichen und eminent politischen Phänomen zu tun haben, nämlich dem Phänomen der symbolischen Macht, der Macht über das kulturelle Kapital. Denn es kann ja überhaupt keine Rede davon sein, daß sich die Produkte der US-Kultur im Ausland gleichsam automatisch durchsetzten. Gewiß: wir müssen die USA als Originalausgabe der Modernität verstehen, während es sich bei uns, um mit Jean Baudrillard zu sprechen, ja nur um eine synchronisierte Version, also gewissermaßen um eine Version mit Untertiteln handelt.(2 Jedenfalls schienen die USA, nach der zweimaligen Selbstzerfleischung Europas und dem selbstverschuldeten Konkurs der europäischen Kultur, die Codes der Modernität für sich alleine gepachtet zu haben. Und die Faszination, die der 'Mythos Amerika' vor allem auf junge Menschen ausübte, darf in diesem Zusammenhang nicht unterschätzt werden.

Die globale Success-Story der US-Kultur hat aber noch eine andere Dimension: nämlich die massive direkte und indirekte Unterstützung des Exports dieser Kultur durch die Regierungen der USA. Und diese Unterstützung war ja vor allem deshalb so massiv, weil es sich dabei eben keineswegs nur um ein Nebenprodukt der allgemeinen politischen, militärischen und ökonomischen Strategie handelte, sondern um ein besonders wichtiges, wenn nicht überhaupt das entscheidende Mittel zur Etablierung der Pax Americana.
Eine Analyse der Menge der auf der Einbahnstrecke der Medienkanäle fließenden Informationen, der Organisation der Kommunikationsmittel und Vertriebswege, der Struktur der industriellen Arrangements der Informationsmedien, der Substanz der ideologischen Werte, der Mediengrammatik und -idiome, der spezifischen Medieninhalte, kurzum: eine Analyse der bestehenden Asymmetrie im Bereich des Kulturtransfers läßt keinen anderen Schluß zu, als daß wir es hier mit Kultur- bzw. Medienimperialismus zu tun haben.(3 Es steht wohl außer Frage, daß es sich dabei vorläufig um die bisher erfolgreichste Weiterentwicklung früherer Formen des Kolonialismus bzw. Imperialismus handelt. Denn die Medienindustrie hat sich, gewissermaßen als technologischer Parasit und - häufig - als ideologischer Apologet des militärisch-industriellen Komplexes, zur Schwerindustrie unserer Epoche entwickelt.

Wenn wir also formal durchaus von US-Kulturimperialismus sprechen können, so sollten wir, gerade im Hinblick auf die österreichische Situation nach 1945, doch bedenken:

1. Der Kulturimperialismus der USA war zunächst einmal ein in vielerlei Hinsicht begrüßenswertes Gegengift gegen den Imperialismus der nationalsozialistischen Kultur. Und um wieviel ärmer wäre mein Leben ohne Arthur Miller und Marilyn Monroe, Kurt Vonnegut und Philip Y, Dick, Ray Charles und Muddy Waters, Miles Davis und Laurie Anderson, Blues, Jazz, Soul, Rock'n'Roll, Funk und - Donald Duck.

2. Die Kongruenz der antikommunistischen Wertvorstellungen zwischen den US-Besatzern und der Mehrheit der österreichischen Bevölkerung läßt wohl den Schluß zu, daß es sich hier um einen klassischen Fall von Selbstkolonisation handelt. Wenn auch die auf dem Altar des Kalten Krieges geopferte US-Entnazifizierungspolitik Stückwerk blieb, so wurde die politische Kultur Österreichs doch ganz entscheidend geprägt. Und zwar über die durch den Marshall-Plan vermittelte Ideologie des Endes aller Ideologien. Die gerade die Sozialdemokratie bestechende Lösung, die dieser internationalisierte New Deal versprach, bestand in der scheinbaren Aufhebung und Überwindung von Klassenkonflikten nicht durch Umverteilung, sondern durch Wirtschaftswachstum; in der Lösung sozialer Probleme durch vermeintlich ideologiefreies social engineering - d.h. in der Umwandlung von Politik in Ökonomie.(4

3. Um dem Phänomen des US-Kulturimperialismus in Österreich tatsächlich gerecht zu werden, müßte eigentlich von der Metropole USA, der Kolonie Bundesrepublik Deutschland und der Subkolonie Österreich die Rede sein.

