<li><a href="../index.html">e.journal</a> : [ <a href="../toc-nf.html">Inhalt</a> ]<br> <li><b>b&uuml;.cher</b> : [ <a href="toc.html">Inhalt</a> | <b>Coca Colonisation und Kalter Krieg</b> ]<br> <hr>

Das Problem Amerika als Artefakt der europäischen Expansion


© by Reinhold Wagnleitner


III. Amerika als Metapher und Provokation in der europäischen Philosophie und Literatur


Die Herausforderungen der Neuen Welt wurden von europäischen Intellektuellen, zunächst vor allem in Spanien, Portugal, England und Frankreich, rasch aufgenommen. Wenn wir es bei den zahlreichen Werken auch meist mit einem Ainerika zu- tun haben, das europäischem Wunschdenken entsprang, so brachte es doch auch gerade die "Unfertigkeit“ der Neuen Welt zustande, die Fragwürdigkeit der Alten Welt aufzudecken.(30
Thomas Morus Utopia von 1516 und Sir Francis Bacons The New Atlantis von 1626 initiierten die Diskussion der idealen Republik, des idealen Commonwealth als der besten aller möglichen Welten vor dem Hintergrund Amerikas, und dies sollte alle folgenden Verfassungsdiskussionen beeinflussen. Utopia und das neue Atlantis reflektierten die Realität Amerika, und eines ist dabei entscheidend: Utopia bezeichnete vor 1492 eine irreale, nach 1492 eine reale Fantasie. Utopia bedeutet allerdings nicht nur den guten Platz, den idealen Zustand, sondern in der ironischen Inversion eben auch keinen Ort, Niemandsland, Wolkenkuckucksheim.
Das in Europa imaginierte Konstrukt Amerika bedeutete eben auch allzu oft etwas, das Amerika nie war oder sein konnte - wie Asien, den idealen Zustand, das Paradies auf Erden. Wenn die Realität Amerika die europäischen Träume nicht erfüllen konnte, dann war die Enttäuschung nur umso schlimmer. Denn statt die europäischen Wunschvorstellungen zu korrigieren, anstatt sich einzugestehen, daß der europäische Traum vom amerikanischen Traum immer ein irrealer gewesen war, glaubten die enttäuschten Idealisten Amerika des Schwindels überführen zu können.(31

Amerika zwischen Utopie und Dystopie, diese dialektische Spannung zieht sich durch die gesamte Literatur, fand aber auch in der materiellen Kultur ihre Entsprechung. Während etwa die Kartoffel noch im Elisabethanischen Zeitalter als begehrenswertes Aphrodisiakum gegolten hatte, wurde aus ihr im frühen 18. Jahrhundert die angeblich hochgiftige Teufelswurzel. Das Bild von der jungen, unschuldigen und sagenhaft reichen Neuen Welt bei Shakespeare, Marlowe und Spenser fand bald seine Ergänzung in den Vorwürfen der Barbarei, der Degeneration, der Unreife, der Unzivilisiertheit, des seelenlosen Materialismus und der kulturellen Minderwertigkeit. Die Schriften von Bartholomäus de Las Casas, Francisco de Vitoria und Montaigne mit ihrer Nostalgie für das Goldene Zeitalter und das verlorene Paradies, den eskapistischen Träumen von Exotik und Idealzustand und ihrem Eintreten für die Rechte der "Indianer“ - einem frühen Beitrag zur Thematik der "Menschenrechte“ - fanden ihre negative Ensprechung in den Attacken von Georges Leclerc Comte de Buffon, Comeille de Pauw und Guillaume Thomas FranWis de Raynal, die den modernen Diskurs mit den Phrasen von der Degeneration allen Lebens in Amerika, ja der absoluten Minderwertigkeit von Menschen, Tieren, Pflanzen, also der gesamten Natur, bis ins 20. Jahrhundert entscheidend beeinflussen soll.(32

