Poesie, Propositionen und nicht-propositionale Erfahrung


© Franz Josef Czernin

Vorab eine kurze Bemerkung zum theoretischen Ort meines Vortrags im realen Ort des Wittgensteinhauses 21.4.2006.

Ich werde ein paar Gedanken zu unserem Umgang mit literarischen Texten formulieren, wenn wir ihnen Bedeutung zuschreiben, also Semantik erfahren.
Im Zusammenhang damit werde ich davon sprechen, dass wir auch nicht-semantische Erfahrungen machen.

Dabei interessiert mich weder:
Welche Erklärungen es dafür geben mag, wie Bedeutung in einem Deutenden, sagen wir, in seinem Geist oder seinem Gehirn, zustandekommt, was also Bedeutung psychologisch oder kognitionstheoretisch sein mag. Ich werde deshalb nicht versuchen, so etwas wie die Bedeutungserfahrung zu erklären.
Und ebensowenig interessiert mich in diesem Zusammenhang, jene nicht-semantischen Erfahrungen psychologisch oder kognitionstheoretisch zu erklären.
Warum interessiert mich das hier nicht? Weil ich glaube: dass literarische Erkenntnis eine eigenständige oder eigenartige und zugleich gültige Form von Erkenntnis ist, die wissenschaftlicher Erkenntnis um nichts nachsteht. (Gründe für meine Annahme kann ich hier nicht geben; aber einige Wege zu möglichen Gründen werden vielleicht im Zuge des Vortrags erahnbar.)
Ich behaupte deshalb: man verhält sich literarischen Äusserungen gegenüber dann angemessen, wenn man sich analog wie ein Physiker oder ein Historiker verhält, die sich nicht dafür interessieren müssen, welche mentalen oder auch Gehirnaktivitäten involviert sind, wenn sie eine physikalische bzw. eine historische Theorie aufstellen oder verstehen.

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In seinem Aufsatz "the coded message model of literature", wendet sich Severin Schroeder gegen die Auffassung Juri M. Lotmans (und wohl mancher anderer "Strukturalisten"), dass die formalen Merkmale eines poetischen Textes (wie Grammatik, Laut- bzw. Buchstabenfolgen, Rhythmus usw.) immer "semantisiert" werden. Dagegen also, dass alle formalen Merkmale eines literarischen Textes etwas bedeuten. Diese Kritik halte ich für berechtigt: Denn zweifellos werden zum einen in vielen, vielleicht in allen poetischen Texten nur einige formale Merkmale "semantisiert"-, und zum anderen gibt es vielleicht sogar literarische Texte, in denen überhaupt keine formalen Merkmale "semantisiert" werden.

Aber Schroeder behauptet noch etwas Stärkeres: dass das, was von Strukturalisten Semantisierung genannt wird, nur das Echo dessen ist, was die Texte expressis verbis bzw. durch ihre sprachliche Bedeutung mitteilen. Schroeder spricht in diesem Zusammenhang von der strukturalistischen Obsession, Bedeutung aus der Struktur abzuleiten, und versucht, den Fehler, der seines Erachtens dieser Obsession zugrunde liegt, durch folgendes Zitat aus Wittgensteins Braunem Buch zu erhellen:
Ein Freund und ich sahen uns einmal Beete mit Stiefmütterchen an. Jedes Beet zeigte eine andere Art. Sie haben uns alle nacheinander beeindruckt (...) Ich hätte den Ausdruck gebrauchen können: ´Jedes dieser Farbmuster hat Bedeutung`; aber ich habe nicht gesagt ´hat Bedeutung`, denn das hätte die Frage ´Welche Bedeutung?` provoziert, die in dem Fall, den wir betrachten, sinnlos ist. Wir unterscheiden zwischen bedeutungslosen Mustern und Mustern, die Bedeutung haben; aber in unserem Spiel gibt es keinen solchen Ausdruck wie ´Dieses Muster hat die Bedeutung so-und-so. (Das Braune Buch 158, 161).

Schroeder kommentiert: Wittgenstein calls this an intransitive use of the word ´meaning`, as opposed to its usual transitive use where one can answer the question what the meaning in question is. (transitive use: x bedeutet y; intransitiv: x ist bedeutsam. So wie man sagen kann: das Leben hat Sinn; ohne anzunehmen, das Leben selbst sei ein Zeichen, das sich auf einen Gegenstand bezieht.)