4. Umberto Eco hat sicher recht, wenn er darauf verweist, daß vor dem Schatten eines Kommunikationsnetzes, das sich ausbreitet, um die ganze Welt zu umspannen, (... ) jeder Bürger der Welt zum Mitglied eines neuen Proletariats wird.(5 Wenn wir Kultur als Informationsnetzwerk betrachten, dann müssen wir uns auch damit auseinandersetzen, daß die raffiniertesten Informationsnetzwerke, mit denen Menschen je konfrontiert waren, auch immer mehr die Parameter der Kultur definieren. Und die Kultur des Kapitalismus, in der ja der Markt zum höchsten Kulturgut an sich avancierte, ist per definitionem populäre Kultur, und Pop konnotiert die USA. 'Pop goes the culture' resumierte das TIME Magazin lakonisch und lieferte gleich noch eine mustergültige Definition unserer kulturellen Situation, die ja nichts anderes bedeutet als „advanced capitalism with a beat you can dance to“.(6 Der hegemoniale Diskurs stützt sich eben auch auf die Macht über die Zeichen, und die Grenzen zwischen Hardware und Software verschwimmen immer mehr. Aber High Tech bedeutet noch lange nicht High Quality und schon gar nicht High Fidelity . Das neue Proletariat der Informationsgesellschaft benötigt daher nichts dringender als eine semiologische Guerilla.

5. Wir dürfen auch nicht übersehen, daß exportierte kulturelle Zeichen in dem Moment ihre Identität verändern, wo sie auf die Schnittstellen anderer Kulturen treffen. So versprachen die Jeans, die Hosen der Sieger, zunächst einmal nicht nur Bequemlichkeit, sondern vor allem auch Freiheit. Außerdem eigneten sie sich auch bestens als Symbol der Marshall-Plan-Kultur, wo der Stoff der Arbeit zum Emblem der Befreiung wurde. Die genieteten Taschen waren aber auch fest genug, jenes Geld aufzunehmen, das den jugendlichen Jeans-Trägern erstmals zur Verfügung stand, und der jüngste Trend der Designer-Jeans-Mode läßt wohl die Frage zu, ob die Freiheit vielleicht nicht doch in die Hosen gegangen sein könnte.(7

6. Die These von Rend-Jean Ravault, nach der der US-Kulturimperialismus zum Boomerang werden könnte, ist zumindest überlegenswert. Dabei denke ich gar nicht an die vehementen Reaktionen, wie wir sie gegenwärtig vor allem in der islamischen Welt verfolgen können, sondern ganz einfach daran, daß z.B. 1966 ein siebzehnjähriger Innviertler die Rolling Stones verstehen konnte, als sie meinten „the pursuit of happiness just seems a bore“.(8 Aber selbst wenn es sich beim US-Kulturimperialismus auch nur um einen Papiertiger, bzw. um einen Zelluloid-, Plastik- und Silikontiger handeln sollte, so bleibt er doch immer noch ein Tiger.(9

