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Das Problem Amerika als Artefakt der europäischen Expansion


© by Reinhold Wagnleitner


II. Der Mythos des Westens: Von der Ideologie der kolonisatorischen Mission zur Praxis der Eroberung und Ausbeutung


Dieser Mythos gewann nicht erst Kraft durch die von Columbus eingeleiteten Entdeckungen. "Der Westen" als Raum und Zeit durchaus widersprüchlicher Vorstellungen beeinflußte die Vorstellungen der Menschen der sogenannten abendländischen Welt nachweisbar seit der Antike. Schon lange bevor Columbus die Segel setzen ließ, hatte sich der Westen zu fundamentalen, einflußreichen Bildern verdichtet. Von der ägyptischen Mythologie, über Homer und Pindar, Plato und Aristoteles, Vergil, Plinius und Plutarch, über die Kirchenväter und die legendären Reisen des irischen Heiligen Brendan, von der griechischen Science Fiction von Atlantis bis zu den mittelalterlichen Legenden vom Goldenen Zeitalter reicht der Bogen der antizipatorischen Amerika-Bilder. Lange bevor das versunkene Atlantis durch Überquerung des atlantischen Ozeans wiedergefunden schien, lange bevor die fehlende Hemisphäre Amerika dem europäischen Weltbild eingefügt und gleich von ihm in Besitz genommen werden konnte, beschäftigte jene unbekannte, geheimnisvolle, aber gerade deswegen reizvolle, exotische, vorausgeahnte terra incognita faszinierte Europäer.
Die Säulen des Herkules, von den Menschen jener Zeit als real unüberwindliche Westgrenze akzeptiert, konnten allerdings nicht verhindern, daß die Neue Welt ihre Schatten in den Mythen vorauswarf, daß sie als magische Realität existierte. Dieser mythische Westen blieb keineswegs ausschließlich Elysium, dem Reich der Toten, vorbehalten.
Dort lagen auch Eden, die Insel der zauberhaften Frauen, EI Dorado, Ultima Thule, Arkadien, das ewige Leben, das absolute Glück, das Millenium und der unermeßliche Reichtum. Griechische und römische Kommentatoren, katholische Kirchenväter und die Ahnherrn des englischen Kolonialismus, wie Sir Walter Raleigh und Richard Hakluyt stimmten darin überein, daß sich das Zentrum des Imperiums ständig von Osten nach Westen verlagern werde. (14 Es bedurfte nur der tatsächlichen Entdeckung jenes imaginierten Kontinents durch Europäer, um die Idee des Westens durch die missionarische Kreuzzugsidee endgültig zu christianisieren. Die Säkularisierung dieser Vorstellungen bedurfte wiederum nur einer weiteren dialektischen Wendung, der Verbindung von christlichem Sendungsbewußtsein mit der ständigen Westbewegung des Neuen Reiches, und wir vermögen bereits die Konturen der inoffiziellen Ideologie der USA, des Manifest Destiny, jener Vorbestimmung und Sendung zur Ausbreitung des Reiches der Freiheit, zu erkennen. Die Kontinuität dieser Vorstellung und die Übernahme der vermeintlichen Bestimmungen der Alten Welt durch die Neue war Manifest Destiny-Apologeten durchaus klar und findet sich unter anderem deutlich bei Edward Everett: „There are no more continents to be reached; Atlantis hath risen from the ocean."(l5
In den zentralen Beweggründen für den Reisedrang von Columbus einerseits die Suche nach unermeßlichem Reichtum im Westen zur Finanzierung eines Kreuzzuges zur Rückeroberung des "Heiligen Landes", andererseits die Christianisierung aller „Heiden“ -, finden wir das Leitmotiv der europäischen Expansion, der Europäisierung der Welt bereits angelegt: denn geistige Ausdehnung ist untrennbar mit der materiellen Expansion verbunden. Die Ideologie des Manifest Destiny ist in ihren Wurzeln europäisch: Expansion verkleidet als christliche Mission multipliziert mit Fortschrittsglauben. Die Identität Amerikas als Frontier, als Neues Kanaan, als Neues Jerusalem ist eine europäische Schöpfung. Das neue Atlantis wurde zum neuen Reich, Augustinus Gottesstaat zur Stadt auf dem Hügel, und die Profanität der Alten Welt fand ihr Spiegelbild in der Heiligkeit der Neuen.
Die Errichtung dieser angeblich gottgefälligen Siedlungen bedurfte allerdings der Vertreibung und Ausrottung der amerikanischen Bevölkerung. Die Besiedlung des Neuen Jerusalem konnte also nur erfolgen, nachdem die "Indianer" von dem Land, das ihnen heilig war, vertrieben worden waren. Dieser offenbare Widerspruch zwischen christlicher Missions-Ideologie (bzw. Ideolo-gier) der Heilsbringung und Realität der Unterwerfung und Ausrottung des anderen verdeutlicht nicht nur die Verlogenheit der europäischen Expansion, sondern zeigt wohl auch, daß Amerika für viele Europäer und europäische Amerikaner eher eine territoriale Karte als eine geographische Realität darstellte. (16
Die Berichte der "Zivilisierten“ über die „Wilden“ sagen uns wenig über die Menschen, die ursprünglich in Amerika lebten, aber viel über ihre europäischen Beobachter. Die Amerikaberichte des 16. Jahrhunderts sind genau von jenen Fabelmonstern bevölkert wie der Westen der mittelalterlichen Legenden. Die Mär von diesen Fabelwesen konnte nicht allzu lange aufrechterhalten werden. An ihre Stelle traten bald die anfänglich noblen Wilden, die zu wilden Barbaren mutierten, zu faulen Kannibalen, denen das Land ganz rechtmäßig geraubt werden konnte Völkerrecht als Ideologie. (17 Die Ausmerzung des anderen, die Vertreibung, Zwangschristianisierung oder Ausrottung der Mauren und Juden im Spanien der Reconquista, dem Jahr der ersten Reise des Columbus 1492, bedeutete für die anderen, die in der Neuen Welt lebten, gewiß kein gutes Omen. (18
Die Entdeckung Amerikas hatte ungeahnte Konsequenzen für jeden Aspekt des europäischen Lebens. Zwar stand Amerika natürlich noch lange nicht im Vordergrund der europäischen Existenz, der Schatten der Neuen Welt war aber im Hintergrund immer deutlich sichtbar. Diese Entdeckung bedeutete den Triumph des Experiments und der direkten Beobachtung über die traditionelle Weltsicht, war Herausforderung und Anlaß für Umstürze in den Wissenschaften, den politischen Machtverteilungen, den wirtschaftlichen Verhältnissen, der Bevölkerungsverteilung, der Künste und Religionen. Copernicus und Galilei wären ohne die reale Schließung des geographischen Weltbildes wohl undenkbar, und schließlich sollte Darwin den Ursprung der Arten auch auf den Galäpagos-Inseln entdecken. Erst durch Amerika wurde Geomagie zur Geographie. (19
Die Entdeckung der Neuen Welt bedeutete eine dramatische Veränderung des Verhältnisses zwischen der Zahl der Menschen und dem kultivierbaren Land, verschob das europäische Machtzentrum vom Mittelmeer an die Atlantikküste und veranlaßte in dreihundert Jahren dutzende Millionen Europäer zur Emigration. Die dramatischsten Auswirkungen hatte diese Entdeckung allerdings nicht in Europa, sondern zweifellos in Amerika selbst - und in Afrika. Die brutale Konsequenz dieser Eroberungen war auch europäischen Kritikern, wie J.H. Bernardin de Saint Pierre, klar; der 1773 feststellte, daß einerseits die Länder Amerikas zwecks Anbau von Kaffee und Zucker entvölkert würden, um den nötigen Boden zu gewinnen, andererseits aber auch Afrika depopuliert würde, um die nötigen Menschen zur Verfügung zu haben, damit die Pflanzen auch kultiviert werden könnten.(20