Die Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776 und die folgenden Revolutionen in Lateinamerika - einerseits Resultat der europäischen Aufklärung, anderseits Zeichen einer langsam sichtbar werdenden Schwächung der europäischen Metropole - waren von größter Bedeutung für die Entwicklungen in Europa, genau wie die Rebellionen der „Indianer" in Lateinamerika um 1780 und die Auflösung des Jesuitenordens in Paraguay 1758 - fünfzehn Jahre vor seiner Aufhebung in vielen europäischen Staaten!(33 Schon lange vor Alexis de Tocquevilles Vision der zukünftigen Bedeutung der demokratischen Entwicklung der USA für den Rest der Welt in seinem Buch Über die Demokratie in Amrika“ (1835,1840), spätestens aber seit dem Siebenjährigen Krieg (dem French and Indian War), erkannten aufmerksame Beobachter, daß welthistorische Veränderungen anstanden, die Europa langsam aus dem Zentrum der Macht verdrängen würden, so daß es zwischen Amerika und Rußland zur Zweitklassigkeit degradiert werden würde. Der frühere Gouverneur von Massachusetts Thomas Pownall meinte etwa 1780, daß Amerika zum neuen Hauptplaneten geworden sei, welcher nicht nur die Bahn jedes anderen Planeten beinflussen werde, sondern auch 'das Gravitationszentrum des ganzen Systems der europäischen Welt verschieben' werde.(34 Auch Joseph Mandrillon argumentierte ähnlich:
It is the New World, formerly our slave, peopled for the most part by our own emigrants, that will come in turn to enslave us. Its industry, its force, and its power will increase as ours diminish. The old world will be subjugated by the New; and this corrquering nation, after having undergone the laws of revolution, will itself perish at the hands of a people it will have been unfortunate enough to discover.(35

Nach 1776 wurden die Konturen der Amerika-Bilder schärfer, sie behielten aber weiter den Charakter von magischen Spiegelungen zwichen totaler Hoffnung und vollkommener Ablehnung. Während Liberale und Republikaner all ihre Wünsche auf das Land der Freiheit, Tugend und Prosperität richteten, wurden die USA für die Verteter des Ancien Régime zu einem schrecklichen Beispiel für den Aufruhr des Pöbels und barbarische Demokratieexzesse, dessen Beispielsfolgen für die europäische Ordnung unter allen Umständen verhindert werden mussten.(36
Amerika, den einen glückhafte Zukunftsvision, den anderen grauenhafter Zukunftsalptraum.
Für den anschwellenden Strom europäischer Emigranten, der sich wegen wirtschaftlicher oder politischer Unterdrückung in Richtung Amerika bewegte, bestand wohl kaum ein Zweifel, daß die Richtung Ost-West auch die Richtung des Paradieses markierte. Aber nicht nur die Emigration wurde von den raschen Verbesserungen der Transportmittel begünstigt. Auch die Informationen über Amerika konnten ihr Ziel schneller und sicherer erreichen. Ob es sich dabei um Berichte von Amerika-Reisenden, um die Amerika-Briefe von Auswanderern - die, oft von Kirchenkanzeln verlesen, ein meist großartig überzeichnetes Bild von den Reichtümern jenseits des Atlantiks ausmalten -, ob es sich um die zahlreichen literarischen Produkte oder um Berichte in Zeitungen und Zeitschriften handelte: Amerika wurde von einem Diskussionsgegenstand der Eliten zum Hoffnungsträger der unteren Klassen. Für dieses Phänomen zeichnete nicift nur die europäische Massenarmut verantwortlich, auch die zunehmende Alphabetisierung trug zur Verbreitung von Amerika-Nachrichten bei. Gerade in jenen europäischen Gebieten mit den größten nationalen Spannungen wie in Irland, Norwegen, Rußland, der italienischen Halbinsel, den Staaten des Deutschen Bundes, am Balkan und in den nichtdeutschen Gebieten der HabsburgerMonarchie wurden die USA zur Verheißung der Freiheit, die im eigenen Land unerreichbar schien. Das Schiff, mit dem Lord Byron nach Griechenland segelte, hieß nicht grundlos „Bollivar“, und der Einfluß der amerikanischen Entwicklungen auf Kasimir Pulaski, „Thaddeus Kosciusko, Guiseppe Mazzini und Guiseppe Garibaldi, um nur einige "Nationalhelden" zu erwähnen, kann überhaupt nicht überschätzt werden.(37

