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Ich bin sechzig.


© by Helmut Eisendle

Ein Tatsachenbericht

Und ?
Tatsache, ein Wort, das alles und nichts bedeutet: Handeln, Veränderung, Selbst, Ich. Hoppla.
Die Tatsache ist ein Begriff, über den sich am schwersten etwas sagen läßt, ist er doch alles und nichts zugleich. Vor allem die Tatsache des Alters.
Was, wie, wann, wo, warum ?
Was waren die Taten ?
Was war Sache ?
Ich bin sechzig. Tatsächlich. Wovon rede ich ?
Es geht dabei doch für mich um`s Ich, um`s Handeln und Literatur. In dreissig Jahren. Ein tatsächlich eigenartiges Leben entfernt sich von den allgemeinen Verhältnissen im gleichen Maße wie die an Magersucht Erkrankte, sich der nor-malen Ernährung widersetzt, doch aber nur im Zusammenhang mit ihr ihre Be-deutung und ihr Leiden erhält.
Tatsächlich ist mein Ich ein Sammelsurium von Eigenschaften, die sich im Handeln, in einer Tat - dem Schreiben - festlegen lassen. Ich habe mir die Macht angeeignet, Erfahrungen umzuformen und sie einer Subjektivität unterzuordnen. Als eigene Tatsachen.. Aber was ist denn dabei tatsächlich? Das Denken darüber ?Das Spezielle der menschlichen Eigenart folgt einer Methode, die sich in ihrer unerbittlichen Neugierde, um nichts tatsächlich kümmert, nichts tatsächlich erfahren will, aber alles in Form sozialer Reize tatsächlich zu Wege bringt. Ich habe sechzig Jahre zu Wege gebracht.Tatsächlich etwas zu machen, ist der gewollte oder ungewollte Versuch, außer-gewöhnlich zu sein. Nicht das Außergewöhnliche im Sinne einer Anstrengung ist damit gemeint, sondern irgendetwas, das plötzlich auf der Welt ist und vorher nicht da war; Literatur, zwei Söhne von wunderbaren Frauen.
Ich ist ein Anderer.
Eine Tatsache ? Man hat oft behauptet, daß der Dilettant mehr fühle als der Kenner. Nicht das mehr Können, sondern auch das Mehr in Gefühlen ist tatsächlich entscheidend. Der, dem etwas tatsächlich gelingt, empfindet sein Wesen in dem, was Immanuel Kant einmal als uninteressiertes Wohlgefallen bezeichnet hat. Was hier allerdings wohlgefällt, war in mir, einem, der tatsächlich 60 Jahre alt ist, schon vorhanden und nicht nachdem ich sechzig geworden bin. Wenn es nicht so wäre, erhielte das bedeutungslose Alter von Sechzig Bedeutung oder das für mich bedeutende Leben von sechzig Jahren Bedeutungs-losigkeit.
Ich werde am 12. Jänner 60. Morgen. Jack London wurde ebenfalls am 12. Jänner immer älter. Er hat 40 Jahre geschafft.
Ein älterer Mensch wie ich muß früher oder später darauf Bedacht nehmen, daß er vom Vergangenen lebt. Was aber würde mir über bleiben, wenn ich keine Erinnerung hätte ? Ich müßte mir in irgendeiner Weise ein anderes Feld ähnlicher Betätigung suchen, ja, am Ende etwas Neues um jeden Preis auftreiben, sei es, wo es sei und auch wo es gar nicht vorhanden ist. Literatur. Aus dem Leben gegriffen. Oder erfunden. Oder erlogen.
Das Leben der Schriftsteller oder Künstler. Nach dem Tod, der meistens elend war, werden sie emporgehoben und als Denkmal vergoldet. Keiner denkt daran, daß sie dem Geld nachgelaufen sind, daß sie ihre Miete nicht zahlen konnten, daß sie oft das Elend erdrückt hat und daß sie keine Spur von Erfolg hatten. Das einzige, was sie neben ihren Werken geboten haben, war ihr früher und erbärmlicher Tod. Ihr Leben haben sie hinter sich gebracht und übrig geblieben sind ein paar Sätze, ein paar Gedanken, ein paar Bilder, Melodien, ein paar Statuen, ein paar Anekdoten, verlogene Eigenarten und Wehrhaftigkeiten den bösen Mächtigen gegenüber.