7. Schließlich ist es auch noch von zentraler Bedeutung, daß der offizielle US-Kulturimperialismus auf der mentalen Schiene der Verteidigung des Abendlandes lief. Die verantwortlichen US-Experten sahen sich ja selbst gewissermaßen nur als die besseren Europäer, die die verarmten Cousins darüber aufzuklären hatten, daß die europäische Kultur jenseits des Atlantiks bestens aufgehoben war und in voller Blüte stand. Und - die Betonung dieser Gemeinsamkeiten der euramerikanischen Kultur bedeutet ja nicht mehr und nicht weniger als den bewußten Ausschluß jener Bereiche der Kultur der USA, die scheinbar nicht zu diesem gemeinsamen Erbe zählten, d.h. vor allem der Kultur der Afro-Arnerikaner und der aus ihr entwickelten Mischformen. Wir sind hier also mit jener ursprünglich europäischen, später euramerikanischen christlichen Mentalität konfrontiert, die sich in der Spielart des kulturellen Rassismus hervorragend als Rechtfertigungs-Ideologie des Imperialismus eignet. (10
Anthropologisch gesprochen fanden die Kulturzusammenstöße ja nie wirklich zwischen dem 'weißen' Amerika und dem 'weißen' Europa statt, sondern zwischen den 'weißen' Euramerikanern und den 'Indianern' und Afrikanern, und diese Liste ließe sich verlängern. Dies ist auch der entscheidende Grund dafür, daß der Verbreitung der Kultur der USA in Europa weder bei der formellen noch bei der materiellen Akkulturation unüberwindliche Hürden entgegenstanden. 1 1 Sollte uns der Gleichklang der kulturellen Wertvorstellungen der Befreier und der Befreiten nicht einigermaßen seltsam anmuten? Sollte es uns nicht zu denken geben, daß die große Mehrheit der US-Kulturoffiziere die sogenannte 'Negerkultur" genauso vehement ablehnte, wie viele Europäer?

Wie heißt es doch in Ingeborg Bachmanns Der gute Gott von Manhattan?

Bei grünem Licht denk daran
Vorsicht vor den Roten und Braunen
der schwarzen und gelben Gefahr
was sollen sich unsere Mörder denken
du kannst es nicht
Halt ! Bei rotem Licht stehen bleiben! (12

Und schon sind wir, nach einem dialektischen Schulterwurf, wieder bei Toni Morrison. Denn es kann gar nicht deutlich genug gesagt werden: das, was im allgemeinen pejorativ als „amerikanische Kultur“ bezeichnet wird, setzte sich eben nicht nur gegen die Opposition vieler Europäer durch, sondern auch gegen den erbitterten Widerstand der 'weißen' Elite der USA Die Containment-Strategen der US-Regierung waren die Letzten, die sich das Roll Back als Rock'n'Roll-Back vorstellen konnten. Und die US-Kulturoffiziere in Österreich wurden im November 1945 nicht umsonst aus New York gewarnt: „I fear that some of our hearty Congressmen may prove allergic to the word Cultural. I admit it's frightening." (13 Aber die Vorzüge der Marilyn-Monroe-Doktrin wurden schließlich auch ihnen rasch klar, und sie mußten auch keine allzu große Angst haben: denn auch das Rock Around the Block wird gewiß zum Rock'n'Rubel verkommen.
Jedenfalls bedeutet die positive und die negative Faszination, die das "Phänomen Amerika" ausübt, gleichzeitig auch eines der größten Probleme bei seiner wissenschaftlichen Erfassung. Noch schwieriger wird es, wenn wir uns des Fiktionsgehaltes der europäischen "Erfindung Amerika", der europäischen „Simulation Amerika“ bewußt werden. Nicht umsonst heißt es an einer trefflichen Stelle des Films „Mein Onkel aus Amerika“ von Alain Resnais: „Amerika, das gibt's ja gar nicht. Ich weiß es, denn ich habe da lange gelebt.“

Sind also die gesamten USA ein einziges Oakland? Ein Oakland, von dem Gertrud Stein einmal meinte: 'There is no there, there.“
Nein, es existiert tatsächlich ein dort dort, allerdings ein anderes dort, als es viele Euramerikaner wahrhaben wollen. Denn wir haben es seit der militärischen Eroberung Amerikas durch Europäer mit jahrhundertealten Mechanismen der Verdrängung zu tun - nicht nur mit der Verdrängung von Millionen Menschen aus Amerika, Afrika und Europa sondern vor allem mit der Sublimierung dieser Verdrängung. (14