Schroeder zitiert eine weitere Passage aus dem Braunen Buch, in der sich Wittgenstein über seiner (Schroeders) Ansicht nach illusionäre Bedeutungserfahrungen und die daraus resultierende Verwechslung von intransitivem und transitivem Gebrauch des Wortes Bedeutung äussert:
Dieselbe sonderbare Illusion, der wir verfallen sind, wenn wir etwas zu suchen scheinen, das von einem Gesicht ausgedrückt wird, während wir uns doch in Wirklichkeit den Merkmalen vor uns ausliefern - dieselbe Illusion beherrscht uns sogar noch stärker, wenn wir uns eine Melodie wiederholen und sie ihren vollen Eindruck auf uns machen lassen und dabei sagen: "Diese Melodie sagt etwas", und es ist, als ob wir finden müssten, was sie sagt. Und doch weiss ich, dass sie nichts sagt, was ich in Worten und Bildern ausdrücken könnte.(Das Braune Buch, Seite 256)

Bei Schroeder endet das Zitat mit: und doch weiss ich, dass sie (die Melodie) nichts sagt; er lässt den letzten Teilsatz was ich in Worten und Bildern ausdrücken könnte weg. Auf diese Weise nimmt er den Gedanken Wittgensteins eine seltsame Ambivalenz. Denn da Wittgenstein hier schreibt, dass die Melodie nichts sagt, was ich in Worten oder Bildern ausdrücken könnte, könnte es sein, dass er nicht ausschliesst, die Melodie bedeute etwas im transitiven Sinn des Wortes, wenn auch nichts in Worten oder Bildern Ausdrückbares. (Auch die folgenden Passagen im Braunen Buch sind diesbezüglich für einige Deutungen offen. Aber hier ist nicht der Ort für eine entsprechende Wittgenstein-Exegese.)

Wenn jedoch Schroeders Zitat-Abkürzung zu Recht erfolgt, dann will Wittgenstein hier tatsächlich sagen, dass die Melodie nicht etwas bedeutet. Dieser Interpretation zufolge würde der transititve Gebrauch des Wortes "Bedeutung" im Fall von musikalischen Zeichen und wohl auch im Fall von bildnerischen Zeichen immer auf einem Fehler oder gar auf einer Illusion beruhen..

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Ich will hier nicht diskutieren, ob das zitierte Stiefmütterchenbeet-Beispiel nicht in einer erklärungsbedürftigen Beziehung zu dem Melodie-Beispiel steht, wird doch bei Wittgenstein nicht - jedenfalls nicht explizit - angenommen, dass jene Stiefmütterchen-Beete bzw. die Abfolge ihrer Farben als Zeichen, insbesonders als ästhetisches Zeichen, intendiert sind oder aufgefasst werden. Erst dann nämlich wäre dieser Fall ohne weiteres mit jenem der Melodie zu vergleichen. Hier sei nur festgehalten, dass Schroeder (und vielleicht tatsächlich im Sinne Wittgensteins) die Versuche strukturalistischer Poetologie und interpretatorischer Praxis in Analogie zu jenen Wittgensteinischen Beispielen als Symptom der Verwechslung des transitiven mit dem intransitiven Gebrauch des Wortes "Bedeutung" sieht; eine Verwechslung, die nach Schroeder wiederum die Illusion nach sich zieht, dass sprachliche Merkmale wie Laut- oder Buchstabenstrukturen eigenständige Bedeutungen annehmen; Bedeutungen nämlich, die eben nicht nur, wie Schroeder schreibt (denn so viel konzediert er), manchmal das Echo des Wortsinns des Textes sind:
The most that comes to light is the occasional parallelism between phonetic and (broadly) semantic similarities, but this phenomenon is itself only intransitivly Meaningful. It can reinforce the appearance of necessity with which one line follows another, but it does not say anything.

Bestreitet Schroeder nun auch Transivität und Eigenständigkeit der Bedeutung sprachlicher Merkmale wie Laut- oder Buchstabenstrukturen, so konzediert er doch so etwas wie nicht-transitive ästhetische Bedeutsamkeit formaler Strukturen: Rhyme, for example, is certainly aesthetically Meaningful (1): it is essential to the physiognomy of a poem, and a clear example of one element being prompted by another one.

