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part.9

Das Kaleidoskop ist ein bewundernswertes Spielzeug. Insgesamt beinhaltet es ein Ganzes. Doch im Einzelnen zeigt es immer nur einen Aspekt und die Folge der Aspekte ist nicht vorhersehbar. Frueher neigte ich dazu, dem Leben einen geschichtlichen Ablauf zuzubilligen. Eine Reihe paradoxer Erfahrungen und nicht zuletzt die Erfahrung mit Nona, lehrten mich, Besseres zu begreifen. Kontinuitaet ist bloss ein Wuenschen, ein kuenstliches Voranschreiten und erweist sich als widerwaertige, kulturelle Erfindung. Ich habe gelernt, die, die immer auf Kontinuitaet pochen, auf die unabdingliche Wiederholung ihrer Geschichte stolz sind und sie als hoechste menschliche Errungenschaft preisen, zu verachten. Die Auseinandersetzung mit dem in der Zwischenzeit wahnsinnig gewordenen Panitzer war die endgueltig letzte, die mir schliesslich zu einer unerwarteten Bestaetigung meiner fruehen Ahnungen verholfen hat. Kontinuitaet erscheint mir eine laestige, hemmende und abtoetende Gewohnheit. Ich ziehe auch immer mehr in Zweifel, dass menschliches Verhalten mit althergebrachten Mustern in Uebereinstimmung gebracht oder erklaert werden koennte.
Das erleichternde und erstaunliche an dieser ganzen Entwicklung ist, dass ich den Zusammenbruch meiner urspruenglichen Weltschau nicht als Verfall erlebe. Die Aufloesung aller Strukturen fuehrt mich zu einer Gleichgueltigkeit, die sich fuers erste jeder Beschreibung entzieht.

Der Zwang, ausserhalb der Zivilisation, ausserhalb der technoiden Welt zu leben, war von einer derartigen Staerke gewesen, dass er rueckentsinnend sich sagen musste, in einem geistiger Krankheit aehnlichen Zustand gewesen zu sein. Jedenfalls war sein Verhalten tief verstoert, das Verstaendnis mit anderen kaum moeglich gewesen.
Alle kuenstlichen Hervorbringungen loesten in ihm geradezu traumatische Reaktionen aus, die ihn in jenen Zustand der vollkommenen Bewegungslosigkeit, in jene kaum mehr zu durchbrechende Passivitaet, die schlussendlich auf seine eigene Vernichtung, seinen Selbstmord, hervorgerufen durch die voellige Unfaehigkeit zu handeln, hinausgelaufen waere. Da half auch nicht die immerwaehrend wiederholte Behauptung, dass die menschliche Species mittels der ihr eigenen Produktionsweise sich selbst den Strick drehen wuerde. Er begriff nun den Wahnwitz des Unterfangens, die Welt des Menschen, aus welchen Gruenden auch immer, abzulehnen. Denn jede Ablehnung, die nicht auf Veraenderung hinzielt, fuehrt zum Ausschluss, in stetig sich verstaerkender Unwiderruflichkeit. Alle Flucht war ihm verunmoeglicht, ausser der einen, die in den Tod fuehrt. Bei naeherem Nachdenken stellte sich dies als unbedeutend heraus, da ja letztendlich jede Bewegung zum Tod fuehrt und es vielleicht doch darauf ankommt, wie der Weg bis dahin gegangen wird. So gesehen wird Leben ein Spiel gegen den Tod, und Technologie, Kunst und Kultur ein Monument des, zumindest teilweisen, Triumphes ueber den Tod. Vollkommene Sinnlosigkeit wollte er nicht anerkennen, mit ihr haette er der Vernichtung Tuer und Tor geoeffnet. Doch gelang es ihm auch genauso wenig, Sinn herzustellen. Entlassen aus jener Unschuld, die reine Freude am Leben findet, verblieb ihm die Hoffnungslosigkeit. Alle Abkehr vom Menschen verstaerkte diese Hoffungslosigkeit und steigerte sie ins Unertraegliche, erzeugte ein Ausmass von Schmerz. Und dieser Schmerz zwang ihn immer wieder zur Umkehr. Mit jeder neuerlichen Wegwendung verlor er allerdings Kraft und die Anstrengungen der Rueckkehr, des Wiedereinstiegs, wurden immer groesser.
Ebenso fiel ihm durch die andauernde Beobachtung der Dinge von einem aeusseren Standpunkt aus das Marionettenhafte, das Absurde, die unnuetze Verspieltheit und die innere Leere der menschlichen Bemuehungen auf.