Die durch Fragen ausgelöste Erinnerung arrangiert sich leicht, allzu leicht und gerne mit der Erfindung nie stattgefundener Absonderlichkeiten, mit Reisen durch wundersame Länder, mit Liebesaffairen, Mesalliancen, mit Liaisonen und Laisionen, mit Erfindungen, die sich als Anekdoten gebärden, Dinge, die das Leben den Zuhörern wunderbar erscheinen lassen.
Ja, es war mitten in der Nacht. Ich fuhr einfach los und in der Früh war ich in Venedig. Ich ging in eines der wunderbaren Cafés und dann kam sie. Ich habe kein Wort gesagt. Sie setzte sich zu mir und begann zu reden, als hätte sie mir, nur mir, etwas zu erzählen. Ja, getrunken haben wir auch. Einen Campari nach dem anderen. Es war ein wunderbarer Tag. Wir aßen wie die Götter, lagen am Strand, liebten uns, schlenderten von einer Bar in die nächste, nahmen uns ein Zimmer am canale grande. Es war unglaublich.
Nein, ich habe sie nie mehr gesehen.
Ich glaube, sie hat Mariella geheißen. Oder Marietta. Ich weiß es nicht mehr.
Wann das war ?
Ach, das ist lange her. Ich war noch jung.
Das gibt es heute nicht mehr. Die Frauen sind heute ganz anders.
Nein, ich bin zu alt. Was soll es denn ? In meinem Alter ?
Ein Mensch, der einiges, aber nicht allzu viel erlebt hat und plötzlich, kraft seiner Jahre, kraft seines Alters, das nie und nimmer die Ablösung der längst verschwundenen Jugend ist, sondern das Abflauen der Neugierde darstellt, die sich zwischen dem Leben und dem Ich befindet, ist und bleibt ein Strafgefangener seiner selbst, ein entsprungener Häftling seiner Träume und seiner vergessenen und verdrängten Vergangenheit. Das Ich und das Leben bringe ich erst im Alter auf einen Nenner.
Ja, ich lebe in dieser Welt. Mein Ich lebt hier.
Und ich lüge mir gerne etwas vor ? Warum auch nicht ?
Das Alter rechtfertigt und rettet alles zugunsten einer Bedeutung mit der Patina der Erinnerung.
So macht jeder, ist er nur alt genug, aus seinem Leben eine Reise durch ein Wunderland, mit einer Serie von nie stattgefundenen, doch aber herrlichen und unwiederholbaren Abenteuern, ein Leben eben.
In einem Plauderton wird dem Leben ein wenig Farbe gegeben.
Die Frage: war es wirklich so ? wird mit einem Lächeln beantwortet.
Ich erinnere mich. Mit viel Vergnügen. Besser wäre, wenn ich alles noch einmal sehen könnte. Graz, Barcelona. Berlin, Triest, Amsterdam. Das ist eine Tatsache.
Ist Erinnerung das, was die Engländer splendid isolation, eine herrliche Trennung von der Wirklichkeit nennen ?
Wenn ich mich, indem mein Ich anders denkt als ich bin, nicht denken kann, daß ich anders bin als ich denke, so ist das Ich nicht das, was ich anders denken kann als ich bin.
Daß ich überhaupt bin, finde ich als nackte Tatsache vor. Daß ich diese Wirklichkeit, daß ich überhaupt bin, vorfinde, heißt sicher nicht, daß ich nicht oder nichts sein könnte ? Ich bin tatsächlich überrascht, daß ich überhaupt bin und nicht nicht. Bei genauer Überlegung könnten mir Zweifel kommen, ob die Gedanken, daß nichts ist oder das beschriebene Ich nicht ist, denkbar sind. Denn welche Phantasie könnte dem zugrunde liegen ? Nur der Zweifel, daß es dieses, mein Ich gibt ? Ich kann den Gedanken, daß es dieses fremde oder vertraute Ich nicht geben könnte, nur denken, wenn ich denken kann, daß das, was ist, mein Ich, aus dem Nichts entstanden ist. Aber wie kann etwas aus dem Nichts entstehen ? Aus nichts kann nichts werden. Wenn mein Ich irgendwo hergekommen ist, wohin verschwindet es tatsächlich ?
In den tiefen Sumpf der, na, na, na, was denn ?
In den tiefen Sumpf des Phantasierens ?
Nein.

