<li><a href="../index.html">e.journal</a> : [ <a href="../toc-nf.html">Inhalt</a> ]<br> <li>b&uuml;.cher : [ <a href="toc.html">Inhalt</a> ]<br> <li><b>Der Egoist</b> : [ <a href="eistoc.html">Inhalt</a> | <b>6</b> ]<br> <hr>

IV. Zurück in die Wirklichkeit

Welche Art von Wirklichkeit stellt es dar ?
Der mögliche oder tatsächlich Schuldige, gejagt vom Schriftsteller und den von ihm erfundenen Figuren, dem Kommissar, der Polizei, besitzt nicht selten einen Doppelgänger im Leser, in mir. Und so wie der Verbrecher trotz seines Fluchtspiels verhaftet oder durch den Tod bestraft wird, eben sein typisches Schicksal erfährt, entsteht in mir auf einer anderen Ebene ein privates, psychisches Ränkespiel, welches das Bewusstsein und auch das Unterbewusstsein oder das Neben - Hinterher - oder epidemische Bewusstsein mit mir treibt. Es ist voll von meinen geheimen Wünschen und Zuständen, wozu andere Komplexe, Traumata sagen würden. Abweichendes, dem Triebleben Unterworfenes, Kriminelles.
So erfinde ich mit Absicht oder ohne mein Wollen einen Schatten meiner selbst, einen Geist, der mit einer deformation professionelle eines Bösen kokettiert, sich über Moral und Verstand lustig macht und mir eine andere, fremde Wirklichkeit anbietet.
Der Mythos der erfolgreichen Abweichung, das Märchen von der Gerechtigkeit, ihr Spiel mit Strafe und der Verachtung des Rechts, alles wird hier wie in einem Kartenspiel gereizt.
Wo aber ist die Wirklichkeit tatsächlich in dieser Buchstabenwelt, die mit Hilfe meiner Phantasie und beflügelter Seele irgendetwas von Verbrechen und Heldentum vorführt?
Weit weg. Weit weg.

Im Gesprochenen und auch im Geschriebenen bestimmt ein geheimer Imperativ die Wahrnehmung im anderen. Eine selektive Wahrnehmung, sicher. Und aus dieser Auswahl von Dingen stellen wir die, ja, die Wirklichkeit her. Das ist so bei dem, der etwas erzählt, bei dem, der etwas aufgeschrieben hat, bei dem, der etwas darstellt. Und je mehr Identifikation mit dem Gesagten, Geschriebenen, Wiedergegebenen vorhanden ist, desto wirklicher ist es, desto mehr glauben wir daran oder zumindest an seine Bedeutung. Nur das Bedeutende ist die Wirklichkeit. Und dabei spielen die Worte, die Sprache, das Ausgedrückte einer hervorragende Rolle. Je voudrais bien savoir, comment nous pourrions avoir l`idée de l`être, si nous n`étions des êtres nous-mêmes et nous trouvions ainsi l`étre en nous1).In der Existenz der Worte ist - ob`s stimmt oder nicht - die Existenz der Sache.Wenn wir schon nicht wissen, was in der Welt unsere Sinne für eine Wirklichkeit verursachen, so können wir diese Unsicherheit zumindest mit Worten und Hervorhebungen oder einem Daraufhinweisen verwirk- lichen. So lassen doch die drei Worte: "Sie sind sympathisch" oder "ich liebe Dich" tatsächlich Sympathie und Liebe entstehen oder entstehen ist vielleicht zu schwach gesagt; sie erwecken Sympathie und Liebe, Worte die Gefühle umschreiben. So wie man nicht weint, weil man traurig ist, sondern so wie man traurig ist, weil man weint, ist es doch auch möglich, dass man liebt, weil man es in Worten ausgedrückt hat und nicht weil man das in Worten ausdrückt, was man fühlt ? Ist wer, zum Beispiel Lana, tatsächlich sympathisch gewesen oder habe ich sie so gesehen, weil ich es gesagt habe ?
Wann kommt sie ? Wo ist sie, Lana ?
Da haben wir`s.. Nicht die Dinge selbst beunruhigen mich, sondern die Meinung, die ich darüber habe. Nicht die Tatsache, dass sie kommt, erregt mich, sondern die Gedanken, die ich darüber verliere. Wann kommt sie endlich ?
Die Vorstellung, dass sie endlich käme, ist doch meine. Sie hat gesagt Nachmittag. Jetzt ist Nachmittag. Der frühe Nachmittag. Und ich sage endlich, kraft eines Gefühls der , ja, der Sehnsucht ? Oder der Langweile ? Oder ist es Liebe ? Sympathie, die ich nicht beweisen kann ? Mir allein habe ich ja nichts zu beweisen, sondern ich muss oder will oder habe das Bedürfnis Lana etwas zu beweisen. Sehnsucht, Liebe, Sympathie, einer Langeweile, die in ihrer Abwesenheit entsteht.
Es gibt also mehrere Wirklichkeiten. Nicht eine, viele. Sicher gibt es keine objektive, die unabhängig von mir da draussen existiert. Und die subjektive Welt ? Ist ein Ergebnis von Meinungen und des Denkens über die nicht vorhandene objektive Welt.
Die Welt ist, was sie ist. Nicht die Welt, sondern nur unser Wissen, kann wahr oder falsch sein2).Auch ein bisschen übertrieben das Wahr und Falsch. Und was ist dazwischen ? Der herrliche Grauton des Lebens.tatsachen: die täuschungen, die als wirkungen einer bestimmten weise die sprache zu gebrauchen entstehen.3) Ja.wissen: was auf der sprachlichen täuschung beruht, dass man das, was man denkt, in gegenstände verwandeln kann, die, wenn sie in einer bestimmten reihenfolge wiedererkannt werden, immer wieder die gleiche wirkung haben.4) Wann kommt sie ? Wann kommt Lana endlich ?Wenn sie kommt, wird eine Wirkung hergestellt, nämlich jene, die ich wiederholt haben will.Wirklichkeit kommt von Wirkung. Was wirkt ist eben wirklich.Krakauer nimmt das Buch, das am Boden liegt und beginnt zu lesen.Die Verstellung der Wirklichkeit


12.