Erst diese verzweifelten Denkversuche ueber das Wesen der menschlichen Natur und deren hoechst zweifelhaften Hervorbringungen, liessen mich wiederum an das denken, dass wir unter dem Wort Natur begriffen. Es blieb mir nicht erspart, die erschreckende, mich erschreckende Entdeckung zu machen, dass Natur ein zwar nicht vollkommener, aber doch weitgehend aussermenschlicher Zustand sei, waehrend hingegen das Wesen der menschlichen Gesellschaft und deren Produktionsweise ein hoechst aussernatuerlicher Zustand ist. Je mehr ich mich dem naeherte, das mit dem Begriff Natur nur hoechst unzureichend bezeichnet wird, desto mehr entfernte ich mich aus der menschlichen Denkungsweise und umso schwieriger ward mir die Mitteilung meiner Erfahrungen, die ich auf diesem beschwerlichen Weg durchmachte. Denn alle Begriffe, die mir die menschliche Sprache bot, erwiesen sich als vollkommen untauglich. Wenn ich allein das Wort Baum hinschrieb, musste ich mir immer vergegenwaertigen, dass der, der dieses Wort lesen wuerde, fuers erste an einen Baum seiner Wahl denken wuerde. Natuerlich ist durch bestimmte Attribute und Beschreibungen eine naehere Klassifikation und Uebermittlung jenes bestimmten Bildes eines bestimmten Baumes moeglich, bleibt aber zuletzt doch immer nur ein Appell an die Vorstellungskraft, mit all der Unsicherheit des Verstandes und zugegebenermassen mit aller Unsicherheit meiner Beschreibung. Letztendlich laesst dieser Zweifel an der Sprache, an der Mitteilungsfaehigkeit derselben ueberhaupt einen Zweifel an der Sinneswahrnehmung aufkommen. Wie ich vorhin bereits angedeutet habe, fuehrte mich das Nachsinnen ueber das menschliche Wesen auf diesen Weg. Die Unzuverlaessigkeit und die Zufaelligkeit menschlichen Verstehens und Missverstehens liessen mich nach einem sicheren Ort suchen, und ich vermeinte, diesen in der Natur zu finden. Ich wurde jedoch sehr rasch eines besseren belehrt und musste begreifen lernen, dass die Natur dem Menschen nicht freundlich gesinnt ist, ja, ihm gegenueber gar keine Gesinnung hat. Mit dieser doppelten Zerstoerung meiner Illusionen musste ich nun fertig werden, das Unsichere als das einzig Moegliche hinnehmen. Um nicht dem vollkommenen Chaos anheimzufallen, sehe ich mich genoetigt, allen Widrigkeiten zum Trotz allem Gestalt zu verleihen, menschlich verstaendliche Gestalt, um mir einen sicheren Platz in der menschlichen Gemeinde zu schaffen, die zu verlassen ich mir ja vorgenommen hatte. Bedingt durch die gegebenen Verhaeltnisse und Einsichten, sehe ich mich gezwungen, diesen Plan aufzugeben. Das Betreiben dieses Vorhabens liess mich alsbald die umfassende Kontrolle erkennen, die der Mensch ueber die Welt errungen hat. Die Flucht erweist sich als Lernprozess. Jedes weitere Vorantreiben als Erkenntnis der umfassenden Einengung. Der Wunsch nach weiterer Entfernung trieb mich gerade auf die Welt des Menschen wieder zu, so seltsam dies auch erscheinen mag, und ich musste erkennen, dass es ausserhalb der Welt des Menschen keine Moeglichkeit gibt. Selbst in die entferntesten ununwirtlichsten Gebiete waren sie vorgedrungen, hatten das Unerforschte in Bekanntes verwandelt, um es letztlich den ureigenen Fertigkeiten zu unterwerfen. Ich hoere in letzter Zeit immer wieder von derartigen Fluchtversuchen, die eines gemeinsam haben: die unabdingliche Rueckkehr in die Gesellschaft. In dieses seltsame Geruest des Kulturellen, das jede andersartige Erfahrung zwingt, sich eine gewisse Konformitaet zu eigen zu machen, um ueberhaupt verstanden zu werden. Ich moechte hier vor allem von Fluchtversuchen sprechen, die danach trachten, ausserhalb des menschlichen Gebietes zu kommen und nicht von jenen sattsam bekannten Versuchen des Aussteigens mittels Drogen, etwa in die Niederungen des Alkohols, in die lichten Gegenden der orientalischen Rauschmittel, in die wilde, tierische Welt der Nachtschattengewaechse, in die Sphaere der Sinnesverklaerung und der Sinnesverwirrung. Ich moechte auch nicht von jener Todessehnsucht sprechen, von der sich eine nicht gerade geringe Zahl die vollkommene Losloesung erhofft. Nein, es geht mir, wie schon angedeutet, um jene absoluten Grenzbereiche, die den menschlichen Verstand und dessen Einfluss auszuklammern drohen, eben eine Welt, die ausserhalb des Menschlichen existiert. Sie werden einwenden, dass ein derartiges Unterfangen absolut sinn- und wertlos ist, da eine ausserhalb des Menschen und von diesem vollkommen unabhaengige Welt in keiner Weise nuetzlich waere. Ich fuer meinen Teil koennte entgegenhalten, dass all unser Forscherdrang, vor allem jene universelle Neugierde, geradezu praedestiniert ist, die menschliche Erfahrungswelt immer wieder an die Grenze des Moeglichen zu bringen. Natuerlich erscheint es paradox, dass gerade mit der hoechsten Neu- gierde, mit dem blitzartigen Erkennen einer neuen komplexen Struktur die gleichzeitige Sinnlosigkeit, ja geradezu Gefaehrlichkeit eben dieser Erkenntnis zu Tage tritt. Ich habe bereits an anderer Stelle diesen seltsamen Zusammenhang von Erkenntnis und ploetzlichem Absterben, nicht nur des Interesses, sondern auch des damit verbundenen Niederganges des Erkannten, erwaehnt. Es waere muessig, an die Parabel vom Suendenfall zu erinnern und damit dem alten Glauben rechtzugeben. Obwohl es durchaus sinnvoll waere, darueber nachzusinnen, ob wir nicht gerade durch diesen Mythos bestimmt sind. Ob uns nicht gerade dieser Mythos durch seine scheinbare Unausweichlichkeit die Sicht auf andere Moeglichkeiten verstellt. Ich brauche allerdings gar nicht allzuweit gehen, um diesen Zusammenhang von Erkennen, Vergehen oder auch Veraenderung zu sehen und zu spueren, wie eben Neugierde, ewige Fragerei und Hinterfragerei eine vermeintlich grosse Liebe zerstoeren.