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Schroeder versucht, seine Kritik durch Beispiele strukturalistischer Interpretation zu erhärten, (etwa durch Roman Jakobsons Analyse von Edgar Allen Poes Gedicht "The Raven", die ich hier nicht wiedergeben kann), und er gibt auch ein weiteres, sehr einfaches Beispiel:
Considering someone´s utterance: `The sheep´s in the meadow, the cow´s in the corn´ one can certainly observe that ´sheep` and ´cow` stand in opposition on the grounds that one is the subject of the first clause while the other is the subject of the second. But this is merely a formal feature, and it does not add to the meaning of the utterance..
Ich glaube, selbst dieses so einfache Beispiel zeigt, dass Schroeder nicht recht hat. Es sei das folgende Gedicht gegeben:

the sheep is
in the meadow,
the cow is
in the corn.

Gerade weil sowohl sheep und cow als auch meadow und corn jeweils dieselbe grammatikalische Funktion haben und genau die analogen Stellen in ihren Sätzen einnehmen, aber auch deshalb, weil corn und cowalliterieren, wird der Gegensatz zwischen sheep und cow stark betont. (Soweit würde Schroeder zustimmen.)
Man könnte deshalb interpretieren, dass das Gedicht - zusätzlich zu dem, was es expressis verbis sagt - noch das Folgende unausdrücklich zu verstehen gibt:

Das Schaf hält sich in der Wiesenwelt auf, die Kuh in einer Kornwelt, und diese Welten sind getrennt.

Ich gebe aber zu:
Diese Deutung mag wirklich etwas überzogen sein. Aber wenn ein Gedicht so kurz und lapidar ist bzw. aus zwei Kindersätzen besteht, dann liegt es wohl auch an der Tradition des Gedichtes, auf die starke, laut- und grammatikalisch unterstützte Trennung der beiden Bereiche meadow/corn zu achten bzw. auf die starke Verbindung von sheep und meadow und cow und corn. Und mögliche Gedanken vorzuschlagen, die damit zu verstehen gegeben werden.

Vielleicht wäre eine analoge Deutung für dieses Gedicht - man entschuldige bitte die armselige Inspiration - überzeugender?:

naturgedicht

das wiesel ist
in der wiese,
die kuh ist
in der kuhle,
das reh, das bleibt
im regen stehn.

Ob man da nicht mit Recht interpretieren könnte: Es werde zu verstehen gegeben, dass das Wiesel in der Wiese am richtigen Platz ist, die Kuh aber in der Kuhle, und das Reh im Regen? So würde, im Widerspruch zu Schröders Behauptung, durchaus etwas Zusätzliches durch die Form zu verstehen gegeben.

Wenn auch (und das mögen die Strukturalisten nicht genau genug gesehen haben)
a) durch eine Anspielung, jedoch nicht unmittelbar aufgrund einer Bedeutung der Buchstaben oder Laute. (Nicht also etwa, weil der Buchstabe K in Kuh/Kuhle selbst "semantisiert" würde.)
b) in engem Zusammenhang damit, was der Text expressis verbis, also aufgrund seiner Wortbedeutungen aussagt.

Natürlich kann man auch hier einwenden, dass diese Interpretation des Gedichtes sehr spekulativ ist. Aber darauf kommt es für mein Argument nicht an; entscheidend ist, dass ein Gedicht wie dieses prinzipiell auf diese Weise interpretiert werden will. In seiner Kürze und (wenn auch etwas lächerlichen) Rätselhaftigkeit erfordert es diese Art von Interpretation. Und dieses Gedicht ist dabei kein Sonderfall; viele Gedichte, insbesonders Gedichte des 20. Jahrhunderts, verlangen genau in diesem Sinn Interpretation. Sie geben vieles, vielleicht das Meiste unausdrücklich. (Warum sie das tun, ist eine andere Frage; sie zu beantworten, hiesse zu versuchen, die spezifische Form poetischer Erkenntnis zu charakterisieren.)

Im Widerspruch zu Schroeders und vielleicht auch zu Wittgensteins Annahme kann also durch die Form eines literarischen Textes noch Zusätzliches mitgeteilt werden. Die Möglichkeit dazu wird nicht zuletzt dadurch geboten, dass literarische Texte (in geringerem oder grösserem Ausmaß) durch auffällige (statistisch nicht erwartbare) Häufungen von Gemeinsamkeiten oder Unterschieden ihrer formalen Aspekte (wie Grammatik, Laute bzw. Buchstaben, Rhythmus usw.) gute Gründe für die entsprechenden Interpretation liefern.