Die ökonomischen Auswirkungen in Europa waren schon im 16. Jahrhundert, als die Stabilität der Finanzen immer mehr von der sicheren Ankunft der Schatzschiffe aus Ainerika in Sevilla abzuhängen schien, deutlich. Die Importe amerikanischen Silbers übertrafen schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Produktion der Tiroler Minen. Alleine zwischen 1500 und 1650 wurden 181 Tonnen Gold und 16.000 Tonnen Silber aus Amerika angelandet, wobei diese offiziellen Zahlen noch stark untertrieben sein dürften. (21
Ich will sicherlich nicht behaupten, daß die ökonomischen Effekte der Ausbeutung Amerikas die einzige Quelle für die sprunghaft ansteigende Kapitalakkumulation in Europa darstellten. Sicher ist allerdings, daß der transatlantische Handel nicht nur eine der wichtigsten Voraussetzungen für die europäische Preisrevolution, sondern auch für das rasche Anwachsen der Manufaktur- und Industrieproduktion war. Die Schatze aus Amerika schufen außerdem zusätzliches Bargeld, mit dem der Handel mit dem Osten intensiviert werden konnte. Die großen Gewinne aus diesen Geschäften förderten ihrerseits wieder die Kapitalakkumulation. Es steht außer Zweifel, daß die Machtstellung Spaniens und Englands zum großen Teil mit den Profiten aus den Kolonien finanziert wurde. Wir können uns auch fragen, ob die Kunst des Barock mit der verschwenderischen Verwendung von Gold und Silber ohne die Ausbeutung der amerikanischen Minen überhaupt möglich gewesen wäre.