Die Geschichte des Menschen ist voll davon, dass gerade der Bruch des Geheimnisses, die Offenlegung des Mysteriums zum Niedergang des Zustandes fuehrten. Vielleicht haben gerade die verlogensten Religionen der Erde ueberdauert, da sie sich strikt gegen jede rationale Erklaerung zur Wehr gesetzt haben und das Irrationale zu ihrem Gott erhoben haben. Sie sehen also, dass der Wissensdrang andauernd die vermeintlich gesicherte Welt des Menschen in Truemmer legt. Ich meine, dass ein Auskommen, ein >den Kelch voruebergehen lassen<, gar nicht moeglich ist, ja geradezu dem Leben hinderlich waere. Wenn Sie meinen, dass ich etwas verwirrt vor mich hinsinne, haben Sie sich geirrt. Es gibt kaum Schwierigeres, als sich auf paradoxes Gebiet zu wagen. Das Paradoxe steht fuers erste fuer etwas, wie ausserhalb des menschlichen Verstandes liegendes. Das Paradoxe deutet ja auf nichts anderes hin, als dass eine Erfahrung vorliegt, die ausserhalb der Formulierkraft des Einzelnen, in besonders wichtigen Faellen, ausserhalb der Formulierkraft der menschlichen Sprache liegt. Es bedarf einer Unzahl von Annaeherungen, von geradezu sisyphosschen Anstrengungen, um im entscheidenden Punkt wiederholt neuen Ausblick zu fassen, bis es gelingt, neben diesem einen Punkt einen zweiten, einen dritten auszumachen. Erst diese Punkte erlauben es, einen klaren Blick ueber den wahren Sachverhalt zu erlangen, mit der gleichzeitigen Moeglichkeit der Zertruemmerung des bisherigen Weltbildes, das sich in einem fast psychotisch zu nennenden Prozess im Nu aufloesen kann. Nichts am menschlichen Wesen ist gesichert, rein gar nichts.