2


Im zweiten Teil meines Vortrags will ich aus auf der Grundlage der skizzierten Kritik an Schroeders anti-strukturalistischer Konzeption bestimmte allgemeine Unterscheidungen treffen und Schlüsse für den Umgang mit literarischen Texten ziehen.

Robert Musil schreibt:

Indem die Dichtung Erlebnis vermittelt, vermittelt sie Erkenntnis; diese Erkenntnis ist zwar durchaus nicht die rationale der Wahrheit (wenn sie auch mit ihr vermengt ist), aber beide sind das Ergebnis gleichgerichteter Vorgänge, da es ja auch nicht eine rationale Welt und ausser ihr eine irrationale, sondern nur eine Welt gibt, die beides enthält. (1) Und er erläutert, was er meint, am Beispiel eines Verses:
Lichtlein schwimmen auf dem Strome/ Kinder singen auf der Brücken (2)

Diese Verse Goethes (Die Anfangsverse des Gedichtes: St. Nepomuks Vorabend) kommentiert Musil so:
Unschwer ist ferner zu bemerken, dass der `Gegenstand des Gedichtes´ nicht der Sachverhalt ist; die Tatsache, dass Lichtlein auf dem Strom schwimmen usw. (...) dass die Einheit und Form, die sich da wie mit einem Schlag an der Stelle des diffusen Vozustands hervorwölbt, nicht so sehr ein sinnliches Erlebnis sind wie eine der Logik entzogene Veränderung des Sinns. Und wozu stünden denn auch Worte da, wenn nicht um einen Sinn auszudrücken (2)

Was immer für Musil selbst jener Sinn sein mag, der der Logik entzogen sei, im Zusammenhang mit meiner Kritik an Schroeders Konzeption deute ich seinen Kommentar durch die folgenden Festlegungen:
Gedichte bedeuten nicht nur etwas, weil bestimmte ihrer Komponenten (wie Namen und Prädikate) etwas bedeuten, sondern auch weil sie eine bestimmte Form haben.
Was ich hier unter Form verstehe, ist schon angeklungen, ich will es hier noch einmal explizit festhalten: Alle jene Merkmale und Beziehungen einer literarischen Äusserung, für die gilt: durch ihren Besitz kann etwas zu erfahren gegeben oder etwas zu verstehen gegeben werden.

So kann durch den Besitz von sinnlich wahrnehmbaren Merkmalen oder Beziehungen (wie Buchstaben- bzw. Lautfolgen, Silben, Rhythmen, Pausen bzw. Leerstellen) ebenso wie von grammatikalischen Merkmalen oder Beziehungen (wie Wörter, Wortarten, Syntagmen, Sätze, Satzzeichen) und von semantischen Merkmalen oder Beziehungen (wie Synyonmie, Antonymie, Hypernomie usw.) etwas zu erfahren gegeben oder zu verstehen gegeben werden.
a) Wird durch die Form einer sprachlichen Äusserung etwas zu erfahren gegeben:
Genau dann wird etwas Nicht-Propositionales, werden zum Beispiel Gefühle oder Empfindungen ausgelöst; b) Wird durch die Form etwas zu verstehen gegeben: Genau dann wird eine Proposition erfasst, die unausdrücklich gegeben ist. (Eben dann wird "semantisiert".)
Was unter einer Proposition zu verstehen sei, darüber haben sich viele Philosophen den Kopf zerbrochen. Für meine Zwecke hier reicht es, darunter einen Gedanken also etwas Nicht-Sprachliches zu verstehen, das entweder wahr oder falsch ist, also den Träger der sogenannten Wahrheitswerte.

Ein Gedanke in dem hier gemeinten Sinn kann so zu verstehen gegeben werden, dass er durch einen Satz ausgedrückt wird. So drückt der Satz "ich halte heute im Wittgensteinhaus einen Vortrag" die Proposition aus, dass ich heute einen Vortrag im Wittgensteinhaus halte.(1) Ein Gedanke kann aber auch durch eine sprachliche Äusserung zu verstehen gegeben werden, ohne ausgedrückt zu werden. Eben das war - bei meiner Interpretation - in den obigen Gedichtbeispielen der Fall: So habe ich das Gedicht:

the sheep
is in the meadow,
the cow
is in the corn

so interpretiert, dass deshalb, weil sowohl sheep und cow als auch meadow und corn jeweils dieselbe grammatikalische Funktion und die analoge Stelle in den beiden Sätzen haben, aber auch deshalb, weil corn und cow alliterieren, zusätzlich zu dem, was das Gedicht expressis verbis sagt, noch der folgende Gedanke unausdrücklich zu verstehen gegeben wird:
a) Das Schaf lebt in der Wiesenwelt, und die Kuh lebt in einer Kornwelt, und diese Welten sind getrennt.