Obwohl ich gerne lebe, muß ich die reine Lebenslust tatsächlich für naiv halten. Ein wesentliches Element der tatsächlichen Lust, etwas zu tun, also zu schreiben, befriedigt tatsächlich einen Originalitätswahn und den Glauben an die Individualität.
Tatsächlich zu schreiben, ist der anarchische Versuch ohne System das Normale zu umgehen. Es heißt, so betrachtet, das Bedeutungslose bedeutend zu machen, um als Bedeuter Bedeutung zu gewinnen, andererseits das Bedeutende ins Lächerliche zu zerren, um sich als Unbedeutender Bedeutung zu geben. Das Wechselspiel zwischen Tat und Sache.
Was ist Sache ?
Man setzt Taten in Buchstaben, Worte und Sätze um.
Mein Urgroßvater, Dichter, hat gesagt: Worte ohne Taten, sind wie Zinnsoldaten.
Tatsächlich etwas zu schreiben, ist, intellektualistisch gesehen, einer kulturellen Dialektik unterworfen, einer fröhlichen Anarchie oder Patapsyche der Kultur, ohne Bedeutung, die etwas ins Blickfeld nimmt, was sich längst im Inneren gebärdet hat. Gerade von dieser Betrachtung her ist Schreiben tatsächlich ein Spiel innerhalb der Gesellschaft, das kein Ziel, sondern nur verspielte ichbezogenen Effekte im Sinne hat. Der Dandyismus beispielsweise: der Dandy alten Stils - definiert in der Lektüre und dem Besitz des Buches das Bildnis des Dorian Gray von Oscar Wilde, der seine Absicht als Dandy bekundete, er wolle seinem Blauweiß-Porzellan gemäß leben. Er hatte Stil. Der neue Dandy macht das Gegenteil zu seinem Spiel; Er würde die Absicht vertreten, daß man nach der Zerstörbarkeit von Wegwerftellern zu leben habe. Oder so wie der Cowboy, wenn er sagt. Oh, it´s a feh. Tatsächlich.Die Tatsache von sechzig Jahren schwebt im Raum und wird von ihnen belächelt. Obwohl es traurig ist, den es betrifft mich und ich weiß tatsächlich nicht, was hier lächerlich ist. Was ein bewegtes Leben tatsächlich ist, hängt von vielem ab. Nicht von dem, was irgend etwas ist oder was man gerade geschrieben hat. Mein bewegtes Leben ist eine Tatsache.
Tatsachen sind tatsächlich und alles andere nicht. Eben nicht untätig oder tatenlos, also etwas Totes, sondern eine Bewegung, motion, emotion. Tatsächlich.Lauf schnell, Genosse, die alte Welt ist hinter dir her, sagten die Situationisten.Das ist eine Aufforderung; nicht zu laufen, sondern zu denken.
Ich mache mir, wie es so meine Natur ist, über alles allerlei Gedanken. Tatsächliche.
Noch lebe ich lebe in einer Stadt, Wien:
Und die Tatsachen, welche hier entstehen und entstanden sind, ergeben einen Zustand, durch den ich die Möglichkeiten zu reagieren, aufrecht erhalte.
Tatsächlich. In meinem Denken oder Bewußtsein hat sich gleichermaßen das unbelebte und belebte Universum einer Stadt eingeschlichen, setzt sich dort fest und floriert wie eine Alge.
Die Stadt pulsiert, sprießt und wuchert und mein Gehirn und Bewußtsein darüber abstrahiert, faßt zusammen, erledigt, ist in seiner Art in eigenen Form tatsächlich grenzenlos, weiß oft nicht, ob es von sich aus entstanden ist oder tatsächlich etwas von der Stadt ist..
Ich denke über mich und die Stadt nach, entdecke sie, gewinne ihr etwas ab, baue meine kleine Welt, die dunkel und unvertraut ist; ich lebe in ihr und warte, was tat-sächlich geschieht. Mit mir.
Der Tag hat sich längst zum Abend gemacht und ich muß etwas finden, um hier zu bestehen, in mir und in dieser Stadt. Wie schon sooft ist mir etwas entglitten, die Menschen, die Dinge wie die Gedanken. Wie schillernde Seifenblasen sind sie geplatzt und ich vermag keinen Bezug mehr herstellen, bin unfähig, etwas zu tun, da ich in jedem Beginn tatsächlich schon ein Ende sehe. Ich finde keinen Halt und stürze von tausend Dingen in einen Abgrund..