Dem katastrophalen Zustand der Natur steht der katastrophale Zustand des menschlichen Gehirns gegenueber.

Am gegenwaertigen Stand der Dinge kann man sich nicht orientieren. Die Verwirrung hat alle Schichten erfasst. Niemand mehr weiss sein Tun wirklich glaubhaft zu rechtfertigen. Jeder historische Rueckblick ist bloss zeitweilige Linderung des gegenwaertigen Unvermoegens.
Ja, ja, der Schnee wird fallen, die Sonne wird scheinen, der Regen wird regnen, die Blueten werden bluehen, die Kinder werden geboren werden, die Menschen werden sterben.
Im Zyklus werden die Jahreszeiten aufeinander folgen, das Unmoegliche wird nicht wahr werden, beim Moeglichen wird es nicht bleiben.
Und im Kopf, was spielt sich im Kopf ab? Im Kopf wird ein Krisenszenario nach dem anderen entworfen und gleich ob des alles zerstoerenden Schreckens wieder verworfen.
In seinen kindlichen Spielen ging er davon aus, dass die Natur ihm Zuflucht bot, und er sich in ihr verstecken konnte und sich damit dem menschlichen Bereich entzog. Bis ihm eines Tages, zu einem viel spaeteren Zeitpunkt klar wurde, dass dieser Schutz durch nichts gegeben war. Die Napalmbomben, die im Vietnamkrieg ganze Landstriche verwuesteten und unbewohnbar machten, all die E r r u n g e n s c h a f t e n der Kriegstechnologie, die elektronischen Spuergeraete, die Beobachtungs- moeglichkeiten durch Flugkoerpertechnologie, die Rasterfahndungsstrategien, all das beschwor das Bild einer allmaechtigen und umfassenden Herrschaftsstruktur, Resultat einer immer zweifelhafteren zivilisatorischen Humanitaet. Aber dies waren nur Kleinigkeiten im Vergleich zur atomaren Kriegs- und Aufklaerungstechnologie, die dem Bild des allwissenden und allmaechtigen Gottes bedenklich nahegekommen ist. Dahinter steht noch einmal das Wissen um die Schrecken des galaktischen Raumes. Die kosmische Harmonie erwies sich als Gefahr, als zerstoererische Energie ungeahnten Ausmasses, gegen die die geballte Atom- und Sprengenergie aller Nuklearmaechte geradezu ein Kinderwitz ist. Sterne entpuppten sich als unbelebbare heisse und brennende Sonnen. Heute berauschen wir uns nicht mehr an den schoenen Theorien und Glaubenssaetzen ueber die Harmonie und Goettlichkeit des Kosmos, heute gefallen uns vielmehr die astrophysikalischen Farbaufnahmen und Spektralanalysen ferner explodierender Galaxien, zerfallender Sternennebel. Wir verlieren uns an Vorstellungen dichtester Materieanhaeufungen kontrahierender Sterne, die in finstere Unraeume weisen, die sich fuers erste aller menschlichen Geisteskraft entziehen. Die Apokalypse hat Gestalt angenommen. Die Apokalypse ist die Natur selbst, wenn wir diesem Begriff nicht nur unsere romantische Vorstellung, sondern auch den Sternenraum selbst zuordnen.
Am Schluss wird sein Feuer und Wasser, so die keltischen Druiden.
Seine Denkgewohnheiten wehrten sich gegen diese Einsichten. Und Denkgewohnheiten sind Gewohnheiten, die ueber den Einzelnen in die Geschichte des Menschen weisen. Eines Nachts war er fast verrueckt geworden, als er versuchte, mitten in der Finsternis den Stand der Sonne zu erkunden. Und er bemerkte wie widersinnig sein Gehirn bis in die tiefsten Wurzeln diese Taetigkeit empfand, weil es eben dem taeglichen Augenschein nach programmiert ist und nicht nach den hoeheren kopernikanischen Einsichten, die aus Forschung und abstrahierendem Denkvermoegen entstanden.

