Gibt es Musen?


© Franz Josef Czernin

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In der Poesie - lasse ich mir sagen - wird, wie in aller Rede, mit etwas Bestimmtem angefangen. Allerdings kann, ja vielleicht soll die Poesie, anders als viele Rede, in ihrem Anfangen auch mit dem Bestimmen selbst anfangen. Sofern eine Rede, die auch mit dem Bestimmen anfängt, sich auf etwas bezieht, ist ihr nicht nur Bestimmtes gegeben, sondern dann wird durch sie auch erst bestimmt, worauf sie sich bezieht. So können wir in einer Poesie sowohl die Rede als auch das beziehende Bestimmen und das dadurch Bestimmte erfahren, und endlich auch das Zusammenspiel dieser Komponenten. Diese komplexe Erfahrung ist das experimentum crucis der Poesie, eine Erfahrung, die uns zu der Annahme führt, eine Poesie lasse uns - wiewohl in seltenen Fällen - Dinge erfahren und erkennen, die wir auf keine andere Weise erfahren und erkennen können. 1)

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Wenn eine Poesie anfängliche und Bezug bestimmende Rede ist, dann bestimmt sie auch den ontologischen Status der in der Rede stehenden Dinge. Es kann dann auch sein, dass sich erst in einer Poesie herausstellt, ob etwas ein fiktiver oder ein wirklicher Gegenstand ist. Bezieht sich eine Poesie beispielsweise auf die Musen, können wir dabei erfahren und erkennen, dass die Musen wirklich existieren? Dass es die Musen, als Töchter des Zeus und der Mnemosyne, diese Göttinnen der Künste und Wissenschaften, die Hüterinnen harmonischer Ordnung gibt oder gab? Behütet Klio die Geschichtsschreibung, Kalliope das Epos, Melpomene die Tragödie, Thalia die Komödie usw.? Oder müssen wir erkennend erfahren, dass es die Musen nicht wirklich gibt, sondern nur Musen-Vorstellungen und Musen-Darstellungen?

Nicht zufällig vielleicht redet viele Poesie nicht nur nüchtern-benennend, sondern ruft auch an - und eben auch die Musen. Die Anrufung kann dann, wenn nicht als ein Versuch, wirkliche Existenz zu bestätigen, so doch als ein Geschehen erfahren werden, bei dem die Frage nach wirklicher oder fiktiver Existenz aufs poetische Spiel gesetzt wird. Wenn dann das Angerufene, etwa die Musen, antworten und ihrerseits den Autor anreden, wird dieses Spiel - von den Musen oder vom Autor - noch weitergetrieben; so auch in Hesiods Theogonie - wo die Musenrede als möglicher und vielleicht auch als doppelter Trug gedeutet werden kann:

"Wir wissen viel Trug zu sagen, der dem Wirklichen ähnelt, Wir wissen aber, wenn wir wollen, Wahres zu künden."

Trug kann hier zum einen sein, dass die Musen reden (ein Trugbild, das als Wirklichkeit ausgegeben wird), und zum anderen könnte - wie die Musen selbst sagen - trügerisch sein, was dabei gesagt wird. 2)

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Ruft sie an oder wird sie auf die rechte Weise angerufen, dann kann eine nicht nur bestimmte, sondern auch mit dem Bestimmen anfangende und damit ihren Bezug bestimmende Poesie Dinge zwischen Himmel und Erde erfahren und erkennen lassen, die wir, weil sie uns ansonsten entzogen sind, für nicht-existent und fiktiv halten.