Auch die Oper wurde vom Amerika-Fieber angesteckt. Zwischen 1733 und 1831 kamen mehr als ein Dutzend Werke zur Aufführung, die amerikanische Themen und Helden zum Inhalt hatten. Die erste Oper mit einem Amerika-Sujet, Montezuma, brachte Antonio Vivaldi 1733 in Venedig zur Aufführung. Eine weitere Montezuma-Oper wurde auch 1755 in Berlin aufgeführt. Die Musik stammte von Karl Heinrich Graun, das Libretto von Friedrich II. von Preussen.(38 Wie sehr das Interesse an Amerika gewachsen war, zeigt auch die zunehmende Flut der deutschsprachigen Amerika-Literatur. Alleine zwischen 1770 und 1800 erschienen ca. tausend Titel.(39 Wohl den größten Einfluß gewannen William Bartons Travels (1791) und St. John de Crèvecoeurs Letters from an American Farmer (1782). Besonders in Crèvecoeurs Buch, das bald in zahlreichen Übersetzungen vorlag und vor allem im deutschen Sprachraum sehr intensiv rezipiert wurde, sind bereits die wesentlichen Grundmuster des modernen Mythos vom amerikanischen Traum vorgeprägt, die bald eine enorme ideologische Schubkraft entwickeln sollten.(40
Dazu zählten die USA als Synthese von Tugend und aufgeklärter Regierungsform, das Land der Freiheit und der individuellen Selbstverwirklichung durch eigene Arbeit, der Mythos der Grenze als Wildnis und des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten, der neue Mensch in einer Gesellschaft ohne Klassenunterschiede, der Schmeltztiegel und der unaufhaltsame Aufstieg zur zukünftigen Weltmacht.
Die Bedeutung von Crèvecoeur als einem literarischen Gründervater der USA (David Eisermann) und seine Rolle bei der Verbreitung dieser Grundtypen des Amerika-Mythos sind unbestritten. Noch wichtiger mag allerdings die europäische Cooper-Manie der 1820er Jahre gewesen sein, die alle bisherigen literarischen Amerika-Moden weit in den Schatten stellte. Die europäische Begeisterung für die Werke Coopers - 1823 erschienen eine englische und eine französische Ausgabe, 1824 zwei deutsche, 1827 eine schwedische und eine spanische, 1828 eine dänische, machten den Western zum logischen Nachfolger der alten symbolischen Dramen Europas, und - „in the beginning was James Fenimore Cooper“.(41 Alleine zwischen 1843 und 1875 erschienen über 80 europäische Westernromane,(42 deren überwältigende Publikumserfolge sicher nicht nur mit den verbilligten Buchausgaben erklärt werden können. Die Begeisterung für Coopers Lederstrumpf, Karl Mays Old Shatterhand und Winnetou und Buffalo Bills „Wild West Show“, die bald aus etwa vierzig ausgelasteten Truppen bestand und zwischen 1887 und 1892 fast ganz Europa bespielte - Guillaume Le Buffle hieß er liebevoll in Paris übertrug sich im 20. Jahrhundert auf die Hollywood- und Spaghetti-Western. Immerhin wurden noch 1960 alleine in der BRD 91 Millionen Westernromane verkauft.(43