So lebe ich hier, bald sehe ich ruhig und gelassen die inneren Bilder, entfernt vom Abgrund, bald spüre ich tatsächlich den ungehemmten Absturz der Gedanken.
In der Dämmerung, die jetzt da ist, spüre ich wie mein Körper und Geist ins Dunkel verschwindet und an seiner Stelle irgend etwas anderes tritt. Die Dämmerung klärt etwas, ist doch die kolportierte Welt tatsächlich verschwunden, damit ich ungestört über etwas Neues nachdenken kann. Und das kann ich eher auf mich beziehen und ich begreife, daß es darauf ankommt mit meiner Gedankenwelt die Nacht zu durchleuchten, bis endlich tatsächlich neue Gedanken entstehen. Tatsachen über mich.
Was aber sechzig Jahre bedeuten, kann ich tatsächlich nur aus meinem Wesen selbst erfahren. Ich bewege mich im Kreis. Der Hausverstand fordert, daß dieser Zirkel, weil er unlogisch ist, vermieden werde. Was Alter ist, kann ich nur durch eine vergleichende Betrachtung der bestehenden Tatsachen begreifen. Schnaufend und keuchend bin ich tatsächlich älter geworden. Das Verstehen von Alter aus tatsächlichen körperlichen Zuständen und das Ableiten des Alters aus Grundsätzen einer Verschleißideologie ist in gleicher Weise unmöglich und wie ich es ausübe, tatsächlich eine Selbsttäuschung. Das hat nichts mit mir zu tun.
Um das Wesen des Alters zu finden, das tatsächlich mein Leben bestimmt, muß ich mich fragen, was das Alter wäre, gäbe es, meine körperlichen Beschwernisse, die natürlichen Aktionen, mein Verhältnis zu den Erinnerungen, zu den Frauen und Kindern, zu den Menschen nicht. Was wäre, wenn es diese Tatsachen nicht gäbe ?
Wenn ich mir selbst nichts vormache, dann zeigt sich: das Alter ist tatsächlich vorhanden, nicht mehr. Ob ich leide oder nicht. Wäre ich nicht so wie ich bin, gäbe es das Alter tatsächlich genau so.
Ist Alter nun eine Eigenschaft ? Möglicherweise sogar eine, meiner Eigenschaften ? Was ist die Welt ohne meine tatsächlichen Gedanken ? Ein natürlicher Aktionsablauf, unter Umständen, wie wir ihn bei den Tieren annehmen, ein Mechanismus, ein Instinkt, eine Funktion der Natur ? Oder ist es tatsächlich das Denken, welches mich erscheinen läßt ?
Zu Silvester war ich am Semmering. Am Stuhleck. Einem Berg. In der Natur. Die Felsen sind Bauwerke, die Latschen und Kiefern knorrige Gewächse, das Pfeifen des Windes Musik, der Schnee gefrorenes Wasser, das Seiende die Natur. Oder der Berg ist ein Trümmerfeld einer unendlichen Geschichte. Die Natur besteht tatsächlich aus diesem Berg mit Felsen und Disteln und Dornen und Latschen und Kiefern und Zirben, pfeifenden Windstößen, der untergehenden Sonne, und kreischenden Vögeln ?
Gewiß. Tatsächlich.
Das Silvesterfest. Wir haben Feuerkörper in den Himmel geschossen. Höher als alle anderen. Die unten im Tal haben es gesehen. Wumm. Wumm. Prost Neujahr. Dies-mal war es besonders schön.
Keinen einzigen Augenblick habe ich mich tatsächlich im Nichts eingerichtet. Etwas gab es tatsächlich und gibt es immer. Jahr für Jahr. Jeden Tag. Immer.Tatsächlich immer schon.