Geradezu laecherlich, lachhaft, nehmen sich die Versuche aus, der zeitgenoessischen Technologie zu entkommen. Doch sind diese primitiven Formen der Gegenwehr fuers erste die einzige Moeglichkeit, gegen den uebermaechtigen technokratischen Golem anzugehen, ihm zu widerstehen. Die alternativen und laendlichen Kollektive, vorwiegend von Stadtfluechtigen ins Leben gerufen, entdecken die Fertigkeiten der Vorvaeter- und Muetter aufs neue und versuchen danach ihr Leben einzurichten. Angesichts der drohenden Katastrophe kann ihnen dies nicht veruebelt werden, ist auch der banalste Versuch, anders und ausserhalb des technokratischen Komplexes zu leben, von grosser Bedeutung. Die, die zeitgenoessische Technologie als verderblich ablehnten, zogen sich auf die einfachsten und urspruenglichsten Produktionsmittel zurueck, und sie besitzen ausser ihrem Glauben keinerlei Abwehrmittel. Ihr Glaube findet nur deswegen so rasch Verbreitung, weil die Schadstellen und die Schwaechen des industriellen Systems sich offenbaren und ihre zerstoererische Wahrheit freigelegt wird. Der Fortschritt der modernen Technologie vernichtet soziale und gesellschaftliche Strukturen, vernichtet die Umwelt, vernichtet die Natur.
Vor Jahren schon wurde damit begonnen, Krisenstaebe einzurichten, Aufklaerungs- und Oeffentlichkeitsarbeit zu betreiben, um die kommenden Probleme zu verdeutlichen. Aber nichts erwies sich als stark genug gegen die mechanische, elektronische und chemische Industrie, die, solange sie den Markt saettigten und die Arbeiter halten konnten, ungestraft weiter wirtschafteten und vorspiegelten, dass die Entwicklung und das Wachstum in alle Ewigkeit andauern werde und alle Warnung als Hirngespinst verrueckter und weltfremder Traeumer abtaten. Erst jetzt, da der Markt gesaettigt ist, keine grossen neuen Produktionsziele in Aussicht sind, die Gewaesser vergiftet sind, die Waelder der Zerstoerung anheimfallen, die Kulturlandschaft und ihr oekologisches Gleichgewicht irreversibel gestoert scheinen, erst jetzt, da die Schaeden offensichtlich werden, koennen sie das Ausmass der Zerstoerung nicht mehr verleugnen, verhuellen, vertuschen, abtun. Die Baustaetten der Atommuellager haben sich zu Schlachtfeldern um die Zukunft entwickelt. Mit primitivsten Mitteln gehen die Menschen an gegen paramilitaerische Polizeieinheiten, mit ihren Koerpern versuchen sie Mensch und Natur vor weiterer Vergewaltigung zu schuetzen. Aus Baumstaemmen, aus den Abfaellen der Industriegesellschaften errichteten sie auf dem Gelaende, auf dem das Atommuellendlager eingerichtet werden sollte, ein primitives, archaisch anmutendes Dorf. Sie bildeten ein Feldlager, das eine Zukunft signalisieren sollte, die nicht auf bedenkenlose und hinterhaeltige Ausbeutung von Mensch und Natur gegruendet ist.
Binnen kuerze verwandelte sich das bunte und farbige Dorf in ein Heerlager, gestuermt von Hundertschaften der Polizei, mit heruntergelassenen Visieren, Schilden und Knueppeln in den Haenden.

Die Hoffnung, die auf diesem Platz geschoepft wurde, wich noch tieferer Verzweiflung.
Obwohl von vornherein klar war, dass der Staat, der allmaechtige Bauherr, mit allen Mitteln versuchen wuerde, das Gelaende wieder in seinen Besitz und unter seine Kontrolle zu bringen. Nachdem ihm dies mittels seiner Sicherheitskraefte gelungen war, begann die Errichtung des Endlagers.
Gestuetzt von stahlbetonenen Waenden und hohen Wachtuermen, von denen weit ins Land hineingesehen werden konnte. Die Baustelle glich bald dem Bild eines Konzentrationslagers. Nichts mehr erinnerte an das froehliche Dorf.

