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Kinder


Als ich ein kleiner Bub war, knapp nach dem Krieg, also vor fünfzig Jahren, war meine Neugierde durch strenge Regeln bestimmt. Wollte ich beispielsweise den kleinen Mann sehen, der im alten Radioapparat sitzt und spricht und ich zerlegte das Gerät, wurde mir nicht erklärt, warum es ihn nicht gibt, sondern ich wurde bestraft. Ähnlich war es beim Stoffelefanten, dem ich die Ohren abschneiden wollte, dem Medizinbuch, in dem ich zum ersten Mal eine nackte Frau zu sehen bekam. Immer wenn ich neugierig war, um ein Detail der Welt zu erfahren oder zu verstehen, wurde meine Neugierde ignoriert und mein Verhalten reguliert. Wollte ich zeichnen, war man schnell dabei, mir zu erklären, daß dem Haus die Fenster fehlten, das Tier nicht solange Beine habe, der Baum andere Äste, der Mensch nicht aus Strichen und Punkten bestehe, sondern ich mit dem Kritzikratzi endlich aufhören sollte.
Kunst, oder das was man darunter versteht, ist, weiß ich heute, nicht das Abbilden der Wirklichkeit, sondern vorerst ein Umgehen und Gebrauchen von Farben, Stiften, Papierblättern. Wie etwas funktioniert, wie etwas ausschaut, ist die große Reise in die Welt der Phantasie, ein freier Lauf und das Lernen mit dem Material, das zur Verfügung steht, umzugehen. Dass diese Freiheit Kunst erzeugt, ist dabei nicht die Hauptsache, obwohl es doch auch zur Freiheit gehört, sich eine kurze Zeit, und länger ist die Kindheit nicht, ein Künstler zu sein.
Vielleicht ist es wie mit dem Radfahren. Ein Rad zu besitzen ist zu wenig, man muß schon fahren, hinfallen, sich das Knie aufschürfen und lernen Gleichgewicht zu halten.
Stifte, Farben, ein Blatt Papier, eine Leinwand oder ein Stück Pappe sind Dinge, aus denen man etwas herstellen kann. Auch Kunst oder ein Himmel und Höllespiel, einen Flieger, eine kleine Schwalbe oder ein Bild.
Mit den kleinen Werken und Kunstwerken zeigen die Kinder, was ihre Phantasie zuwege bringt, jene Phantasie, die ihnen mit dem Erwachsenwerden zunehmend genommen wird.
Ob sie nun tatsächlich Künstler werden, ist nicht so wichtig und hängt von vielem ab.
Paul Valery sagt in einem Aufsatz über Kunst:
Die Kunst zu...Damit ist gesagt, daß etwas, das gewöhnlich ausgeführt wird, ohne daß dabei auf die Art und das Endprodukt geachtet wird. Die Kunst zu: reden, zu malen, zu essen, zu singen, zu zeichnen, zu lieben, zu gehen. Der Ausdruck ist nicht nur auf die eigentlichen Künste anzuwenden, sondern auf die Betätigung, auf alles. Und es ist eine Epoche denkbar, in der die Künste abgeschafft wären und ersetzt durch die Kunst gewöhnlicher Tätigkeiten. Und insgesamt durch die Kunst zu leben. Dies wäre dann tatsächlich die Zivilisation und es ist nicht auszuschließen, daß die Kunstfeindlichkeit unserer Welt das will.
Wollen wir das ?

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