Allerdings - und vielleicht empfindet man das auch bei dieser etwas vorlauten und stark spekulativen Interpretation -: Wenn etwas unausdrücklich gegeben ist, dann kann man nicht sicher sein, ob es zu erfahren oder ob es zu verstehen gegeben wird; also kann man nicht sicher sein, ob das, was man da erfasst, ein Gedanke ist, oder ob es etwas Nicht-Propositionales, etwa ein Gefühl, oder eine Vorstellung ist. Um das, was als unausdrücklich gegeben ist, zu klassifizieren, ist Interpretation notwendig.
Es gibt hier, und ich glaube, es ist wichtig, sich das klarzumachen, gerade im Fall von literarischen Texten, durch die etwas unausdrücklich gegeben ist, einen mehrstufigen Interpretationsvorgang:
Einmal ist Interpretation involviert, um das unausdrücklich Gegebene als Gedanken - also als etwas zu verstehen Gegebenes - oder als nicht-propositional - also als etwas zu erfahren Gegebens - zu klassifizieren. Und dann ist noch einmal Interpretation notwendig, um das, was man als Proposition oder "Gedanken" erfasst hat, sprachlich auszudrücken. Es steht eben in der Poesie sehr vieles zwischen den Zeilen, und sehr vieles kann man nicht gut als Propositionales erfassen, und selbst wenn man es als Propositionales erfasst, muss man es noch nicht adäquat in einem Satz ausdrücken können. Eben deshalb enthält eine explizite Interpretation eines unausdrücklich zu erfahren oder zu verstehen Gegebenen häufig einen krassen Verlust oder eine krasse Entstellung. Der Weg zur Bestimmung dessen, was da zu erfahren oder zu verstehen gegeben wird, ist also häufig sehr weit. Doch diesen weiten Weg zurückzulegen, gehört, wie ich glaube, zur Erfahrung von Literatur und zu der Art von Erkenntnis, zu der sie führen kann.

Es ist eben auch bei Versen und nicht nur bei Melodien in vielen, wenn auch keineswegs in allen Fällen, so, wie Wittgenstein sagt: "Diese Melodie sagt etwas", und es ist, als ob wir finden müssten, was sie sagt. Und doch weiss ich, dass sie nichts sagt, was ich in Worten und Bildern ausdrücken könnte". (Das Braune Buch, Seite 256)

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Das, was durch die Form von literarischen Äusserungen unausdrücklich zu erfahren oder zu verstehen gegeben wird, kann nur durch stark spekulative Interpretation - also mit dem hohen Risiko eines Verlustes oder einer Entstellung - sprachlich ausgedrückt werden. Deshalb aber eine solche Interpretation samt ihrem Anlass - dem, was hier Semantisierung der Form genannt wurde - wie Schroeder zu leugnen, scheint mir doch stark überzogen.

Und warum geben literarische Äusserungen häufig durch ihre Form, also durch den Besitz von Merkmalen etwas zu verstehen? Warum riskieren sie ihre - wenigstens partielle - Nicht-Ausdrückbarkeit - Um das, was sie zu verstehen geben, in ein interpretationsrelevantes Zusammenspiel mit dem zu bringen, was sie zu erfahren geben. Eben um jenes Zusammenhangs oder Zusammenspiels von Erlebnis und Erkennntis willen also, von dem Musil in dem Zitat oben spricht.

Wenn etwa in einem Gedicht die einander anagrammatischen Wörter blau und laub vorkommen, dann könnte - wenn der Kontext danach ist - dadurch der Gedanke zu verstehen gegeben werden, dass (für jemanden oder etwas) Himmelsblau und Laub ineinander übergehen; durch etwas sinnlich Wahrnehmbares - die Wörter blau und laub bestehen aus denselben Buchstaben - wird aber auch etwas zu erfahren gegeben, das der Erfahrung des ineinander Übergehens von Laub und Himmelsblau entspricht. (Über diese Entsprechung, ein sehr vages Wort, könnte man vieles sagen; hier ist aber nicht der Ort dafür.)