Ich glaube, dass gerade diese Möglichkeit ein Spezifikum der Poesie darstellt. Wäre es nicht so schwierig, das Wort Geheimnis wirksam zu gebrauchen, könnte man hier von einem Geheimnis der Poesie sprechen. Dieses erschiene uns dann auch vermittelt durch die Kraft poetischer Rhetorik, verstanden als figurative Rede. Gerade durch diese könnten wir in besonderem Maß unter Inspiratives geraten, vielleicht in Musils Anderen Zustand , der uns erst erlauben würde, Dinge zu erfahren und zu erkennen, von denen uns unsere Schulweisheit ansonsten nur zu träumen erlaubt. 3)

Höchstwahrscheinlich allerdings ist ein poetischer Text, der auf Musen Bezug nimmt, hier und heute nicht mit einem anfänglichen und bezugnehmenden Bestimmen vereinbar, das die Musen - ihr Begriff definiert durch ihren Ort in der Mythologie des antiken Griechenland 4) - als wirklich existierend erfahren und erkennen lässt. Wahrscheinlich liest man jegliche Poesie der Musen heute so, dass man festzustellen hat: Die Musen sind fiktive Gegenstände, es gibt nur Musen-Vorstellungen und Musen-Darstellungen. - "Alles von Musen pp ist abgenützt für Kunstsymbolik - sie muss ganz von den Künsten selbst genommen werden", notiert schon (seltsam mehrdeutig) Friedrich Schlegel um 1800. Und Thomas Poiss erläutert in Musen pp, dass sich spätestens in römischer Zeit das religiös fundierte Inspirationskonzept, das auf dem Glauben an die wirkliche Existenz von Musen beruhte, in eines von säkularen Instanzen verändert hat. Und würde man diese Geschichte der Musen oder ihres Begriffs ignorieren wollen, und etwa in einem Gedicht wörtlich und ernsthaft ihre wirkliche Existenz behaupten, dann würden sich die Musen (oder die Poesie über sie) aller Wahrscheinlichkeit nach rächen - etwa durch den Eindruck prätentiöser Anmaßung oder unangemessener Naivität.5)

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Eine nicht nur bestimmte, sondern auch mit dem Bestimmen anfangende und damit ihren Bezug bestimmende Poesie kann uns aber nicht nur ansonsten für fiktiv gehaltene Dinge so erfahren lassen kann, dass wir sie für wirklich halten, sondern umgekehrt auch Dinge, die wir ansonsten für wirklich halten, als fiktiv erfahren lassen: Wie wir aus der Poesie und manchen, gerade auch modernen, Poetologien wissen: Vieles kann in den Verdacht der Fiktivität bzw. Nicht-Existenz geraten: der Autor beispielsweise, das Ich, ja nicht zuletzt, die Welt selbst, als gäbe es hinsichtlich dieser Dinge nichts als ihre Vorstellungen oder Darstellungen. Kaum denkbar allerdings, dass hier endgültige ontologische Festlegungen zu dekretieren wären: Alles ist in Fluss, vielleicht: Der Prozess des Erfahrens und Erkennens durch literarische Werke ist allenfalls sub specie aeternitatis und also nicht für uns jetzt und hier Lesende und Schreibende abgeschlossen. 6)

Der Gang der Geschichte der Literatur (aber nicht nur der Literatur; - es ist unsere Geschichte) zeigt sich auch daran, welche Gegenstände wir für wirklich und welche wir für fiktiv halten. Was gestern für wirklich gehalten wurde, das ist heute Mythologie und deshalb fiktiv, und, wer weiss, vielleicht gilt auch manchmal das Umgekehrte. Den Möglichkeitsinn dafür wachzuhalten, scheint der Literatur mitgegeben.

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Manche Schriftsteller nennen ihre Geliebte ihre Muse, andere das Unbewusste oder ihren Geist, wieder andere vielleicht ihre Träume oder ein gar ein Buch oder ein Gedicht, oder sonst irgendwelche "Mächte, Kräfte oder Faktoren, die die Funktion der Musen heute übernehmen" (Thomas Poiss). Und wäre etwa in einem Gedicht von Musen die Rede, dann müsste man in vielen Fällen annehmen, dass damit eben nicht die Musen selbst, sondern eben jene Mächte, Kräfte oder Faktoren gemeint seien, von denen wir allerdings annehmen, dass sie wirklich existieren. Wollen wir also über als wirklich erfahrene Dinge reden, dann können wir das Wort "Musen" wohl nur figurativ, im Sinne von uneigentlich, gebrauchen. Eben das kann uns dann die Rede, ihr anfängliches und bezugnehmendes Bestimmen, wie auch das durch dieses Bestimmte und endlich auch das Zusammenspiel dieser Komponenten erfahren und erkennen zu lassen. Gebrauchen wir dagegen etwa den Ausdruck "Gedächtnis" figurativ, etwa um damit Mnemosyne, die Mutter der Musen, zu bezeichnen, dann können wir dennoch mittels dieses Ausdrucks auch über wirkliche Dinge reden, - sofern wir annehmen, "Gedächtnis" sei nicht seinerseits eine figurative und fiktive Hypostase für Vorgänge, die wörtlich eigentlich anders zu bezeichnen wären.
So lässt sich an Erfahrungen mit poetischer Rede - etwa auch jener, die auf Musen Bezug nimmt - ein Zusammenhang von wirklicher Existenz, Fiktivität und figurativer Rede erkennen.