Der Kern des Problems offenbart sich schon in der Kolonisation durch Sprache. Alleine der Name des Kontinents "Amerika“ ist ein Zeichen des europäischen Eroberungsdranges. Und läßt uns die irreführende Bezeichnung 'Indianer' nicht zumindest fragen, ob es sich bei dem ganzen europäischen „Unternehmen Amerika“ nicht um einen Irrtum in den Navigationskoordinaten der europäischen Kultur gehandelt haben könnte? Schließlich signifiziert der Begriff „Neue Welt“ doch nur, daß die alte Welt der „Indianer“ von den europäischen Eroberern nicht einmal als Teil der menschlichen Geschichte wahrgenommen wurde. Wie viele Europa-begeisterte US-Amerikaner bedauern nicht immer wieder, daß „Amerika“ leider keine lange Geschichte habe. Ist diese Geschichte wirklich so kurz? Die Folgen dieser mentalen Ausgrenzung sind bekannt.
Konfrontieren wir nicht einen der Hauptwidersprüche der Weltgeschichte überhaupt, wenn wir uns die tatsächlichen Konsequenzen der europäischen Eroberung Amerikas überlegen? Zählt es nicht zu einer der größten Verdrängungsleistungen der euroamerikanischen Weltgeschichtsvorstellungen, wenn die Besiedlung Amerikas durch die „weißen“ Eroberer als eine entscheidende Voraussetzung zur Überwindung der politischen, sozialen und ökonomischen Ungleichheiten, ja, mehr noch, gleichsam als Endpunkt des menschlichen Fortschritts gefeiert wird? Wo wir doch eigentlich wissen müßten, daß diese Überwindung der Ungleichheit der einen untrennbar mit der Verschärfung der Ungleichheiten bei den anderen verbunden war. Die Unabhängigkeitskriege auf dem amerikanischen Kontinent brachten zwar neue Staaten hervor, die sich mit dem Anspruch nach Demokratie von Europa lösten. Allerdings basierten fast alle dieser neuen Gesellschaften ihrerseits wiederum auf der Ausbeutung einer Sklavenkaste - der Monarchie folgte die Ethnokratie. Der ökonomische Sektor zeigt ein ähnlich paradoxes Bild. Denn die Einkommen von noch nie gekannter Höhe in dem einen Teil Amerikas basierten, wenigstens partiell, auf einer beispiellosen Ausbeutung der Arbeitskraft in einem anderen Teil des Kontinents. Und schließlich entsprach dem phänomenalen Bevölkerungszuwachs die fast völlige Ausrottung der „Indianer". (15

Wenn Amerika auf unseren kognitiven Karten auch als Ausdehnung und Verlängerung Europas, als Extrapolation der europäischen Geschichte eingezeichnet ist, so dürfen wir nie vergessen, daß Amerika auch die erzwungene Erweiterung Afrikas bedeutet. Bis in die 1840er Jahre übertraf die Zahl der nach Amerika verschleppten Afrikaner die der europäischen Emigranten bei weitem. Gegen Ende der 1820er Jahre waren ja aus Europa nicht viel mehr als zwei Millionen Menschen nach Nord- und Südamerika ausgewandert, während zum selben Zeitpunkt bereits mindestens acht Millionen Afrikaner eingeschleppt worden waren.(16 Das heißt, daß bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts für jeden Europäer, der nach Amerika kam, mindestens vier, wahrscheinlich aber fünf, afrikanische Menschen versklavt wurden. Und diese Relation bezieht sich überhaupt nur auf jene Afrikaner, die den amerikanischen Kontinent lebend erreichten. Die Zahl der an den unmenschlichen Transportbedingungen oder Krankheiten zugrunde gegangenen bzw. derer, die sich ihrem fürchterlichen Schicksal durch Selbstmord entzogen, wird auf zwanzig bis fünfzig Prozent aller versklavten Menschen geschätzt.(17 Es müßte uns doch eigentlich immer wieder zu denken geben, was es bedeutet, daß Brasilien heute, nach Nigeria, die zweitgrößte afrikanische Bevölkerung der Welt aufweist. Amerika ist also, zumindest auf dem Gebiet des menschlichen Leides, eine Extrapolation der afrikanischen Ge- schichte.
Mehr als die Hälfte aller Sklaventransporte von Afrika nach Amerika fallen übrigens in das 18. Jahrhundert. Das Licht der Aufklärung schien also nicht für alle Menschen gleich hell. Sicher, es wäre mehr als anachronistisch, zu verlangen, Sarastro hätte den Blues singen sollen, aber „Ein Sklavenfänger bin ich ja „ wäre als Arientitel einer Aufklärungs-Oper durchaus vorstellbar.