Amerika-Begeisterung und allfällige Amerika-Kritik des Sturm und Drangs und der Romantik wiesen übrigens ähnlich irreale Züge auf, wie die Literatur der früheren Epochen, obwohl (oder weil?) die Autoren bereits über bessere Informationen als ihre Vorgänger verfügten. Von den Autoren der Aufklärung bis zu den Schriftstellern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von Voltaire bis zu Jules Verne, von Jean Jacques Rousseau bis zu Henryk Sienkiewicz reicht der Bogen europäischer Literaten, für die Amerika entweder ein enthistorisiertes Territorium oder einen Fluchtpunkt bedeutete. Amerika lag irgendwo zwischen Ernst Willkomms Europamüdigkeit und Ferdinand Kürnbergers Amerikamüdigkeit. Für die meisten europäischen Schriftsteller verharrte der amerikanische Kontinent auch noch im 19. Jahrhundert in unberührter natürlicher Wildnis. Ihre Amerika-Bilder waren vorwiegend ahistorisch. Die Geschichte der USA wurde weitgehend ignoriert, die mentalen Schleusen gegenüber der amerikanischen Realität blieben meist weiter geschlossen, eine illusionistische Fähigkeit, die sich bis heute weiter verfolgen läßt.(44 Denn die früheren Amerika-Bilder und Stereotype erwiesen trotz engerer Kontakte erstaunliche Zählebigkeit, und „the vivid experience of exploration, colonization, and immigration seems to have altered Europe's initial expectations hardly at all“.(45
Dies traf übrigens auch auf jene Autoren zu, die die USA selbst kennengelernt hatten. Charles Dickens erschienen die USA in seinen American Notes (1842) und in Martin Chuzzlewit (1844) als eine monströse Vorspiegelung des erhofften Gartens Eden, als barbarische Wildnis, die sich in der Verkleidung des Paradieses gefiel. Vor allem beklagte Dickens - nun, da die ökonomische Bedeutung der Vereinigten Staaten langsam auch in Europa direkt spürbar wurde, ein immer häufiger auftretender Vorwurf -, daß der US-amerikanische Materialismus, die Businesskultur und ökonomische Smartness nichts anderes seien als Synonyme für Betrug. Die USA verstanden nach Dickens Freiheit weniger als Freiheit von Tyrannei, denn als Freibrief zum Tyrannisieren.(46
Besonders bedauerlich schien nicht nur, daß diese Emporkömmlinge jenseits des Atlantiks Emanzipationsversuche von der europäischen Kultur unternahmen und eigenständige Entwicklungen vorantrieben; die europäischen Beobachter bemängelten vor allem die ständige Fortschrittsprahlerei und die Unfähigkeit, Kritik zu ertragen. So hieß es in den Schlußbemerkungen von Frances Trollopes immensem Bucherfolg Domestic Manners of the Americans (1839):
A single word indicative of doubt, that anything, or everything, in that country is not the very best in the world, produces an effect which must be seen and felt to be understood. If the citizens of the United States were indeed the devoted patriots they call themselves, they would surely not thus incrust themselves in the hard, dry, stubbom persuasion, that they are the first and best of the human race, that nothing is to be leamt but what they are able to teach, and that nothing is worth having which they do not possess.
(47