4 (Janusköpfige Figuration)


Die Ambivalenz der vorher zitierten Musenrede bei Hesiod - sofern dort tatsächlich offenbleibt, ob und wenn ja, worin die Musenrede trügerisch ist - deutet vielleicht an, dass die Rhetorik der Figuration, ihre Kraft, zu zwei Extremen führen kann: zur Erfahrung oder Erkenntnis von Wirklichkeit jenseits des Textes ebenso wie zur Erfahrung und Erkenntnis von Text als einziger Wirklichkeit. Mag sein, dass wir, ein Gedicht lesend und uns seiner figurativen Kraft überlassend, Wirklichkeit und Wirksamkeit inspirativer Entitäten (wenn auch, wie gesagt, wohl kaum der Musen) in unvorhergesehenem Maße erfahren und zu erkennen vermeinen - und dass sich eben dies im nächsten Leseaugenblick als Trug darstellt, den wir allein der trügerischen Wirkung des Textes selbst verdanken, und wir uns sagen: - Was Du eben als evident-wirklich erfahren hast, das gibt es gar nicht, das ist etwas Fiktives. Umso grösser, umso erschütternder vielleicht (und vielleicht erst dann des Lesens wert) wäre dann eine solche Ernüchterung zur Wirklichkeit. Doch auch sie kann im nächsten Gedicht, ja, im nächsten Vers sich als der eigentliche Trug herausstellen.7) Auch könnten wir, verführt etwa durch eine erleuchtende Metapher in einem Vers, unseres Ich, ja unseres wirklichen Selbstseins und Selbstsinns emphatisch gewiss sein. Doch sogleich kann der Vers sich so wenden, dass die Destruktion jener Gewissheit evident scheint: Uns gibt es nicht oder nicht in sinnhafter Weise. Das Wirkliche und Wirksame ist für uns dann vielleicht nur mehr der uns selbst als Trugbild herstellende Text: Sogleich wird das Ich zu nichts als zu einem Personalpronomen oder zu einer Wortbedeutung, also zu einem Abstraktum, das sich auf nichts mehr beziehen lässt - jedenfalls nicht mehr auf uns selbst. Doch gerade darin könnte jetzt das Trügerische bestehen: Aus dem als rein grammatikalisch und semantisch erfahrenen Personalpronomen Ich entstünde - lesender Weise - aufs neue eine, womöglich erschütternde, Selbst- oder Sinngewissheit.

Die figurative Rede, dieser Zusammenhang lautlicher, grammatikalischer und semantischer Verfahren, kann uns also das sein, was die Wirklichkeit bestimmter Gegenstände erst erfahren und erkennen lässt, um uns im nächsten Augenblick des Glaubens an jene Wirklichkeit wieder zu berauben: Dann sieht man auf die Figurationen wie auf die Werkzeuge eines Zauberkastens, und der Zauber erscheint auf einmal als Trick. Welcher dieser beiden Gesichtspunkte Trug ist, welcher Wirklichkeit, muss im allgemeinen Nachdenken über Poesie offen bleiben; die Antwort (oder auch nur die Erfahrung der Frage) ist dem einzelnen Gedicht - und das heisst auch uns: dem einzelnen Leser - überlassen.