Aus dem eben Gesagten ergibt sich denn auch meine Ablehnung des Begriffes "Amerikanisierung“, eines Begriffes, der mehr verdrängt und verschleiert, als er erklärt. Versucht er doch eine welthistorische Entwicklung mit den ungeeigneten Kriterien nationalistischer Stereotypen zu fassen, die vorwiegend einem Zweck dienen: nämlich zu verschweigen, daß hinter dem Phänomen der "Amerikanisierung“ eigentlich die „Europäisierung“ der Welt liegt. Denn die Entwicklung der modernen Welt hat viel weniger mit der Propagierung der angeblichen Nationaleigenschaften der in den USA lebenden Menschen zu tun als mit der Weiterentwicklung des kapitalistischen Systems.
Malcolm Bradbury hat diesen globalen Prozeß einmal in seiner unübertrefflichen Weise als Prozeß der -ization, also als -ISIERUNG bezeichnet: d.h. Zentralisierung, Technisierung, Rationalisierung, Nationalisierung, Internationalisierung, Multinationalisierung, kurzum: Modernisierung. Diese -ISIERUNG ist ein Prozeß der Veränderung, der überall passiert, wo die kapitalistische Kultur Platz greift. Ihr Erfolgsgeheimnis liegt in dem Versprechen, daß wir alle schon immer auf diese Veränderungen gewartet haben, weil wir offensichtlich schon zu lange zu viel des immer Gleichen hatten. Und die Kultur dieser -ISIERUNG ist per definitionem a-national, anti-traditionell, a-historisch, polyglott und parodistisch. Waren in traditionellen Gesellschaften die Helden immer alt, weil Weisheit verehrt wurde, so sind die Helden der Konsumgesellschaft immer jung, weil Unschuld und Harmlosigkeit geschätzt werden unschuldige und harmlose Menschen geben mehr Geld aus. Die Zyklen dieses ständigen Wandels verlaufen so schnell, daß nun nicht mehr nur die Automodelle des Vorjahres veraltet sind, sondern auch dessen Ideen. Bradbury nannte das die Zehn-Minuten-Revolution, und die bedeutet, daß das Hirn meist leer ist - dafür sind die Mistkübel ständig voll.

CONSUMO, ERGO SUM, heißt denn auch die Devise der -ISIERUNG. (18 Credit Card statt Descartes.
Die Chiffre „Amerikanisierung“ bezeichnet dann also die Entwicklung einer konsumorientierten Gesellschaftsordnung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaften: pursuit of happiness als pursuit of consumption. Der amerikanische Traum bedeutet, so ein Sprichwort, daß man so viel Geld und Besitz übereinander auftürmt, bis man in den Himmel kommt. Aber Vorsicht: der "amerikanische Traum“ ist ein euramerikanischer Traum. Es gibt keinen Grund zur Schadenfreude, zumal den meisten Schaden ohnehin die anderen davontrugen. „Amerikanisierung“ signifiziert also einen Vorgang der kulturellen Transformation, einen Prozeß, bei dem mittels Propaganda und Reklame jene Partien des sozialen Gedächtnisses bearbeitet werden müssen, die sich der Logik der Konsumgesellschaft, der Gleichung: Überleben ist Konsum entgegenstellen. Nicht umsonst bedeutete „consumption“ bis zum 17. Jahrhundert Tuberkulose und „to consume“ hieß zerstören, aufbrauchen, verschwenden. (19 Vielleicht kann dieser Prozeß mit Recht "Amerikanisierung" genannt werden, was allerdings nur bedeuten würde, daß die Entwicklung der modernen Konsumgesellschaft ohne die Konsumption Amerikas durch Europäer nicht zu denken ist: damit Europa amerikanisiert werden konnte, mußte also zuerst Amerika amerikanisiert werden. In diesem Sinne sind wir dann gewiß alle Amerikaner, d.h. strangers in a strange land. (20