Allerorts entfaltet sich der Widerstand gegen den Irrsinn, gegen die kopflose, blinde und taube Ruecksichtslosigkeit der modernen Welt. In den grossen Staedten wird das Schleifen alter gewachsener Wohngebiete verhindert. Sie halten Widerstand gegen die Gier bedenkenloser Spekulanten, deren Gewinn blossen Geldgewinn darstellt.
Wie soll man sonst ein Inserat verstehen, auf dem ein junger Mann zu sehen war, der seine ebenso junge Frau auf einem Stueck verrotteten, durch die Industrie vernichtetem Vorstadtland jubelnd in die Hoehe hebt und den Abschluss eines Bausparvertrages feiert, der ihm weitere Schulden, dem Unternehmer schnellen Gewinn und der weiteren Zersiedelung Vorschub leistet. Gutes Bauland kann schon lange nicht mehr angeboten werden.

Die menschliche Produktion schlaegt unaufhaltsam ihre Schneisen in die Natur.

Warum sollten gerade wir verschont bleiben. Man hatte all diese Jahre hindurch nichts unternommen. Die Planziffern wurden gefeiert, die Erhoehung des Bruttonationalprodukts wurde bejubelt. Die Grundlagen der grossen Katastrophe, oekologisch und militaerisch, konnten ungehindert weiterentwickelt, vervielfacht und ins Unermessliche gesteigert werden.

Die Katastrophe wird nicht das Ende der Natur ausloesen, sie wird nicht einmal das Ende des Menschen sein. Doch wird sie moeglicherweise die technische Zivilisation beenden und die, die in diesem Netz verflochten sind, mit sich reissen.