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In einer berühmten Stelle aus den Philosophischen Untersuchungen stellt Ludwig Wittgenstein fest:
"Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen - ´Wissen`, `Sein`, `Gegenstand`, ´Ich`, ´Satz`, ´Name, und das Wesen der Dinge zu erfassen trachten, muss man sich immer fragen: `Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht?`
Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück."

Ersetzt man hier metaphysische Bedeutung durch anfängliche und bestimmende Rede, und alltägliche Verwendung durch anfänglich bestimmte Rede, dann lässt sich behaupten: Die poetischen Musen können beides: Sie lassen uns die Wörter von ihrer - zumeist durch alltägliche Verwendung bedingten - Bestimmtheit auf ihr anfängliches Bestimmen und auch, umgekehrt, von diesem auch auf ihre alltägliche Bestimmtheit zurückführen. Denn wie ein Wort tatsächlich angemessen gebraucht wird, worin sein Trug oder seine Wirklichkeit eigentlich bestehen, das wird durch eine anfängliche Poesie, die auch zu bestimmen anstrebt, was die Sprache selbst eigentlich ist, zum experimentum crucis gemacht und also bis auf weiteres anheimgestellt.

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Fussnoten:

1) Ob für jene Gegenstände, die nur durch ein poetisches Anfangen und Bestimmten erkannt werden können, gilt, dass es für sie keine andere Empirie gibt als eine poetische? Und, wie wenn unsere Selbstwahrnehmung, das Verwandeln von Unbewusstes in Bewusstes, dieser Prozess eben Teil jener poetischen Empirie ist, etwa, weil zum adäquaten Erkennen bestimmter Dingen gehört, dass wir uns bei ihrer Erkenntnis auch auf uns selbst beziehen?

2) Nicht weit von dieser Stelle zu liegen scheint das berühmte Lügenparadoxon: Eine Muse, die von sich selbst sagt, dass sie immer trügt, wäre nichts anders als Kreter, der sagt, dass alle Kreter lügen

3) Kann uns die poetische Darstellung von etwas, die zugleich ein anfängliches Bestimmen ist, eine Erfahrung zukommen lassen, die die Frage beantwortet, ob das Dargestellte auch wirklich existiert, das heisst: nicht nur als Darstellung oder Vorstellung?

4) Wenn man die Musen anders definiert, etwa als das numinose Einfallsvermittlung oder als geistiger Akt oder als das Vermögen der Artikulation oder auch als Element einer unbewussten Ordnung, - wenn man also einen anderen Begriff der Musen verfolgt als jenen durch die Mythologie des antiken Griechenland vorgegebenen, dann kann man - hier und heute - selbstverständlich auch zu anderen Annahmen hinsichtlich ihrer Existenz oder Nicht-Existenz gelangen.

5) Ein zumeist triviales Beispiel dafür ist der Glaube (angenommen, es handelt sich tatsächlich um einen Glauben und nicht doch nur ein figuratives Rede-Spiel mit dem Feuer) mancher Schriftsteller, die behaupten, dass ihre Romanfiguren unter der Hand eigenmächtige Wirklichkeit entfalten. Manche Schrifsteller scheinen sich für nahe Verwandte Frankensteins oder Rabbi Löws zu halten. Oder ist es die Sehnsucht nach der Vereinigung von Macht und Liebe, die sie zu ihrer Schöpfer-Phantasie anstiftet? Man denke an den Pygmalion-Mythos, da die Schöpfermacht und die Liebe des Bildhauers seine Figur zum Leben erweckt.

6) Vielleicht verhält es sich hier so ähnlich wie Jorge Luis Borges Erzählung Pierre Menard, Autor des Quichotte darlegt: Nicht nur ein literarisches Werk, mag es auch nach Jahrhunderten buchstäblich wiederholt werden, verändert und verwandelt sich - auch der ontologische Status einiger Dinge ist Wandlungen und Wendungen unterworfen. Überall Metamorphosen. 7) Doch ist unabhängig von einer sowohl bestimmten als auch bestimmenden Poesie ein für alle Male ausgemacht, worin hier der Trug und worin sein Gegenteil, das Wirkliche, liegt?

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