Anmerkungen:

1) Bobbie Angelo: Interview mit Toni Morrison, TIME, 22. Mai 1989, S. 46-48.
2) Baudrillard, Jean: America.- London, New York 1988.
3) Boyd-Barrett, Oliver. Media Imperialism: Towards an International Framework for the Study of Media Systems. In: Curran, James, Michael Gurevitch und Janet Woollacott (Hg.): Mass Communication and Society.- London 1977, S. 116-135.
4) Maier, Charles S.: 'Me Politics of Productivity: Foundations of American Intemational Economic Policy After World War 11. In: Intemational Organizations, vol. 31, Autumn 1977, No. 4, S. 607-633.
5) Eco, Umberto: Über Gott und die Welt. Essays und Glossen. München, Wien 1985, S. 146.
6) TIME, 16. Juni 1986, S. 53.
7) Könenkamp, Wolf-Dieter. Die Hosen des Siegers. In: Zeitschrift für Kulturaustausch, vol. 36, 1986, No. 1, S. 17-22; Bigsby, C.W.E. (Ed.): Superculture: American Popular Culture and Europe.- Bowling Green 1975; Portelli, Alessandro: 'Me Paper Tiger and the Teddy Bear. In: Gonnaud, Maurice, Sergio Perosa und C.W.E. Bigsby (Eds.): Cultural Change in the United States Since World War 11.- Amsterdam 1986, S. 88-89.
8) Die Textzeile stammt aus dem Rolling-Stones-Song "Mothers Little Helper" aus dem Album Aftermath.
9) Ravault, Rene-Jean: L'imperialisme boomerang. In: Revue Fran@se d'Etudes Americaines, No. 24/25, Mai 1985, S. 291-311.
10) Geiss, Imanuel: Geschichte des Rassismus.- Frankfurt/Main 1988; Mazrui, Ali A.: Uncle Sam's Hearing Aid. In: Sanford J. Ungar (F-d.): Estrangement: America and the World.- New York, Oxford 1985, S. 181-192.
11) Bitterli, Urs: Alte Welt - neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jahrhundert.- München 1986; Gewecke, Frauke: Wie die neue Welt in die alte kam.- Stuttgart 1986.
12) Bachmann, Ingeborg: Die Hörspiele.- München, Zürich 1985, S. 104.
13) WNRC 260/92/34. Brief-. Jim Clark and Albert van Eerden und James Minifie, New York, 2. November 1945.
14) Henningsen, Manfred: Der Fall Amerika. Zur Sozial- und Bewußtseinsgeschichte einer Verdrängung.- München 1974.
15) Eltis, David: Free and Coerced Transatlantic Migrations: Some Comparisons. In: American Historical Review, vol. 88, April 1983, No. 2, S. 251-280.
16) Ebd.
17) Bitterli, Alte Welt - neue Welt, S. 37.
18) Bradbury, Malcolm: All Dressed Up and Nowhere to Go.- London 1983, S. 127-162; Schüler, Andreas: Erfindergeist und Technikkritik: Der Beitrag Amerikas zur Modernisierung und die Technikdebatte seit 1900.- Stuttgart 1990.
19) Ewen, Stuart und Elisabeth Ewen: Channels of Desire.- New York 1982, S. 53.
20) Dies ist keine Anspielung auf Robert A- Heinleins Roman, sondern auf den Song von Leon Russell und Don Preston, erschienen auf dem Album Leon Russell and the Shelter People abc Records, SRL-52008.


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