Ich reiße die Türe auf und Radu hat seine Chance.
Die kleine Pistole springt in seine Hand und gibt weiche, blubbernde Laute von sich. Ich spüre wie die Kugeln meine Kleider zerfetzen und eine mir die Brust aufreißt.
Der Schmerz, der mich niederwirft, rettet mir das Leben. Radu rechnet damit, daß ich mich auf die Seite werfe, aber ich lasse mich fallen und er schießt daneben. Auf seinem Gesicht ist ein tierisches Grinsen, die Narbe auf seiner Stirne leuchtet rot als er einen Schrei ausstößt, weil er meinte, die Abrechnung sei gekommen. Aber er verfehlt mich und ich knalle mit dem Fuß die Türe zu. Aus Instinkt greife ich in die Schublade und aus Erfahrung schieße ich in die Türe und treffe mit der einzigen Kugel dort, wo ich es beabsichtigt habe. Ich wußte es, reiße die Türe auf, die kleine Pistole war aus seiner Hand geflogen quer durch den Flur und als er danach hechtete, schieße ich noch einmal. Er streckt sich am Fußboden aus, ich gehe zurück und schließe die Türe. Ich gehe zur Bar, nehme einen und denke an Dutch und Muswell.
Dann stehe ich auf, gehe hinaus auf den Flur, packe Radu, zerre ihn in die Wohnung, er stöhnt, ich feßle ihn an Händen und Füßen, stopfe ihm das Maul und lege ihn vor mich hin. Er öffnete die Augen und scheint etwas zu begreifen.
Soll er doch.
Er verstand gleich, daß ich bei den Knoten ein Technik verwendet habe, sodaß er sich bei seinen Befreiungsversuchen zwar würgen, nicht aber erwürgen konnte. Sie sollen ihn finden. Lebend. Und einige Fragen stellen.
Ich nehme den Hörer vom Telefon, sage etwas, dann verlasse ich die Wohnung. Es regnete immer noch. Ich halte ein Taxi an und klettere auf den Rücksitz.
Fahren wir, sage ich.
Wohin, fragt der Fahrer.
Zum Bahnhof.

Es läutet, Krakauer legt das Buch zur Seite und geht zur Türe.
Das ist sie.
Die letzte Enttäuschung ? Wenn die Illusion, illusionsfrei zu sein, sich als solche herausstellt. Der Gipfel der Naivität ? Wenn jemand mit einem Schlag, Wirklichkeit erfahren will, denkt er und öffnet.
Hallo, Lana.
Schönen Guten Tag, Herr Krakauer.
Legen Sie bitte ab, kommen Sie, kommen Sie.
Lana legt Hut und Mantel ab.
Sie setzen sich.
Trinken Sie etwas, Lana ?
Ja, einen Schluck Wein.
Krakauer geht und holt eine Flasche und zwei Gläser.
Er kommt zurück, schenkt ein und setzt sich neben sie.
Wissen Sie, Lana, als Wunschtraum betrachtet, ist die Wirklichkeit der Traum eines Naiven. Die Träume, die man hat, so schön sie auch sein mögen, sind eben nur Träume, Wünsche, die nicht erfüllt werden.
Was wollen Sie, Krakauer ?
Man muss sich das vorstellen: kaum träumt man von etwas, schon hat man`s. Jeder Traum verkehrt sich so zum Alptraum. Die Wirklichkeit als Wunschtraum betrachtet ist eine raffinierte Hölle.
Und ?
Ich rede doch von uns, Lana. Wunschträume laden zum Geniessen ein, da es in ihnen aber keine Anstrengung gibt, gibt es auch keine Belohnungen. Es ist das zum Bild gewordene Moor, in dem man endlos versinkt. Man ist elend gefangen in der Traumwelt, denn man ist doch nur frei, wenn man die Freiheit kontrollieren kann, weil sie so schwierig ist, so schwierig.
Von was reden Sie schon wieder, Herr Krakauer ?

Frei ist der Bildhauer, der einen Stein bearbeitet. Die Traumwelt ist eine geschickt getarnte Falltüre ins Nichts. Die Traumwelt gehört den Zechprellern. Sie wollen den Zweck, nicht die Mittel. Die Welt im Konjunktiv. Verstehen Sie das, Lana ? Die Benützer von Utopien richten sich im Nichts ein. Das Meer hat bei ihnen keine Wellen, keine Stürme, die Löwen fressen aus der Hand, die Liebe fällt einem zu. In Wahrheit hat man nichts.
Und ?
Von der Herstellung von Wunderwelt-Fabriken leben Tausende und Abertausende von Menschen, nicht ?
Und ?
Die Menschen leben in Traumfabriken, legen ihr Geld an, spekulieren und hoffen auf den Untergang des Verstandes, nicht ?
Und ?
D`un homme mis à sa place enseigne la valeur.5)
Und ?
Worauf kommt es an ? Man betrachtet das Wirkliche und man betrachtet damit die Welt, genaugenommen, sich in der Welt. Eigentlich muss man sich als Welt betrachten. Folglich ist die Wirklichkeit alles nur kein Mittel, dessen man sich bedienen kann. Sie sind da, Lana.
Und ?
Ja, sie sind da. Endlich.
Und ?
Ja. Die Wirklichkeit ist ein künstliches Produkt. Ein Konglomerat aus Empfindungen. Ein Traum.
Und ?
Prosit.
Zum Wohle, Krakauer.
Verstehen Sie mich nicht, Lana ? Wir nennen Wirklichkeit jene Qualität, die eine bestimmte Art, etwas zu erfassen, mitteilt. Gegeben ist also nicht sie, die Wirklichkeit, sondern sie ist ein Produkt der Zubereitung.
Und ?
Ja, Wirklichkeit. Eine fable convenue 6); das Laborat einer jahrtausendalten Bemühung.
Und ?
Eine Zeitlang sitzen beide da, trinken und schweigen. Krakauer schenkt nach.
Und, sagt Lana nach einiger Zeit.
Kann ein solches Gespräch nicht anders aufhören ? Ich meine: aus sich selbst heraus ?