Diese ökonomischen Veränderungen trugen außerdem zur Verschärfung der bestehenden Klassengegensätze in Europa bei. Allerdings wirkte Amerika als Fluchtort der europäischen Emigration auch wie ein Sicherheitsventil für aufkommende soziale Konflikte. Amerika offerierte vor allem Mobilität, nicht nur für Menschen und Reichtum, sondern auch für Ideen und manifestierte sich im individualistischen Weltbild der Renaissance.(22 Geographische und soziale Mobilität schienen miteinander zu verschmelzen, Amerika wurde zum Synonym des Freiheitsbegriffes, das europäische Weltbild entwickelte sich allmählich zu einem transatlantischen.
Der englische Nationalökonom Adam Smith stellte deshalb in seinem Hauptwerk "Der Wohlstand der Nationen" - das übrigens 1776, dem Jahr der Unabhängigkeitserklärung der USA publiziert wurde - fest, daß die Entdeckung Amerikas und die der Passage um das Kap der Guten Hoffnung Europa nicht nur steigenden Wohlstand und Wachstum gebracht hätten, sondem überhaupt zu den größten und bedeutendsten Ereignissen der menschlichen Geschichte zu zählen wären. (23 Auch Friedrich Engels und Karl Marx maßen diesen Entdeckungen höchste Bedeutung für die Stärkung des revolutionären Elements der Bourgeoisie gegenüber der zerfallenden feudalen Gesellschaft, für die Entwicklung des Kapitalismus zu. "Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete",(24 heißt es im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 - Amerika also als Antizipation und Motor des Kapitalismus. Engels und Marx erkannten die Bedeutung dieses neuen Terrains" für die aufstrebende Bourgeoisie und prophezeiten, daß die gesamte Welt mit Hilfe der „unendlich erleichterten Kommunikationen" in den Griff dieser kapitalistischen Bourgeoisie gelangen würde, die sich "eine Wel t nach ihrem eigenen Bilde“ schaffen werde.(25 Hollywood läßt grüßen.
Die ökonomischen, sozialen und moralischen Konsequenzen der amerikanischen Schätze für die europäischen Eliten waren schon Jahrhunderte früher kritisiert worden. Der hispanisierte Inka Garcilasco de la Vega hielt seinen Zeitgenossen einen Spiegel vor, in dem er nur Degenerationserscheinungen zu erkennen meinte. Er entwarf dabei um 1612 ein Klischee, das den USA vor allem im 20. Jahrhundert zum Vorwurf gemacht werden sollte - das der Verweiblichung durch die amerikanische Kultur! (26 Der Flame Joest Lips hatte diese Kritik gegenüber einem spanischen Freund schon 1603 auf die knappe Formel gebracht: „Die Neue Welt, die Ihr erobert habt, erobert nun euch selbst“.(27 Diese Feststellung sollte sich bezüglich des Niederganges der spanischen Vormachtstellung bald bewahrheiten. Europa als Weltmachtzentrum hatte noch eine Gnadenfrist bis zum Ersten Weltkrieg. Erst dann wurde das Zentrum zur Peripherie, wobei wir allerdings bedenken sollten, daß beide Begriffe in ihrem erkenntnistheoretischen Aussagewert ähnlich relativ sind wie die Begriffe Zivilisation und Barbarei.(28

