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Charakter


In Wirklichkeit entwickeln sich Menschen zu ihrem Vorteil oder auch nicht, indem sie ganze Atmosphären, Ereignisse und Landschaften in sich aufnehmen, sagt Doris Lessing. Nun, nach der sogenannten Wiedervereinigung hatten die Westdeutschen und die Ostdeutschen die Möglichkeit eben Atmosphären, Ereignisse und Landschaften in sich aufzunehmen und sich dadurch zu entwickeln. Seltsam ist, daß die Mehrzahl sich verhielt als wäre sie tatsächlich von allem betroffen, obwohl sie in Wahrheit nichts anderes als ihr eigenes Schicksal berührte. Fortschritt, Einheit, Nationalität sind zwar Worte, die sie oft im Munde führten, obwohl es genau genommen nichts zu einigen, zu vereinigen, schon gar nicht wiederzuvereinigen gab, die Nationalität ein Tabuthema ist und die Frage: Wohin soll denn fortgeschritten werden, keine Antwort verlangt.
Im Grunde genommen geht es dem deutschen Träumer wie immer schon ums Überleben, ums Gutgehen, nicht mehr. Alles um sie, jedes Ereignis, welches sie erleben oder über die Medien erfahren, alles, was in ihrer Welt,in der fernen und nahen Umgebung geschieht, stufen sie ein, ohne es in Verbindung zu ihrer Person, zu sich selbst zu sehen. Sie meinen, es genüge zum Beispiel, von Demokratie und Frieden zu sprechen,um demokratisch und friedfertig zu sein. Sie nehmen die Worte Demokratie,Wirtschaft,Markt,Gemeinschaft und Europa auf, speichern sie im Gedächtnis, um sie bei passenden und unpassenden Gelegenheiten abzurufen und zu reproduzieren. Dieser Vorgang der unreflektierten Verwendung von Begriffen ist für sie so etwas wie Engagement, hinter dem ihrer Ansicht nach persönliche Verantwortung und Handeln, nicht zuletzt aber die Glorie ihrer selbstgerechten Existenz stehen. Keiner von ihnen hat sich jemals Gedanken gemacht, daß Reden und Handeln verschiedene Dimensionen sind und daß die Verwendung bestimmter Begriffe, die sie von den Medien übernommen haben, zumindest Zweifel darüber aufkommen lassen muß, ob das, was sie als Wirklichkeit betrachten mit den Begriffen zu tun hat. Letzten Endes wollen sie wie alle sein. Oder alle sollten wie sie sein. Das geben sie zumindest vor, ohne zu begreifen, daß sie entfremdet und Fremde sind unter denen, die sie für so etwas wie sich selbst halten, normale Menschen in einem normalen Staat in abgewogener, selbstgefälliger Sicherheit. Aus dieser mangelnden Einschätzung halten sie sich eben für tüchtig und fähig, für modern und gesellschaftsgewandt, für anständig, ohne zu erkennen, daß sie einer von ihnen selbst erfundenen und zum Dogma erklärten Rassenhygiene verfallen sind. So glauben auch sie an Revolutionen, obwohl in ihrer Welt nie welche stattgefunden haben, zumindest keine, bei denen sie beteiligt gewesen wären oder bei der sie eine, wenn auch nur untergeordnete Rolle hätten spielen können. Und doch entsinnen sie sich wohlwollend der Revolution,der Revolten und behaupten kühn, daß sie, gerade sie das Rückgrat gewesen wären, obwohl sie jenen, die ihre vermeintlichen Feinde gewesen waren und heute noch sein müßten, mit Freundlichkeit entgegenkommen, ja, man könnte fast glauben, sie seien es selbst.
Nichts unterscheidet sie von den öffentlich verachteten Feinden und Nachbarn in Europa, außer ihr Gefühl,besser,kritischer, tüchtiger und nützlicher zu sein, ein Gefühl, das eben eine Folge völkischer Selbstüberschätzung und von Sprechweisen, nicht aber des Verhaltens ist.
Arrangement ist ihr unterdrückter Wunsch,gemeinsame Veränderung ihr laut geäußertes Ziel. Ihre erklärte Position erzeugt in ihnen den angenehmen Zustand des Gönnertums, das sich aber sofort verliert, wenn es tatsächlich um etwas geht. Sie sind von einer Vorstellung der Gleichheit überzeugt, ein Dogma, das sie im Alltag stets umgehen und in Abrede stellen, vor allem wenn sie untereinander sind und von anderen reden. Sie genießen die Leiden anderer, geben sie nicht selten für die eigenen aus und sprechen von fernen Katastrophen wie von eigenen. Sie sind unfähig, anderen die Tore der Freiheit zu öffnen, und leiden unter dieser Forderung - wenn sie gestellt wird - wie unter einem Makel. Sie sprechen dann davon, daß Europa in Neid und Mißgunst zu einem chaotischen Artefakt zusammenschrumpfen wird und begreifen nicht, daß gerade ihre Haltung und ihr unerbittliches Verlangen nach Sicherheit - das Beharren auf den Pfründen - die Ursache der Ungleichheit sind.
Wir ist ein beliebtes Wort und gibt vor, die Bedeutung eines kollektiven Bewußtseins zu haben. Im Inneren träumen sie ausschließlich von Karriere und Macht wie ihre Vorfahren,eben von dem, was sie nach außen zu verachten vorgeben. Ihrer Natur entsprechend verbindlich, tolerant, aber heimlich verachtend und von einer Apathie nach Veränderung bestimmt, sind sie im Wesen nur dem Gedanken ergeben, den Zustand, der ihnen Befriedigung verschafft, zu erhalten.
Trotz des Traumas,das sie durch die politische Wirklichkeit erleben und zu erleiden vorgeben, verachten sie andere im allgemeinen. Jeder der gegen sie auftritt, ist für sie ein Verräter an der Sache ihres Lebens, ihres Volkes,ihrer Gemeinschaft. Wie ihre Vorfahren sind sie Figuren, die es nicht geben soll, aber gibt, die sie selbst öffentlich verachten, ein Menschenschlag hoffnungslos ausgeliefert einem Repertoire an Klischees und Lügen.
Mehr oder weniger sind sie ihre eigenen Produkte, Erfindungen eines seltsam verwirrten, deutschen Geistes, der Glück mit Tüchtigkeit,Selbstgerechtigkeit mit Charakter und Rasse für Gemeinschaft hält. Und das, bis der Kontinent ihnen, und nur ihnen gehört.

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