Oder: wenn in einem literarischen Text, über die statistische Erwartung hinaus, Substantiva, jedoch unter der statistischen Erwartung Verben vorkommen, dann können - wenn der Kontext danach ist - im Auffassen dieser grammatikalischen Merkmale eher Ansammlungen von stabilen Gegenständen als eine Reihe von Vorgängen oder Ereignissen erfahren werden. Und eben der entsprechende Gedanke, dass (für jemanden oder etwas) die Welt eher aus stabilen Gegenständen als aus Vorgängen oder Ereignissen besteht, mag durch diese statistisch unerwarteten Merkmale des Textes auch zu verstehen gegeben werden. Ist hier also nicht die Art von Zusammenspiel gegeben, die auch Schroeder meint, wenn er schreibt: The most that comes to light is the occasional parallelism between phonetic and (broadly) semantic similarities, but this phenomenon is itself only intransitivly Meaningful. It can reinforce the appearance of necessity with which one line follows another, but it does not say anything.

Nein, denn Schroeders Bild des Zusammenspiels von Form und Sinn beschränkt sich auf den Fall, in dem das, was zu erfahren gegeben wird, auch sprachlich ausgedrückt wird. In meinem eben gegebenen Beispiel aber könnte das, was zu verstehen gegeben wird, zwar durch die Form auch zu erfahren gegeben, jedoch muss es nicht durch den sprachlichen Sinn der Äusserung ausgedrückt werden. Lautete der Vers etwa: all das laub ist so blau, dann würde dieser Satz nicht das ausdrücklich zu verstehen geben, was er unausdrücklich zu verstehen gibt - nämlich dass das Blau des Laubs in das Himmelblau übergeht -, und was er durch die Form zu erfahren gibt.

Zudem (und vielleicht ist das sogar der literarisch interessantere Fall, den Schroeder nicht berücksichtigt) ist das Zusammenspiel zwischen dem, was durch die Form einer Äusserung zu erfahren gegeben wird, und dem, was ausdrücklich oder unausdrücklich zu verstehen gegeben wird, häufig nicht eines von Ähnlichkeiten oder Entsprechungen, sondern eines von Gegensätzen: Wenn jemand zu verstehen gibt, er sehe die Welt dynamisch, als Reihe von Vorgängen oder Ereignissen, sich dabei jedoch auf grammatikalisch oder auch semantisch statische Weise ausdrückt, dann kontrastiert das, was zu erfahren und das, was zu verstehen gegeben wird, auf wiederum interpretationsrelevante Weise. Manchmal wird also in literarischen Texten gerade das zu erfahren gegeben, dessen Gegenteil zu verstehen geben wird.

Musils rhetorische Frage: Und wozu stünden denn auch Worte da, wenn nicht um einen Sinn auszudrücken, könnte man also so paraphrasieren: Und wozu hat eine literarische Äusserung eine Form, wenn nicht, um etwas so erfahren zu lassen, dass es es mit dem zusammenspielt, was es zu verstehen gibt? (Stil ist nichts Äusserliches. Anders, vielleicht, als in einer Wissenschaft)

Ich habe es schon erwähnt: es ist nun nicht so, dass alle formalen Merkmale, die ein literarischer Text besitzt, etwas zu verstehen geben, im Gegenteil: es ist plausibel (mit Schroeder) anzunehmen, dass die meisten formalen Merkmale nichts zu verstehen gegeben, ja, vielleicht wird durch sie nicht einmal etwas Bestimmtes ausgelöst: sie geben dann auch nichts Bestimmtes zu erfahren. In den beiden zitierten Versen aus Goethes Gedicht -
Lichtlein schwimmen auf dem Strome/ Kinder singen auf der Brücken - beispielsweise wird wohl durch die Buchstabenfolge ch in Lichtlein weder etwas zu verstehen gegeben, noch eine für das Gedicht relevante Erfahrung ausgelöst:
Aber vielleicht sollte man hier vorsichtig sein; vielleicht entspricht es dem angemessenen Umgang mit der Poesie eher, diesbezüglich keine Entscheidung zu treffen; sich damit zu bescheiden, es auch dann für möglich zu halten, dass jedes Jota in einer literarischen Äusserung eine für das Gedicht relevante Erfahrung auslösen oder etwas zu verstehen geben soll, wenn man es, was immer es ist, selbst weder erfährt noch versteht.

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