War ich der Männlichkeit und des Imponierens müde, so wußte ich tatsächlich nichts Angenehmeres als mir mit der großen Disziplin des Geistes die Langeweile zu vertreiben. Ich beschwor dann tatsächlich die Wissenschaften, die strenge Grazie der philosophischen Gottheiten, diese herrlichen Mumien oder kleinen Ungetüme in den gläsernen Vitrinen der Zeit. Und doch habe auch ich tatsächlich keine diese Gottheiten entgöttert. Waren sie oder sind sie tatsächlich brauchbare Ratgeber, die mir die kleinen Schrecken des Lebens mindern konnten ? Den meisten Menschen genügt doch tatsächlich das Gewieher des Unverstandes. Philosophie und die Erinnerung sind tatsächlich ein in sich vereintes und zugleich zerstückeltes Universum, in dem jeder einzelne Bestandteil seine besondere Eigenart bewahrt, unabhängig von der Beziehung zu einem selbst oder zum Denken. Die Erinnerung darf tatsächlich nichts Wirkliches enthalten, keinerlei Beobachtungen der Welt oder gar Erlebnisse. Was zählt sind nur imaginäre Kombinationen, Vorstellungen einer Welt ohne Menschen. Es gibt tatsächlich keinen besseren Weg, sich mit dem Alter, dem Tod oder dem Ableben einzulassen als die Lust - die Libido - als Bezugspunkt zu nehmen und zu träumen. Lust ist der einzige Schwindel, dem ich Dauer wünsche, sagte Walter Serner. Bis es eben vorbei ist. Eine unzensierte Durchtriebenheit dem tatsächlichen Gefühl gegenüber. Sich ununterbrochen verhüllen und entblößen ?
Indem mich mein Alter zum Nachdenken anregt, ist es ein Surplus des Lebens, etwas, das dessen Wert erhöht oder ihm eine Pointe, ein Aperçu, ein Bonmot verleiht. Die tatsächliche Geschichte in Lügen verschönert. Vereinfacht läßt sich das Lächeln des Alters, auch meines, ironisch verstehen. Das nicht nur, weil ich durch das Alter mit etwas Bestimmtem tatsächlich vertraut geworden bin, sondern weil dieses Wissen oder Besserwissen in mir tatsächlich schon vorhanden gewesen sein muß und mehr oder weniger nur aufgewacht ist..
Tatsächlich, schmunzle ich über die Welt ? Oder lache ich schallend ? Ich lache sie doch nicht aus ?
Das Alter ist nur in einem bestimmten Moment der Zeit, innerhalb einer spezifischen Eigenschaft, in dem sich die Gesellschaft oder eine Person befindet, von tatsächlicher Bedeutung. Es erklärt die Wirklichkeit nicht auf der Ebene des Tatsächlichen, sondern mit einem Überschuß von Vermutungen, Gedanken, Verdäch-tigungen dessen, was eigentlich tatsächlich nicht möglich ist.
Durch das Alter betrachte ich vielleicht ein bestimmtes Detail der Welt genauer und werde auf etwas hingewiesen, was Jüngere ohnehin nie vermutet würden. Das Alter zu beherrschen, heißt tatsächlich, auf die reale Situationen einzugehen und diese von einer gleichsam irrealen Warte her zu betrachten. Das Alter trägt doch vielleicht die lächelnde Träne im Wappen. Alter ist tatsächlich, wenn man nicht gerade in der Gosse liegt und auf den Tod wartet, nichts anderes als eine freie Weltanschauung. Die Überlegenheit über alles; die Entsagung großer Herzen, die Welt so zu sehen - wie sie tatsächlich auf keinen Fall ist. Dabei kann ich mein Spiel von den hohen Sphären des geistreichen Witzes bis in die tiefen Täler der Dummheit treiben. Wenn ich die Probleme meines Lebens tatsächlich gefunden zu haben glaube, und damit tatsächlich meine, jetzt habe ich es leicht, so müßte ich mich zurückerinnern an die Zeit, wo ich tatsächlich keine Lösungen finden konnte. Aber auch damals hatte ich tatsächlich gelebt. Also, daß es jetzt keine Probleme gibt, ist doch tatsächlich nur ein Zufall. Das Leben ist nicht logisch. Im Nachhinein hat man es tatsächlich leicht. Ich fliege in Gedanken gleichsam über die Welt und durch mein Leben und lasse sie, die Welt und auch es, das Leben, sogar mein eigenes tatsächlich in Ruhe.
Wer seiner Zeit voraus ist, den holt sie tatsächlich niemals ein.
Das Alter hat tatsächlich für alle die gleichen Fallen bereit. Ein unglaubliches Netz von Irrwegen aus der Vergangenheit. Heute sehe ich einen nach dem anderen den gleichen Weg gehen und weiß tatsächlich, wo er jetzt stehenbleibt, wo er geradeaus weitergeht, ohne die Abzweigung zu bemerken. Ich weiß tatsächlich, daß es die Wegweiser, die einen wohin führen, dorthin, wo man hinsollte, nicht gibt.