Für den einflußreichen Kulturkritiker Matthew Arnold setzte sich die Demokratie der Vereinigten Staaten vor allem aus Respektlosigkeit, dem Fehlen von Seele und Feinfühligkeit, der alles beherrschenden Sucht nach Bequemlichkeit, Materialismus und Angeberei, falscher Bescheidenheit und falscher Kühnheit zusammen.(48 Rudyard Kipling meinte dazu nur knapp, daß in den USA zu wenig Romeo, aber zu viel Balkon vorkäme. Der Schweizer Gelehrte Jakob Burckhardt konnte den Vereinigten Staaten Oberhaupt kaum Bedeutung abgewinnen und warnte eindringlich vor der europäischen Tendenz, alles Amerikanische zu kopieren, da das Leben jenseits des Atlantiks vollkommen vom Business bestimmt sei.(49
Auch Karl Marx sah in den USA nicht das gelobte Land, aber immerhin den politisch fortgeschrittensten Staat, der eine ebenso fortgeschrittene Entfremdung des bürgerlichen Lebens aufwies. An der eminenten Bedeutung der US-amerikanischen Entwicklungen für die gesamte Welt ließ Marx im Vorwort des Kapitals keinen Zweifel:
Man muß sich nicht darüber täuschen. Wie der amerikanische Unabhängigkeitskrieg des 18. Jahrhunderts die Sturmglocke für die europäische Mittelklasse läutete, so der amerikanische Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts für die europäische Arbeiterklasse.(50 Daß dies nicht auf die Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten zutreffen sollte, meinte Werner Sombart damit erklären zu können, daß in den USA „alle sozialistischen Utopien an Roastbeef und Apple Pie zuschanden" gekommen wären.(51
Und - wie wir wissen - nicht nur in den USA.
Seit dem späten 19. Jahrhundert lassen sich die Amerika-Images der europäischen Literatur vorwiegend jenem Begriff „Entfremdung“ subsumieren, den Marx als Begleiterscheinung der menschlichen Existenz im kapitalistischen System analysierte. Viele europäische Beobachter erkannten zwar, daß diese Entfremdung, wenngleich auch meist in langsamerem Tempo, auch auf ihre eigene Existenz zutraf, daß die USA mit ihrer Technikzivilisation also nur die Zukunft Europas antizipierte und deshalb zu einer - je nach Standpunkt positiv oder negativ besetzten allgemeinen Metapher für Modernität wurden. Dennoch wurde gerade den Vereinigten Staaten vorgeworfen, daß vor allem ihre Bewohner besonders anfällig seien für Äusserlichkeit, Geschmacklosigkeit, pluralistischen Konformismus, naiven Optimismus, Infantilität und Liebe zur Quantität bei gleichzeitigem Unverständnis für Qualität. Die Anschuldigung, alleine die Kultur der USA basiere auf der Verleugnung jeder Art von Beschränkungen für die menschliche Existenz, erscheint besonders absurd, wenn sie von Bewohnern jenes Kontinents gemacht wird, dessen Eliten es verstanden hatten, große Teile der Welt zu europäisieren. Die rasanten Fortschritte des Kapitalismus in den USA, jenes Sozialismus für die Reichen, entwickelten natürlich durchaus Eigendynamik und 'amerikanische' Charakteristika. Das moderne Amerika und die Maschinenzivilisation waren aber nicht einfach in den USA vom Himmel gefallen. Der inbrünstige Glaube an die Wohltaten der Technik war europäischen Ursprungs und war (und ist) keineswegs ein ausschließlich US-amerikanisches Phänomen.
Die USA eigneten sich für europäische Autoren der Moderne vortrefflich als Brennpunkt der Kritik der modernen Existenz. Gerhard Hauptmanns Anti-Emigrationsroman Atlantis (1912) attackierte die Vulgarität und Leere der US-Gesellschaft. Für Rainer Maria Rilke symbolisierte Amerika den Hauptfeind des Menschen in der Form der Mechanisierung. In Franz Kafkas Amerika (1913,1927) dominieren Kälte, Unpersönlichkeit, Einsamkeit und Inhumanität des modernen Business. Bei Benjamin Franklin Wedekind werden die USA von kapitalistischen Raubtieren beherrscht. In Vladimir Majakovskys 150,000.000 (1919-1920) erscheinen die USA als futuristische Projektion von Alpträumen über eine stromlinienförmige Zukunft. Bei Lion Feuchtwanger wird der Homo Americanisatus mit Pep (1927) beschworen. Für Salvador de Madariaga stand 1928 fest, daß Amerikaner nichts als kleine Buben wären. In Georges Duhamels Scènes de la vie future (1930) wurden die USA zum Synonym für den drohenden Zerfall der alten Kultur. Bert Brecht verwendete die Vereinigten Staaten im Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1927) und Chicago in Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1932) und im Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui (1941) als Handlungsort und Metapher für Gewalttätigkeit und Gier der Kapitalisten und Faschisten. Schließlich kommt Evelyn Waughs The Loved One zum Ausgangspunkt der europäischen Vorstellungen vom Westen als Königreich der Toten zurück. Die Elysischen Gefilde haben in der südkalifornischen Friedhofskultur ihre reale Entsprechung gefunden, und Harrison Salisbury notierte nach einem Besuch von Los Angeles: Ich habe die Zukunft gesehen - und sie funktioniert nicht. (52

Viele Zustände und Entwicklungen in den Vereinigten Staaten mußten zweifellos Befremden hervorrufen, provozierten geradezu Kritik. Die europäischen Vorwürfe gegen die USA unterschieden sich aber meist deutlich von der Kritik gegenüber ähnlichen Entwicklungen in Europa. Sie hatten meist den Charakter einer doppelten Entfremdung, formuliert von enttäuschten Liebhabern, die selbst schon lange ihre eigene Unschuld verloren hatten und einfach nicht einsehen mochten, daß die Jungfräulichkeit ihrer transatlantischen Geliebten nie mehr war als ein europäisches Hirngespinst. Von dem Moment an, als die Europäer zu träumen begannen, daß es Amerika besser habe, waren die vielen Mißverständnisse und Enttäuschungen bereits fest programmiert.