Kaum.
Und ?
Wenn es verstummt, so nur, weil ich, ja, ich, müde und überdrüssig bin. An sich wäre der Dialog endlos. Kein Satz ist der letzte, das heisst, es gibt keinen, auf den Sie nichts erwidern könnten.
Und ?
Hören Sie doch auf.
Und welchen Nutzen soll das haben, wenn Sie jetzt einen Streit vom Zaun brechen, Krakauer ?
Oh, ein Streit ist etwas. Ein Streit ist umso unnützer, je mehr Aussicht besteht, dass er zu Ende geht.
Und ?
Also, was machen wir ?
Was für ein plumpes, umorganisiertes, erfolgloses Geschöpf bin ich doch, denkt Krakauer. Wenn man mich oder wenn sie mich in meiner Unbeholfenheit des Sprechens, Denkens und Träumens zappeln und umherspringen sieht, mag sie mich zwar für lebendig halten. Mein Zappeln, eben der Versuch, irgendwie zu imponieren, ist bestenfalls ein Symptom einer Krankheit. Ich lebe nicht, ich zucke und tanze zwischen den Worten und Sätzen, falle phantasielos von einem in den anderen, bis es soweit ist: Ich werde von der Vernunft erschlagen und beginne ein neues Leben. Schon wieder. Ich reagiere als Relaxapparat auf sie.
Und ?
Unlängst hatte ich einen Traum, Lana.
Erzählen Sie.
Ich sah einen Mann, der einen missgestalteten Menschen in einem Schubkarren vor sich herschob. Ich rief im Traum dem Mann etwas zu, und plötzlich wurde der Missgestaltete immer kleiner und kleiner, bis er die Grösse einer Maus angenommen hatte.
Ich schrie den Mann an: Was machen sie da ?
Der Mann antwortete: Lassen Sie ihn, er kann jede Grösse annehmen. Jede, verstehen Sie.
Zu meinem Entsetzen nahm er die Maus in die Hand und schleuderte sie zu Boden.
Als ich aufschrie, lächelte der Mann und sagte: Schon gut, Krakauer, in einigen Stunden wird er irgendwo wieder auftauchen und das Spiel beginnt von vorne. Ihr Mitleid ist sinnlos. Es ist ein Ego.
Und ?
Dazu lässt sich viel sagen. Unter den Umständen, dass Sie das wirklich geträumt haben, mein Lieber. Sicher. Es ist ein Traum, Lana, glauben Sie mir doch.
Und ?
Was ist los mit Ihnen ? Können Sie mich nicht umarmen, lieber Freund. Wenn nicht, tue ich es.
Lana steht auf und umarmt Krakauer.
Und, fragt Krakauer, nachdem sie sich wieder gesetzt haben.
Sie sind sympathisch, Krakauer, sehr sympathisch.
Lassen Sie mich reden, Lana, einfach reden und begreifen Sie mich endlich, Lana, begreifen, verstehen Sie ?
Krakauer hält Lana im Arm und beginnt zu reden.
Worte, Worte, Sätze, Worte sind Götter. Da ist kein Wort, kein Begriff, keine Vokabel in der Welt oder irgendwo, in der Sprache oder irgendwie, welche nicht genauso viel Sinn wie Unsinn hätte, Lana.
Er küsst und umarmt sie.
Diener am Wort kann man nicht sein. Dieser Satz ist ein religiöser Ausfall der Protestanten. Luther, ein Diener am Wort. Wären wir Diener des Wortes, müsste hinter den Worten mehr stecken. Wenn sie aber so dahinpoltern, steckt nichts hinter ihnen, nichts, nichts. Ja, ein Vorurteil angreifen ist so gut wie eines bilden. Wir leben in der Sprache wie etwa die Esel auf einer Wiese. Manchmal verdorrt sie, manchmal blüht sie, manchmal wird sie gemäht, manchmal wächst Unkraut, manchmal wunderschöne Pflanzen. Was aber gerade wächst, hängt von uns ab und doch benehmen wir uns als hätten wir mit der Wiese oder der Sprache nichts zu tun. Oh. Ach.
Lana küsst Krakauer leidenschaftlich und sie lassen sich auf dem breiten Fauteuil nieder.
Trotz allem, Lana, knien wir vor der Sprache und halten sie für das, was uns ausmacht. Ach. Die Sprache, meine Liebe, ist ein ungeheurer Berg von Abfall und zugleich ein Haufen von Wundern und wundersamen Dingen und Träumen. Will man die Welt mit Hilfe der Sprache erklären, so darf man die Wunder nicht verschmähen, man muss an sie glauben. Glauben Sie daran, Lana ?
Ach, Krakauer, was redest Du denn ?
Sie küsst ihn heftig und langsam entledigen sich beide der Kleider, die wie kleine Wolken im Raum liegen. Sprechen, sprechen. Wenn man mich so springen und zappeln sieht, kannst Du mich für lebendig halten. Ja. Ach. Mein Zappeln und Tanzen ist nur der Versuch, ohne Verstand, ohne Gefühl, ohne Idee, ohne Denken meinen Sinnen zu gehorchen. Ach. Oh. Sie rutschen zu Boden und lieben sich leidenschaftlich. Krakauer redet ununterbrochen, Lana lacht dazwischen laut und schallend.
Du bist verrückt, Krakauer, total verrückt.
Ein Glück, dass es Dich gibt, Lana, bist ein Vergnügen, das ich liebe, heiss liebe, liebe. Du begreifst mich, ja, Du begreifst mich, endlich. Sekretion und Hirnmechanismus, Worte, Worte sind Götter und Du, meine Liebe. Verschnörkelte Liebe und ein Rausch gegen die Vernunft, ich bitte Dich, darf ich, ist´s erlaubt, Geliebte, der Antipode meines Ichs bist Du, ist Dein Du, Dein Du eine Empfindung, ein Gefühl, weg mit dem metaphysischen Getue, in das man Ich, Du, Es schnürt. Ich fühle mich und Dich und unsere Körper haben sich die Sprache einverleibt.
Du, sagt Lana stöhnend, Du.
Wir. Wir. Wir speisen mit den Worten unsere erdgeborenen Leiber. Dieses Gefühl, dieses unglaubliche Gefühl, dieses Naturgefühl, Lana, Lana, spürst Du das Gefühl, dieses unglaublichen Gefühl ?
Ja, stöhnt Lana, ja.
Ein helles Rot, ein sehr helles Rot, ein ganz helles Rot, ist das Schönste, es ist so leiblich, es ist so leibhaftig, weil es ein Rot ist. Rot in allem ist notwendig für die Liebe. Ich bin das Spielzeug meiner Worte und Sinne und fühle mich wie ein Spieler am Roulette des Lebens. Ich bin mit Leib und Seele beim Roulette der Liebe mit Dir und setze auf Rot. Jeder Irrtum, meine liebe Lana, jeder Irrtum der Sinne entspricht meiner verlorenen Vernunft. Wunderbare Gärten absurder Sensationen, Ahnungen, Mythen entstehen mit jedem Kuss. Meine Phantasie kümmert sich nicht um die Wirklichkeit, sondern ist sie. Tatsächlich mit Dir, Deinem Geist, Deinem Körper, liebste Lana, Lana.
Krakauer, Krakauer.
Wer sein Glied verlor, dem zuckt ein Schmerz noch lange geisterhaft im toten Stumpf und lügt ein Leben vor, als sei´s noch Fleisch und Blut, was Unruh schafft, aber nur meine Hälfte - nicht die bess´re zwar - ist abgetrennt von mir, doch immer zuckt der Nerv, der mich verband; wo Leben war, irrt ein Phantom, das dumpf im Herzen spukt, von jedem Teil meiner selbst, du liebster, schlimmster Teil, mit Schmerz besessen und mit Schmerz entbehrt, dich opfernd rett` ich meiner Seele Heil, doch der zerstückte Rest, was ist er wert ? Geliebte. Lana, Lana.