Die Entdeckung Amerikas revolutionierte aber nicht nur die europäischen Volkswirtschaften. Sie führte auch - lange vor Coca-Cola und Fast-Food-Kultur - zu einer Umwälzung der Ernährung. Der unersättliche europäische Hunger nach asiatischen Gewürzen, nach Zimt, Pfeffer, Muskatnuß, Safran und Gewürznelken war ja auch eines der entscheidenden Motive für die zufällige Entdeckung Amerikas gewesen. Und Amerika bereicherte die europäischen Eßtische mit überraschenden Zutaten: mit Erdäpfeln und Paradeisein, Kukuruz und Kakao, Schokolade und Vanille, Sonnenblumen und Avocados. Auch die amerikanischen Truthähne kamen bald auf die Tische der Wohlhabenden, während die armen Meerschweinchen zu den sprichwörtlichen Versuchstieren verkommen sollten. Wenn wir uns vorzustellen versuchen, wie die große Mehrheit der Europäer in den letzten dreihundert Jahren ohne Erdäpfel und Mais gelebt hätte, dann ist es wohl keine Übertreibung, diese Importe zu den entscheidenden Ereignissen der Neuzeit zu zählen. Was wäre auch Wien ohne Cafe’s, Italien ohne Tomaten und die Sowjetunion ohne aus Erdäpfeln gebrannten Wodka?
Tabak und in (vorläufig) geringerem Maße Kokain veränderten die europäischen Umgangsformen und den Gesundheitszustand der Raucher. Als schlimmste Geißel erwies sich die wohl aus Amerika importierte Syphilis, die das sexuelle Verhalten und die Gesundheit vieler Generationen nachhaltig beeinflußte. Dagegen war auch unter den zahlreichen importierten Heilpflanzen kein Kraut gewachsen. Aber so schlimm die Syphilis in Europa auch immer wüten mochte, so war sie insgesamt doch viel weniger verheerend als die von Europäern nach Amerika gebrachten Pocken, Masern, Grippe, Mumps und Diphterie, die ganze Völker hinwegrafften.(29

Anmerkungen:

14) Baritz, Loren: The Idea of the West. In: American Historical Review, vol. 66, April 1961, No. 3, S. 618-640. Ruland, Richard: America in Modern European Literature: From Image to Metaphor.- New York 1976.
15) Zitiert nach Baritz, Idea of the West, S. 638.
16) Watts, Pauline Moffitt: Prophecy and Diswvery: On the Spiritual Origins of Chnstopher Columbus' "Enterprise of the Indies". In: American Historical Review, vol. 90, February 1985, No. 1, S. 73-102.
17) Bitterli, Urs: Die "Wilden" und die "Zivilisierlen": Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung.- München 1976; Gewecke, Frauke: Wie die neue Welt in die alte kam.- Stuttgart 1986.
18) Todorov, Tzvetan: Die Eroberung Ameiikas: Das Problem des Anderen.- Frankfurt/Main 1985; Kohl, Karl-Heinz: Entzauberter Blick: Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation.- Frankfurt/Main 1986.
19) Arciniegas, Germän: America in Europe.- San Diego, New York, London 1986, S. 60- 89.
20) Zitiert nach Mintz, Sydney W.: Sweetness and Power. The Place of Sugar in Modern History.- New York 1985.
21) Elliott, J.H.:Me Old World and the New, 1492-1650.- Cambridge 1970.
22) Hamilton, Earl J.: American Treasure and the Rise of Capitalism. In: Economica, vol. IX, 1929, S. 338-357; Chaunu, Huguette und Pierre Chaunu: S&ille et l'Atlantique. 8 Bde.- Paris 1955-1959; Braudel, Fernand: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts: Der Handel.- München 1986.
23) Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen.- München 1974, S. 490-500.
24) Marx, Karl und Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. Februar/März 1948 London. In: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.): Karl Marx, Friedrich Engels. Bd. 4.- Berlin 1964, S. 459-493, hier S. 463.
25) Ebd., S. 466.
26) Garcilasco de la Vega, el Inea: Royal Commentaries of the Incas. 2 Bde.- Austin 1966, S. 638-648.
27) Zitiert nach Elliott, Old World and the New, S. 61.
28) Todorov, Eroberung Amerikas, S. 229.
29) Crosby, Alfred W.: Ile Columbian Exchange: Biological and Cultural Consequences of 1492.- Westport, Conn. 1972; Salaman, R.N.: Tbe History and Social Influence of the Potato.- Cambridge 1949; Ruffi6, Jacques und Jean-Charies Soumia: Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit.- Stuttgart 1987.


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