Anmerkungen:

30) Cliement, Alain: Amerika als Herausforderung des Westens. In: Sprache im technischen Zeitalter, vol. 56,1975, S. 325-330, hier S. 327. 32) Arciniegas, America in Europe, S. 148-155.
33) Ebd., S. 240-245.
34) Zitiert nach Barraclough, Geoffrey: Europa, Amerika und Rußland in Vorstellung und Denken des 19. Jahrhunderts. In: Historische Zeitschiift, vol. 203, 1966, S. 280315, hier S. 285.
35) Mandrillon, Joseph: Philosophical Investigations on the Discoveries of America. In: Commager und Giordanetti (Hg.), Was America a Mistake?, S. 176.
36) Strauss, David: Menace in the West: The Rise of French Anti-Americanism in Modern Times.- Westport, Conn. 1978; Blumenthal, Henry- American and French Culture, 1800-1900: Interchanges in Art, Science, Literature, and Society.- Baton Rouge 1977; Dippel, Horst: Germany and the American Revolution.- Wiesbaden 1978; Allen, H.C.: Great Britain and the United States.- New York 1955.
37) Kahle, Günter: Sim6n Bolfvar und die Deutschen.- Berlin 1980.
38) Nach einer von Otto de Greiff zusammengestellten Liste wurden in Europa zwischen 1733 und 1950 33 Opern mit Amerika-Themen aufgeführi. Siehe Arciniegas, America in Europe, S. 290.
39) Dippel, Horst: Americana Germanica 1770-18N- Bibliographie deutscher Amerikaliteratur.- Stuttgart 1976.
40) Eisermann, David: CrA-vecoeur oder Die Erfindung Amerikas. Ein literarischer Gründervater der Vereinigten Staaten.- Rheinbach-Merzbach 1985; Cr&iecoeur, MichelGuillaume Jean de: Letters from an American Farmer.- London 1782.
41) Billington, Ray Allen: Land of Savagery, Land of Promise: Ihe European Image of the American Frontier. - New York, London 1981, S. 30.
42) Ruland, America in Modern European Literature, S. 17.
43) Billington, Land of Savagery, S. 319.
44) Heilmann, Robert B.: America in English Fiction, 1760-1800.- Baton Rouge 1937; Meyer, Hildegard: Nord-Amerika im Urteil des deutschen Schrifttums bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts.- Hamburg 1929; Weber, Paul C.: America in Imaginative German Literature in the First Half of the Nineteenth Century.- New York 1926; Urzidil, Johannes: Das Glück der Gegenwart: Goethes Amerikabild.- Zürich 1958;
45) Ruland, America in Modern European Literature, S. 31.
46) Dickens, Charles: American Notes.- London 1842; Dickens, Charles: Martin Chuzzlewit.-
47) Trollope, Frances: Domestic Manners of the Americans.- London 1839, S. 362.
48) Arnold, Matthew. Civi@tion in the United States.- London 1M8.
49) Burckhardt, Jacob: Weitgeschichtliche Betrachtungen. Hrsg. von Werner Kaegi.Bern 1947. 50) Marx, Karl und Friedrich Engels: Vorwort zur ersten Auflage des "Kapitals". In: Karl Marx, Friedrich Engels. Werke. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Bd. 23.- Berlin 1962, S. 15; Weiner, Robert: Das Amerikabild von Karl Marx.- Bonn 1982.
51) Sombart, Werner: Warum gibt es keinen Sozialismus in den Vereinigten Staaten?Tübingen 1906, S. 126.
52) Evans, America, S. 21-79; Seliger, Helfried Wemer Das Amerikabild Bertolt Brechts.- Bonn 1974; Reilly, Alayne P.: America in Contemporary Soviet Literature.New York 1971; Heiney, Donald (Hg.): America in Modern Italian Literature.- New Brunswick, NJ. 1964.


·^·