Dialog zwischen Kopf und Herz (3)

Herz: Ich glaube Dich zu verstehen. Obwohl das Verständnis vergeblich ist, lieber Kopf.
Kopf: Gerade Dein Verständnis gibt dem Ganzen einen gleichsam tragischen Reiz. Die Essenz unseres Gespräches ist sozusagen seine Unmöglichkeit.
Herz: Wir sind ziemlich weit weg von dem, worüber wir eigentlich sprechen sollten. Das Problem der Einsamkeit. Verstehst Du mich, Köpfchen ?
Kopf: Einsamkeit liegt jenseits der Sprache. Soweit wir sprechen, sind wir nicht einsam, Herzchen.
Herz: Wenn ich mit Dir rede, halte ich doch einen Monolog, nicht ?
Kopf: Sind Tiere einsam ?
Herz: Vielleicht, wenn sie eine Seele haben schon. Aber die haben wir ihnen ja genommen.
Kopf: Tiere irren nie. Sie können sich gar nicht irren. Irren ist doch menschlich, Herz ?
Herz: Das ist eine Entschuldigung. Ein Held ohne Fehler ist kein Held, sondern ein Monstrum.
Kopf: Wie Du die Dinge verdrehst. Aus Minus machst Du Plus, aus Fehlern eine Tugend.
Kopf:Du lebst davon, dass Du mir wider- sprichst.
Herz: Und die Liebe ?
Kopf: Eine Fiktion.
Herz: Tatsächlich ?
Kopf: Die Liebe ist eine Erfindung. Das heisst aber nicht, dass es nicht Natur ist, was dabei passiert. Die Liebe ist eine falsche Münze. Eine verkehrte. Der Geldfälscher macht eine Münze nach aus billigem Material. Bei der Liebe hat man etwas von Natur plötzlich in den Himmel gehoben, man hat es veredelt.
Herz: Die Natur ist für Dich ein Horror, nicht ?
Kopf: Sie ist der Name einer Wirkung, sozusagen.
Herz: Du bist ein Parasit, Kopf, ein Wirrkopf.
Kopf: Meinst Du ?
Herz: Würde der Mensch Musik, Literatur machen, wenn er vollkommen wäre ? Ist sein Gefühl der Liebe nicht äusserst unsicher und ist nicht gerade darin das Schöne an der Liebe, eben das Unsichere.

Krakauer rutscht zur Seite und Lana richtet sich auf.
Isolde Kurz, lieber Krakauer. Fast peinlich.
Krakauer liegt am Boden und stöhnt.
Bildung.
Sagen Sie etwas, Krakauer.
Ich liebe Sie .
Wen ?
Dich, Lana.
Krakauer sich auf.
Der Fauteuil fällt mit einem lauten Krach um.


V. Bruchstücke

Krakauer stellt den Fauteuil auf, schenkt die beiden Gläser voll und lässt sich auf den Lehnsessel fallen.
Immer das Chaos, immer das Chaos.
Lana kommt aus dem Bad in einem Bademantel zurück, küsst Krakauer und setzt sich.
Und ?
Ach, meine Liebe. Das Chaos.
Welches Chaos ?
Das Chaos der menschlichen Liebe.
Kennst Du eine andere, Krakauer ?
Ja, die Liebe der Tiere zur Welt. Zu ihrer Welt.
Ich verstehe kein Wort.
Ein Hund, zum Beispiel.
Ein Hund ?

Wenn man doch ein Hund wäre, irgendeiner, kein Rassehund, einer, der auf der Strasse herumstreunt und sein Fressen sucht, immer die Nase oben oder auf dem Boden, die Ohren aufgestellt, wenn die riesigen Automobile vorbeifahren und den Boden erzittern lassen, der Boden, keine Erde, sondern Asphalt und Beton wie es in Städten üblich ist, vor ihm riesige Wände steilauf mit Löchern, in denen sich die Sonne spiegelt, Glasscheiben, blau wie der Himmel, wenn man doch ein Hund wäre, der von den Resten der Welt lebt, Reste, die achtlos, aus Überfluss auf der Strasse landen und die man schnell, um den Hunger zu stillen, hinunterschlingt, bevor ein anderer Hund kommt und sie einem wegschnappt oder ein Mensch einem einen Fusstritt versetzt, ach, wenn man doch ein Hund wäre, dann sähe die Welt anders aus, nicht so klar, sie wäre verschwommen, ein riesiges Etwas aus Gerüchen und Farbe. Hunde haben kein Ich.