Nun gut, ich weiss, dass diese Reise unmoeglich ist. Ich meine, durch die Verhaeltnisse von vornherein unmoeglich gemacht worden ist. Aber nicht nur die Verhaeltnisse verhindern die Reise, von den naeheren Umstaenden gar nicht zu reden. Es fehlt auch vollkommen das Ziel. Also jener Umstand, der eine Reise erst zu einer notwendigen, mit allen Mitteln durchzusetzenden Unternehmung macht. Kaum habe ich mir den Plan zu einer alle bisherigen Reisen uebertreffenden Reise zurechtgelegt, erreicht mich die Nachricht, dass eben jene, alles bisherige ueberragende Reise schon getan sei. Dass eine derartige Nachricht all meinen Eifer daempft und mich alle getroffenen Vorbereitungen fuer sinn- und nutzlos ansehen laesst, bedarf keiner weiteren Erklaerung. Nichts hat mich jedoch all diese Jahre daran gehindert, immer wieder neue Reiseziele auszumachen. Um dann, wenn ich gerade die abschliessenden Vorbereitungen getroffen habe, und nahe daran bin, die Reise anzutreten, prompt die Nachricht zu erhalten ueber den gelaeufigen Vollzug eben jener Reise durch einen anderen. Wie gesagt, nach Abschluss aller Vorarbeiten, hat sich bislang noch immer herausgestellt, dass das angepeilte Ziel, der noch unbekannte Ort laengst ausgekundschaftet war. So blieb mir bis zum heutigen Tage nichts anderes ueber, als die einlangenden Reiseberichte eingehend zu studieren, und nach moeglichen Schwachstellen hin zu untersuchen, die die Unternehmung einer derart schwierigen, zeitaufwendigen und mit unvorhersehbaren Strapazen verbundenen Reise doch noch rechtfertigen wuerde. Bislang haben jedoch alle Reisenden, soweit ich ihren Berichten glauben darf und muss, die Reise mit einer Genauigkeit, die ich auch mir selbst abverlangen wuerde, dargestellt und meinen Wissensdurst zur Genuege, manchmal geradezu vollauf befriedigt. Meine Kenntnisse ueber die Welt, ueber deren bislang unbekannten Gebiet ist dadurch in den letzten Jahren ins Unermessliche angewachsen, wobei ich gerne zugebe, dass ich an dieser Stelle uebertreibe. Dies allein verfuehrt mich immer mehr dazu, immer wieder eine neue Reise zu planen, insgeheim hoffend, vor dem Antritt der Reise, bereits das Ergebnis der Reise, wenn auch durch einen zweiten, zu erfahren. Ich komme allerdings, so erstaunlich das auch klingen mag, nie in die Verlegenheit, selbst der Zweite zu sein. Da ich ja immer Berichte ueber von mir geplante und doch nicht durchgefuehrte Vorhaben bloss entgegennehme, wenn auch ueber die seltsamsten Kanaele entgegennehme, komme ich auch niemals mehr in Versuchung, das geplante Vorhaben auch selbst auszufuehren. Ich bewege mich naemlich hoechst ungern und mit groesstem Widerwillen auf den Spuren erster, zweiter, dritter und so weiter. Eine Reihe, die sich nach Belieben fortsetzen liesse. Eine Verhaltensweise, die, so hoffe ich, entsprechend gewuerdigt wird. Ich unterlasse auch alles, um mit jenen, die eben die von mir geplanten Reisen hinter sich gebracht haben, um mit reicher Beute zurueckzukehren, Kontakt aufzunehmen und sie darauf hinzuweisen, dass ich ihre Reise, die eigentlich die meine haette werden sollen, fuer meinen Teil bis in jede Kleinigkeit vorbereitet habe, und sie mir bloss durch Zufall zuvorgekommen waeren und mich wieder einmal mehr um die Wuerde des Entdeckers, um jenes von mir herbeigesehnte und nie erfuellte Glueck, tatsaechlich Neuland zu betreten, gebracht haetten. Ich weigere mich auch, sie zum erfolgreichen Abschluss der Reise zu beglueckwuenschen, weil ich fuerchte, dass derartige Schreiben, und selbstverstaendlich wuerde ich einem derartigen Glueckwunsch schriftlich Ausdruck geben, bloss ihre Selbstgefaelligkeit steigern wuerden, die sie wiederum bloss nutzten, um weitere Reklame zu betreiben. Ich weigere mich entschieden, den Erfolg einer abgewickelten Reise anzuerkennen, und dies nicht nur, weil es mir ein von langer Hand geplantes Vorhaben verunmoeglicht und Monate emsiger Kleinarbeit vom Tisch weggewischt werden. Die Anerkennung eines derartigen Reiseerfolges wuerde es mir ein fuer allemal undenkbar machen, neue Projekte auszuarbeiten. Denn ich kann auf Grund der bisher erlittenen und gewonnenen Erfahrungen sagen, dass jedes von mir konzipierte und durch einen anderen vollbrachte Projekt, Reiseprojekt, ein noch umfassenderes, noch schwierigeres und weiter entferntes Projekt hervorrief. Wobei ich jenen, die dann diese Reisen auch wirklich vollziehen, in Wahrheit keinen besonders grossen Vorwurf mache, da sie ja, bedingt durch meine Unbekanntheit und Nichtbekanntheit mit ihnen, von meinen Plaenen, Konzeptionen und Vorhaben nichts wissen koennen. Wie koennte ich einem den Vorwurf machen, mich meiner Zielsetzungen beraubt zu haben, ohne dass jener von meiner Existenz etwas, ja nicht einmal das Geringste ahnen konnte. Obwohl ich natuerlich aus Gespraechen mit Freunden, die ich persoenlich ueber meine Absichten im Unklaren lasse, den Neid kenne, mit dem sie alle verfolgen, die das angestrebte Ziel bereits erreicht haben. Wie fallen sie nur ueber jene her, und machen Leistungen klein, die sie selbst nicht vollbracht haben. Sie finden an allen Ecken und Enden etwas auszusetzen und lassen an nichts, aber auch an gar nichts ein gutes Haar. Nichts entgeht ihren eifersuechtigen Augen, die geringfuegigste Unklarheit wird ausgenutzt, um die vollbrachten Leistungen in den Schmutz zu zerren, herunterzumachen und zu entwuerdigen. Ja sie warten geradezu darauf, dass irgendeiner etwas tut, um diese Tat dann auf die vernichtendste Art und Weise kritiseren zu koennen. Ich habe ihnen natuerlich nie von meinen Vorhaben erzaehlt, da mir von vornherein klar war, dass sie mir alles, aber auch alles ausreden wuerden, selbst den Traum, die Ahnung von einer Sache, haetten sie mir mit allen Mitteln ausgeredet, nur um in ihrer selbstgefaelligen Ruhe weiterhin die Tage und die Plaetze versitzen zu koennen. Sie glauben natuerlich, dass ich ein vollkommen unbedarfter, ein ahnungsloser und hoffnungsloser Mensch bin, da ich mich an ihren grund- und bodenlosen Diskursen nicht beteilige. Denn jede Ausfuehrung ueber die unermesslichen Schwierigkeiten, ein erstmaliges, einmaliges Vorhaben durchzubringen, und wer sollte besser ueber die Schwierigkeiten Bescheid wissen als ich, der schon seit Jahren jegliches Vorhaben durch andere zu Fall gebracht sieht, wuerde mir bloss als Verteidigung eben jener Erfolgreichen ausgelegt, als Kollaboration mit den Erfolgreichen. Wuerde ich nur ein Wort fuer sie verlauten lassen, fielen sie ueber mich her und wuerden mich auf der Stelle fertigmachen. Mir bliebe nichts anderes uebrig, als zwischen den Stuehlen zu stehen, denn, einen Bereich einmal verlassen zu haben, zwingt sofort ein anderwaertiges Gebiet aufzusuchen, da die Rueckkehr in den ersteren nur unter groessten Demuetigungen vollzogen werden kann. Und so nehme ich die kleinliche Art, mit der sie alles und jedes fertigmachen, hin.
Insgeheim freue ich mich darueber und lache darueber. Denn eine Art Befriedigung ist es doch fuer mich, die beschimpft zu sehen, die alle meine angestrebten Ziele erreichen, waehrend ich nicht einmal zum Laufen komme.
Ich bin mir natuerlich ueber die Gefahren derartiger Kleinmuetigkeit bewusst und huete mich davor, ihr Ausdruck zu verleihen. Denn nichts verhindert ein grosses Vorhaben, es muss nicht einmal ein grosses Vorhaben sein, mehr, als Kleinmuetigkeit. Ja die Kleinmuetigkeit unterbindet geradezu die Moeglichkeit, und meine Freunde sind gerade der beste Beweis hierfuer, sie, die alles in den ersten Regungen unmoeglich machen, andauernd von der Sinnlosigkeit aller Taetigkeit, aller Vorhaben sprechen.