Nichts fällt mir schwerer, als mich nicht zu betrügen. Wenn das Leben tatsächlich schwer erträglich war, dachte ich tatsächlich an Veränderung. Doch mein eigenes Verhalten oder Denken zu ändern, kam mir tatsächlich nie in den Sinn.
Das Alter, ein Gemenge von Erinnerungen. Oft fügt es sich zu einem rätselhaften Ganzen. Gleichsam zu einem Fragment, das beeindruckt, als hätte es Bedeutung.
Die Erinnerung ist tatsächlich absurd, zusammengesetzt, hinter ihr liegt die Wahrheit oder das, was man tatsächlich für sie hält.
Trotzdem sage ich niemals: Das ist alles falsch, stimmt nicht, schau mein Leben an, verlogen wie die Barockstukkatur in einer Kirche am Land. Barock war doch selbst ein reaktionärer Akt. Gegen das Lutherische Wort. Die Gegensätze, die Gegensätze. Der Erfolg braucht tatsächlich die Niederlage, die Sauberkeit braucht tatsächlich den gleichrangigen Gegner den Schmutz, die Liebe braucht tatsächlich den Haß, der Tüchtige tatsächlich den Versager, das Gute tatsächlich das Böse, das Alter tatsächlich die Jugend, das Leben tatsächlich den Tod ? Es ist tatsächlich alles falsch, stimmt nicht - und ist doch tatsächlich ganz richtig nach einem eigenen Gesetz. Auch wenn ich nicht in Kreisen oder Schleifen denke, so gehe ich doch manchmal geradewegs durch den Wald ins Freie, auf eine schöne Wiese mit Blumen und bin glücklich. In den Tälern der Dummheit wächst tatsächlich mehr Gras und es gibt mehr Blumen als auf den kahlen Höhen der Wahrheit. Der glückliche Alte und der glückliche Junge haben jeder sein eigenes Pathos. Aber es ist tatsächlich schwerer gut alt, als gut jung zu sein. Ach, die Erinnerung scheint sich sozusagen dauernd aus Hilflosigkeit zu zersetzen oder zu erneuern oder umzustülpen, je nachdem, mit wem ich spreche, mit irgendeinem anderen, einer Frau, einem Freund, einem Kind oder mit mir selbst.
Ja, ich könnte tatsächlich an ein Theater glauben. Manchmal ist die Handlung des Stücks unverständlich, doch aber sind die Details tatsächlich klar, oder es scheint, als würden Teile der Handlung tatsächlich zerrissen, obwohl doch in jedem Detail sich ein Sinn äußert. Oder ich könnte auch an ein Endlospapier denken, das mir durch die Hände läuft, so schnell, daß ich tatsächlich kaum den Überblick behalten kann. An einer Stelle sagt man: Ja, so war es, es war tatsächlich so. Oder habe ich es tatsächlich nur geträumt ? Und das andere ? Dieser ganze Rest ? Ich erinnere mich tatsächlich nicht, sage ich dann.
Wer viel über sich weiß, dem fällt es eben tatsächlich nicht schwer zu lügen.
Wo die Wahrheit doch tatsächlich im doppelten Sinne tödlich ist, einerseits ist sie an die Sprache gebunden, andererseits sterben wir tatsächlich alle, so daß das leere Geschwätz der Wahrheit gleich viel wert ist oder eben nicht mehr wert ist als die Tatsache, das man nichts mehr zu sagen hat, jetzt aber, gerade jetzt lebe ich tatsächlich doch für den Augenblick, ich lese etwas vor und trinke tatsächlich gleich ein Glas Wein, und wenn ich das tue, brauche ich auch tatsächlich den Tod nicht fürchten, da ich ihn schnell und wunderbar mit kleinen Augenblicken Schritt für Schritt betrüge, eben tatsächlich mit Momenten betrüge, die so oder so nichts wert sind, weder den Tod noch das Leben, wenn es aber so ist, ist es doch besser, ich setze mich ihnen, liebe Freundinnen und Freunde, tatsächlich aus, auf die Gefahr hin, mich tatsächlich überrollen zu lassen an diesem schönen Abend in der Akademie der bildenden Künste zu Wien.


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