Kein gutes Leben, Krakauer.
Ein Hundeleben.
Willst Du das haben ?
Nein, Ja, wenn es nur anders wäre, Lana.
Was ?
Das Leben.
Ich bin zufrieden, Krakauer, sehr zufrieden.
Warum nicht diejenigen Wörter und Worte wählen, die für die Dich, Lana, genau mit denjenigen Vorstellungen übereinstimmen, um die es mir geht ?
Ich begreife Dich doch. Nur jetzt grad nicht, mein Lieber.
Ich weiss nicht, ob Du mich wirklich begreifst, Lana.
Nicht einmal denken. Es geht mir einfach darum, dass die Demaskierung zu der ich so gerne beitrüge, in der die Wörter bloss Mittler und Helfer für vergebliche, einen Kreis bildende Assoziationen sind......
Was ?
Nämlich Assoziationen, die gefangen gehalten wer- den, selbstberechtigt leben, eigene Farbe, Form, Schönheit und Hässlichkeit haben, kurz, dass sie sind wie geplatzte Ballone, aus denen jeder eine neue und ganz eigene Welt bilden kann. Wenn die Sprache explodiert. Tatsächlich. Wörtlich genom-men.
Du warst zu lange allein, mein Lieber.
War ich das ? Ich war bei meinen Gedanken. Das ganze Leben schon, Lana.
Lana beugt sich über ihn und küsst ihn.
Krakauer umarmt sie.
Wir trinken.
Auf uns, Lana.
Auf Dich, Krakauer.
Ich bin nicht mehr der Jüngste, meine Liebe.
Doch. Du bist alt genug.
Ach, das Alter.
Der Herbst ist der Philosoph unter den Jahreszeiten wie einer, der sich besinnt, was und wie etwas geschehen soll. Er hat etwas Sorgsames, Bedächtiges, beinahe Edles. Etwas Geistiges geht in ihm um. Er ist sehr farbig, die farbigste Jahreszeit.
Nein. Oder doch. Auch.
Er ist anders.
Herbst. Die Luft ist kühl. Oft unterbrechen die letzten warmen Sonnenstrahlen des Sommers die Kühle. Die Blätter fallen von den Bäumen. Ein Blatt nach dem anderen löst sich von den Ästen und fällt in einem kleinen Wirbel, sich drollig drehend zu Boden. Manchmal schaut es ein wenig wehmütig aus wie es verspielt auf die Erde schwebt und dann daliegt, um irgendwann vom Wind wieder in die Luft getragen zu werden. Mit dem Fallen des ersten Blattes beginnt der Herbst, mit dem letzten hört er auf. Der eine freut sich, der andere fürchtet sich davor.
Die Bäume wandeln sich. Wer möchte schon Tag für Tag die selben Kleider tragen ? Auf den Wiesen und Wegen ist alles wunderfärbig; gelb, braun, grün und rot stehen einander gegenüber und versuchen den Tagen ihre Farbe zu geben.
Geht man durch das Laub, raschelt es und die Blätter fliegen durch die Luft.
Ja, Krakauer.
Manchmal schleicht schon der Nebel durchs Land. Beim Spaziergang tauchen aus ihm Häuser, Menschen, ein Bach mit einer Brücke auf, so als hätte die Natur es vor uns verborgen. Man fühlt sich von dem Vertrauten freundlich angezogen, weil es plötzlich wieder da ist. Am Ende ist alles wie es sein muss.
Zur Herbstzeit habe ich grosses Zutrauen, Krakauer, sagt Lana.
Aus der Kühle des Tages fliegt einem auch ein wenig Fröhlichkeit entgegen. Und Mut. Kopf und Herz fühlen sich frischer als sonst. Der Herbst kommt über uns mit Spaziergängen, Sitzen in Kaffeehäusern, nicht ?
Was ?
Naja.
In einem Park spazieren zwischen einem Spalier von Frauen, das ist so etwas wie die Himmel. Ein Triumph des Lebens.
Herrlichkeit ? Genügt Dir nicht eine, der Du begegnest ?
Schon. Aber..
Was ?
Man liebt als Mann die Erinnerung.
Die Eroberung ? Das erinnerte Heldentum ?
Ja.
Eine Erinnerung an etwas, das man nicht erlebt hat oder doch ?
Ja.
Ob Mann oder Frau, man blickt zurück auf, ja, auf etwas, wo man Bedeutung gehabt haben könnte, Lana.
Und wenn es nur einmal gewesen ist ?
Ja, sicher. Einmal ist besser als keinmal.
Und wenn man vornehmlich mit sich selbst zu tun gehabt hat ? Nicht zuletzt kraft einiger Enttäuschungen oder heimlicher Freuden. Man blickt in die Gegenwart und Zukunft aus der Geschichte, Krakauer.
Ja, Lana. Aber es macht im Herbst sich auch die Kälte für den Winter breit. Die Sonne strahlt zwar, aber kälter als im Spätsommer. Der Winter hat lange Nächte, kurze Tage und kahle Bäume. Es frieren die Seen und Bäche, es schneit und die Kinder erinnern uns an die lang vergangene Jugend. Der Schnee fällt nicht mit Knall und Fall, sondern langsam, er schwebt zur Erde. Und irgendwie steht man da und friert ein wenig.
Lana setzt sich neben Krakauer und stösst mit ihm an.
Einmal träumte ich, ich würde über einen See fliegen, eine runde, zarte Eisfläche, die dünn und durchsichtig wie ein Fenster war und sich bog wie eine gläserne Welle. Unter dem Eis wuchsen Blumen. In der Mitte des Teiches war eine Insel, auf der eine Imbisstube stand. Ich ging hinein, bestellte eine Dose Bier und ein Matjesbrötchen, setzte mich ans Fenster und beobachtete die Blumen im See. Sie waren wunderschön und schienen nie zu welken.

Krakauer küsst Lana.
Wenn es so wäre, wäre es ein Traum.
Und wenn es ein Traum ist ?
Was ?
Alles.
Seele - nichts als Luft, Wind, manchmal Nebel und Rauch. So haben es die Griechen gesehen. Und man gibt ihnen gern recht, wenn man müde wird, in seinem Ich oder im anderen nach ungewöhnlichen und womöglich zweideutigen Tiefen zu suchen.7)
Eine Zeit lang sitzen beide da und denken nach.
Durch das Fenster hört man den Strassenlärm.
Lana schliesst die Augen.
Wollen wir etwas essen, fragt Lana.
Ja.
Lana steht auf und geht in die Küche.
Krakauer nimmt das Buch, das am Boden liegt und beginnt zu lesen.


13.

Unter dem gläsernen Vordach des Lieferanteneingangs, an die Wand gelehnt, steht Hank und zieht langsam an seiner Zigarette. Er gönnt, wie es scheint, seiner Umgebung keinen Blick, sondern bläst eine dichte Wolke in den Regen, mit einem Gesichtsausdruck genüßlicher Genugtuung.
Bevor er mich bemerken kann, drehe ich mich um und gehe zu dem Zeitungskiosk auf der anderen Seite.
Kennen Sie den Mann, frage ich und nehme eine Zeitung.
Ich begegne dem leeren Blick des Verkäufers.
Wen soll ich kennen ?
Den, der beim Lieferanteneingang steht.
Da steht keiner, Mann.
Ich blicke hinüber.
Hank ist verschwunden, aber seine Zigarette liegt noch qualmend auf dem Asphalt.
Und einen blauen Lieferwagen ?

Blau ?
Ja.
Da gibt es jede Menge. Hat er eine Aufschrift?
Das frage ich Sie, Mann. Ein blauer Lieferwagen mit Aufschrift.
Was für eine Aufschrift ?
Das frage ich Sie.
Lassen Sie mich in Ruhe.
Ich gehe über die Straße und stecke mir eine Zigarette an.
Verdammt. Weg ist er.
Als ich über den Kanal blicke, sehe ich ihn. Der blaue Lieferwagen. Drinnen sitzt Hank.
Stok and Weyner. Putzerei.
Alles klar.
War er das ?
Sicher.