Die Sonnenbahn verlaeuft im Winter anders als im Sommer. Im Sommer steht die Sonne hoeher, im Winter niedriger. So leuchtet sie nun niedrig auf meinen Schreibtisch. Sie beleuchtet aber auch meine rechte Gesichtshaelfte. Da zu diesem Zeitpunkt die Sonne im Zenit steht, also hoch im Sueden und meine rechte Gesichtshaelfte voll ausgeleuchtet ist und ich im rechten Winkel zur im Zenit stehenden Sonne sitze, schaue ich, wenn ich von der Schreibmaschine aufsehe, in Richtung Osten. In Wahrheit schaue ich natuerlich nicht in den Osten, sondern gegen die etwas mehr als einen Meter vor mir liegende Wand.

Ein komischer Weg fuehrt zum Han Shan

Warum wollt ihr, dass ich diesen Weg beschreibe. Wisst ihr nicht, dass es auf den Han Shan keinen Weg gibt. Ich bin diesen Weg jeden Tag, Jahr ein, Jahr aus, gegangen. Fragt mich nicht, welchen Weg ich gegangen bin. Steine, Wasser, Brombeerblueten. Jetzt sitze ich hier , in euren Niederungen und male Steine, Wasser, falsche Blueten. Will euch tagtaeglich erzaehlen, den Weg zum Berg.
Einmal ist er euch zu hoch, das anderemal zu niedrig. Nah und fern hat er auch noch zu sein. Der Weg zum Berg, das ist kein Weg.
Den Berg haben sie schon lange abgetragen, weggetragen; jeder, der zum Berg hinging, hat ein Stueck des Wegs genommen. Noch immer fragst du mich nach der Richtung. Keinen Deut. In allen Windrichtungen verstreut. Blueten, falsche Blueten. Iss das Fleisch des Stoers, den du nicht gefangen hast.
Noch immer willst du wissen.
Beilaeufig der Wind.



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