Das Essen ist fertig, ruft Lana.
Was gibt es ?
Spaghetti Bolognese und Wein, viel Wein.
Krakauer geht in die Küche und hilft Lana beim Aufdecken.
Sie setzen sich, Krakauer öffnet die Flasche und schenkt ein. Lana teilt aus.
Guten Appetit.
Schweigend essen sie.
Unter Umständen haben ich mir aus Notwehr oder zügelloser Selbstbeachtung eine innere Insel geschaffen, die zu erobern mehr Zeit kostete als sie wert ist. Jetzt sitze ich auf der Insel und möchte an Land. Älter geworden glaube ich plötzlich, dass auch mein Leben einiges von jener Alltäglichkeit braucht, die ich mir lange frank und frei verboten, ja, die ich verachtet habe. Vielleicht brauche ich die anderen mehr als sie mich ? Er beobachtet Lana wie sie ruhig isst und trinkt; ihre Gesichtszüge, ihre besonders schön geschwungenen Lippen, ihre Stirne und Haare, die Oberarme und Hände, ihre Schultern, Brüste.
Sie ist sehr schön, denkt Krakauer.
Ist es nur die Tatsache ihres Vorhandenseins, der Verdacht, dass ich ohne sie allein wäre, mich verlieren würde, mich zu Tode schweigen würde, mein Ende erklären müsste, an meinem Ich sterben müsste ?
Er lacht laut.
Was lachst Du, Krakauer ?
Ich habe über mich nachgedacht.
Und da lachst Du ?
Ja.
Lachst Du auch, wenn Du über mich nachdenkst ?
Unter Umständen, Lana.
Wann ?
Es ist ein Unterschied zwischen Lächeln und Lachen, Lachen und Lachen, Lana. Lächeln verbirgt unter Umständen Schüchternheit oder Wehmut, Trauer. Man kann aus Schadenfreude lachen oder aus vollem Herzen. Und wie lachst Du, Krakauer ?
Er lächelt.
Prost, Lana.
Auf Dein Wohl.
Das Lächeln am Fusse der Leiter, sagt er.
Ja, Henry Miller. Aber ich bin nicht seine Freundin, sondern, ja..
Meine, nicht, Lana ?
Ja ?
Wenn durch Zufall - ja durch Zufall - zwei Menschen zusammenkommen, entsteht ein Lachen. War es nicht so bei uns ? Ist es nicht so ?
Lana lächelt.
Es ist ein anderes Lachen als das übliche. Zum Beispiel. Man muss über einen Menschen lachen, der versuchen wollte bis zum letzten Ast eines Baumgipfels zu klettern, um der Sonne besonders nahe zu sein.
Ist er ja dann auch. Und wenn er auf den Eiffelturm steigt, ist er der Sonne noch näher. Es ist eine Preisfrage. Am Himalaya ist die Sonne am nächsten, nicht ?
Es ist eben gerade eigenartig, wenn er es deshalb tut, Lana, oder ?
Warum ?
Ein Clown ist doch komisch, wenn er im Zirkus zur Spitze einer freistehenden Leiter klettert und dann versucht, die Leiter hinter sich herzuziehen, um noch höher zu steigen.
Lana lacht.
Das Essen wird kalt, Krakauer, Prosit.
Zum Wohle, Lana.
Krakauer fällt ins Nachdenken.
Wer die Naivität verloren hat, lacht über den Clown nicht mehr. Wer sie behalten hat, der muss auch über die Künstler lachen, die auf Leitern in die Höhe klettern möchten und glauben, sie könnten während des Aufstiegs sich von der Erde lösen.
Und das Reden, dieses Dahinreden ?
Die Sprache in ihrer Entwicklung ist eine Pyramide geworden, welche breit und roh auf der Erde lastet und in eine verwitterte Spitze ausgeht, die je nach dem Geschmack des Pyramidenführers und Pyramidenerklärers den Namen Gott, Begriff, Idee, Materie oder Kraft, Geist enthält. Wer die verwitterte Spitze mitsamt den Fremdenführern herunterholen will, der muss sein Handwerk von den Maurern lernen, die die Ziegel zusammengeklebt haben. Er muss entweder nachklettern und das gemeinste aller Kunstwerke abtragen von dem verwitterten höchsten Stein bis herunter zum sandigen Grund, oder er muss den sandigen Grund blosslegen, bis der plumpe Bau in sich selbst zusammenstürzt. Beides kann nicht die Kraft eines Einzelnen. Pharaonenmacht und Sklavensinn von Millionen hat den stumpfen Koloss getürmt, absolute Macht und unbedingte Nachfolge nur könnte in jahrelangem Bemühen das niederträchtige Denkmal wieder stürzen. Weil aber der Einzelne schwach ist und ungeduldig, darum nimmt er den Explosivstoff des Lachens zur Hilfe, das Bauwerk fliegt auf, und es ist schlechter Lehm gewesen, und in seinem geheimnisvollen Innern vergessene Götzen, bemalte Särge, balsamierte Mumien und Moder: die Gespenster unserer eigenen Vergangenheit... ... ..Reine Kritik ist im Grunde ein artikuliertes Lachen. Jedes Lachen ist Kritik, die beste Kritik.8)
Krakauer isst langsam, hebt das Glas und trinkt.
Was hast Du, Krakauer, fragt Lana.
Was meinst Du ?
Du bist wie in einer Zeitlupe.
Ich denke, ich denke.
Du denkst zu viel.
Lana liest.


14.

Dora sitzt in der Bar. Es ist Vormittag. Sie bestellt bei Marko einen Campari. Wie immer.
Hank kommt herein.
Na endlich, sagt Dora.
Was ist los, Dora ?
Setz dich hin, mein Lieber. Atme ganz ruhig und denk daran, daß Du irgendein kleiner Mann bist, Hank.
Was ist los ?
Du verhältst Dich zu einem, der was zu reden hat, wie das Äffchen eines Drehorgelmannes zu Rossini. Du hast gut gelebt. Es bringt doch ganz schön was ein, wenn Du das tust, was man Dir sagt ?
Das war anders, ganz anders. Und ich wollte eben auch mal in euren Ordner über das Gitterfenster reinschauen, verstehst Du das nicht ?
Und McIntosh ?
Der war selber schuld. Ich lasse mich nicht gerne treten.
Hat er das ?
Und wie ?
Er ist ein Schwein.
Gewesen.
Und Doc ?
Der wollte das Geld.
Und wo ist es ?
Ich habe es.
Es gehört ihm doch. Gib es Marko, der paßt auf. Und geh Doc aus dem Weg. Wir regeln das.
Marko ?
Ja, das machst Du. Das andere vergessen wir. Und Joey ?
Das war ich nicht, Dora.
Wer dann ?
McIntosh. Das Schwein.
Und Radu ?
McIntosh ist tot und Radu hat es erwischt.
Es war Doc. Er wollte ihn mehr oder weniger liefern.
An Muswell und Dutch ?
Ja.
Du hältst Dich raus und gibst Marko das Geld. O.K. ?
Ja, Boss.
Geh jetzt.

Lana legte das Buch beiseite. Krakauer steht auf und setzt sich zu ihr.
Wer war es, Krakauer ?
Was ?
Wer hat Joey Jankovits umgebracht ?
Willst Du es wirklich wissen, Lana?
Nein.
Es war McIntosh.
Und wer ist Hank ?
Interessiert dich das wirklich, Lana ? Er war es nicht. Oder doch ?
Interessiert es Dich ?
Nicht besonders.
Sie legt ihren Kopf auf seine Schulter.
Was interessiert Dich dann ?
Du, Krakauer.
Warum ?
Keine Ahnung.
Was heisst das ?
Dass ich keine Ahnung habe, Krakauer.
Wovon ?
Von Dir, Krakauer.
Ich habe auch keine Ahnung.
Wovon ?
Von Dir und von mir.


Wo ist denn X ?

Krakauer hat die Augen geschlossen.
Jedes Wesen, ich im selben Masse als Mann, als junger Mann oder als Greis hat einerseits einen Körper, den Körper aus Fleisch und Blut mit seinen Organen, Auswüchsen, Höhlen, Fugen und Löchern und Falten und Flächen und Buckeln und Ebenen und andererseits einen scheinbar vom Körper getrennten Geist, eine Seele getrennt und vereinigt zugleich, gleichsam zusammengepfercht in das Joch eines Ichs vom ersten bis zum letzten Tag und nach dem Tod, nach der Verwesung des Körpers besteht etwas, ja - was besteht ? - es besteht etwas weiter und für dieses Weiterleben des vom fleischlichen Körper getrennten Geistes hat man Begriffe erfunden. Lana fährt Krakauer durch die Haare.
Der Würgengel Seele, dieser verlorene Begriff soll mir und meinem Ego helfen ? Er befiehlt und gestattet allen Mächten, allem Schicksal das grosse Geheimnisvolle zur rechten Zeit zu machen, damit etwas überbleibt in einer Erinnerung.
Lana fährt Krakauer noch einmal durch die Haare und küsst ihn.
Wach auf, Freund, wo bist Du denn ?
Krakauer öffnet die Augen.
Ja, wo bin ich denn ?
Er blickt auf Lana.
Im Himmel ?
Du bist hier, bei mir, Freund.
Bei mir ?
Ja.
Du meinst bei mir ?
Wo ?
Wo bin ich ?
Na, wo ?
Bei mir.
Ich ?
Auch.
Krakauer schliesst die Augen. Lana lehnt sich an ihn.
Was mich an diesen Mann hält,9)ist das Verlorene unserer Bekanntschaft, eigentlich müsste ich sagen, das Vorgetäuschte oder das, was ich nicht von ihm weiss. Ein Gefühl der Liebe ist dabei nur ein Begriff. Wäre es tatsächlich Liebe, wären wir beide Lügner. Es ist ein Zeichen, das uns hält. Welches, ist unklar. Auch wenn manchmal alte Gewohnheiten auftreten, dürften wir nicht glauben, dass etwas zwischen uns geschieht. Vielleicht fallen wir nicht über uns her. Wir reden und die Zwischenräume der Gespräche sind wichtiger als die Sätze, die wir von uns geben, die uns wenn überhaupt nur erheitern. Ich weiss nicht, ob das was uns verbindet, sich nicht abnützt, schnell abnützt oder ob die Gesprächspausen unendlich werden. Wir haben beide etwas von Insekten, kleinen Käfern, die einander begegnet sind. Aus einem Zufall. Da unsere Geschichte kurz ist, ist es eine Tatsache einerseits, dass wir alles von ihr wissen, andererseits keine Erinnerung suchen. Es gibt fast nichts, was wieder aus dem Gedächtnis auftaucht. Was mich an ihn hält, ist weder liebevoll noch das Gegenteil: lieblos.
Krakauer spürt Lana an seiner Seite.
Was mich an die Frau hält, ist die Gleichgültigkeit. Meine. Ich weiss, es ist keine Liebe, aber irgendetwas, was mit dem Begriff tu tun hat. Sympathie. Sicher. Wenn von unserer Verbindung nicht mehr bleibt als die Unsicherheit diesem Gefühl oder diesem Begriff gegenüber ist es auch schon etwas. Ich weiss, dass sie mich weder liebt, noch hasst. Vielleicht schätzt sie mich genau so wie sie mich geringschätzt ? Wir sind beide keiner ausserordentlichen Zuneigung mehr fähig. Es ist keine Kälte, eher eine gleichgültige Ironie dem Erleben gegenüber. Was soll es auch, das grosse Erlebnis ? Es hält mich etwas an sie, indem wir auf die grosse Liebe verzichten.
Das Leben, denkt Krakauer, es hält mich.
Was mich an es hält, ist eine Anzahl von bedeutungslosen Dingen. Wenn ich mein Leben überprüfe, wobei ich nur es kenne, sehe ich nur ein Kennzeichen, eben das Geplauder, ein endloses Geplauder an mir vorbei. Ich gebe mir mit dem Gerede Gelegenheiten, etwas loszuwerden, was ich sonst in der Einsamkeit der Wand sagen müsste. Keiner versteht mich. Alle haben zurecht etwas anderes im Kopf und im Gefühl.
Was mich an Lana hält, ist - wie es scheint - dass sie mein Leben an einen Punkt gebracht hat, dass sie mich aufgeweckt hat aus meinem melancholischen Schlaf. Ich verdanke ihr mehr oder weniger, dass ich jetzt über meine Verlorenheit Bescheid weiss, dieses nackte Verlorensein mit meinem alten Körper. Da ist mir ihrer gut genug, um Erinnerungen zurückzuholen. Sich Verirren im Ich und Verlieren im Anderen, hat sie mir gegeben. Wir sind verlorene Gegenstände, die man in der Welt übersehen hat. Liegengelassen. Oder dort, wo wir leben, gut funktionierend aus einer überheblichen Routine. Wenn ich etwas spreche oder gesprochen habe, liess sie mich gewähren, wie sie mir Gedanken auch nicht verbietet, sondern sie zulässt, so zulässt, als wollte sie damit beweisen, dass es sie nichts angeht und nicht interessiert.
Was mich am Leben erhält, vermittelt es nicht. Ein eigenartige Freiheit hält mich an es. Es ist ein fremdes, das mir gut tut. Fremdkörper, der mir gut tut. Vielleicht auch nur sein Geist, dem man einige Überraschungen zumuten kann. Was mich an dieses Leben hält, ist die Unmöglichkeit, es zu fangen und zuzusehen wie es allmählich verschwindet. Dieses ahnungslose Ziel, von dem weder es noch ich etwas weiss, hält mich an es. Ich glaube, es lebt auf einer Insel - auf der alles merkwürdig homogen ist, auf der es keine Uferstellen gibt, an denen man landen könnte. Wenn man auf der Insel ist, kann man sie nicht mehr verlassen. Man kann nur denen etwas zurufen, Zeichen geben, die in der Ferne sind.

Was mich am Leben hält, ist seine Fähigkeit, mich zu ignorieren oder zu verlieren wie einen Gegenstand, den man wo liegengelassen hat. Natürlich gehört dieses Verlorenwerden zu meinem Selbstverständnis. Zumindest zu meiner egozentrischen Koketterie. Ich weiss, ohne es schon zu sein, ich weiss, nun bin ich neuerdings verloren worden, verloren gegangen. Wie ich mir vorstelle, dass das Leben mich verliert, so liebe ich es, mich zu verlieren. Was soll´s, wenn ich nicht mehr in den Vitrinen oder Regalen der Welt herumstehe, begafft oder begriffen wie man ausgestopfte Pigmäen begafft und begreift, obwohl man eben mich wie sie nie begreifen kann. Vielleicht ist es nicht ungerecht, wenn ich sage, dass ich, der grosse Krakauer, der nur in sich gross ist, zu allen Verstrickungen bereit ist, wenn nur ein Verlust an einem anderen dabei zu Buche steht ? Und wenn ich dann irgendwann wieder an einem meiner Orte gelandet bin, in einer meiner Höhlen, habe ich wieder wie ein Hamster das Reservoir von dem sich meine Gedanken nähren können. Einen Winter lang, einen Sommer lang, ein Leben lang. Was mich an dieses Leben hält, ist - kurz gesagt - dass es nicht vorhanden ist für mich. Natürlich komme ich ihm in den Sinn aber was ist das für ein Sinn und was bedeutet es für mich ? Das, was uns verbindet, das Leben und mich, ist ein beiläufiges Geschehnis, das etwas hinterlässt. Geschehnisse ohne Bedeutung halten mich an es. Und diese Bindung spielt keine, keinerlei Rolle für mein Umgehen mit anderen Menschen. Nichts geschieht. In diesem wunderbaren Irrtum gehört es mir, das Leben.
Was mich an es hält, ist die tröstende Sache, dass kein anderer es aushalten würde. Zumindest wenn es sich so benimmt, so sich gebärdet und lebt und lebt wie es eben lebt. Es lügt und lügt und erfindet und träumt und phantasiert. Was ist das ? Eine Phantasie, es ist eine meiner Phantasien. Es gibt es eigentlich nicht. Das hält mich an es. Es lebt in einer Höhle und vermittelt das erregende Gefühl dieser Höhle, nichts aber von sich, immer bei sich und nichts gestattend.

Was mich am Leben erhält, ist die Tatsache, dass es nichts von mir, von meinem Leben weiss und nichts von meinem Leben, dem bisherigen, dem gegenwärtigen, dem zukünftigen wissen will. Es kann sich beweisen und damit meine Bindung zu ihm, wenn die Gefahr besteht es zu vergessen und ich es nicht vergessen werde. Übrig bleibt eine unbekannte Geschichte eines Lebens, das mir begegnet ist. Was mich am Leben hält, ist etwas, das man nur vorsichtig, lückenhaft, behutsam beschreiben kann.
Was mich an dieses Leben bindet, ist die irrationale Überzeugung seiner Existenz und Gegenwart und meine überzeugte Selbstgefälligkeit.
Was mich am Leben hält, ist mein Doppelich. Einerseits ist das Ich ein vorsichtiger Besitzer meines Lebens, zugleich stellt es aber ein Bild her, das in keiner Beziehung zur Wirklichkeit steht.
Was mich an das Leben bindet, ist, dass es weder sein noch mein Vorhandensein erkannt hat, zumindest nicht unser Vorhandensein in einer Welt mit der wir, solange wir zusammen sind, nichts, absolut nichts zu tun haben. Was mich am Leben hält, ist mein Bewusstsein, dass wir kein Verhältnis zueinander haben, sondern eine Bindung sowie zwei leere Bierdosen auf der Strasse sich berühren. Leer und jederzeit in Gefahr weggeräumt zu werden. Und sich nie mehr zu sehen. Wie Lana und ich, Krakauer.
Er öffnet die Augen und streichelt Lana.
Was gibt es Krakauer ?
Nichts. Es ist alles so wie es sein soll.
Was soll so sein ?
Alles, Du, Ich, alles hier.
Glaubst Du ?
Wir sind wie eine Gleichung mit zwei Unbekannten, sagt Lana.
Wo ist denn das X ?
Und Y ?
Ja, wo denn ?


1.Gottfried Wilhelm Leibniz, Theodizee

2.Karl Jaspers, Von der Wahrheit

3.Franz Josef Czernin, aphorismen

4.Franz Josef Czernin, aphorismen

5.abgewandelt: D´un mot mis à sa place.. Nicolas Boileau-Despréaux

6.Albrecht Fabri, Der rote Faden

7.E.M. Cioran, Vom Nachteil, geboren zu sein

8.F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, III, 632

9.Giorgio Manganelli, Brautpaare und ähnliche Irrtümer (formal ähnlich)


<li><a href="../index.html">e.journal</a> : [ <a href="../toc-nf.html">Inhalt</a> ]<br> <li>b&uuml;.cher : [ <a href="toc.html">Inhalt</a> ]<br> <li><b>Der Egoist</b> : [ <a href="eistoc.html">Inhalt</a> | <b>6</b> ]<br>
·^·