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Literatur und Psyche

© Helmut Eisendle


Viele, die als österreichische Schriftsteller und Dichter bezeichnet werden, kommen aus dem grossen Reich der K&K - Monarchie, an die sie entweder aus Sentimentalität glaubten oder aus Trotz für oder gegen sie, gegen oder für den grossen deutschen Nachbarn Deutschland schrieben.
Joseph Roth aus Brody, Rainer Maria Rilke, Johannes Urzidil, Franz Kafka, Max Brod, aus Prag, Elias Canetti aus Rustschuk, Hermann Ungar aus Boskovice, Ernst Weiss aus Brünn. Alles Österreicher wie man sagt. Heimito von Doderer aus Weidlingau bei Wien, dessen Stammbaum nicht nur in Österreich wurzelte, sondern in Deutschland, Frankreich und Ungarn. Ein Österreicher, sicher.
Gegenwart und Vergangenheit. Es bedarf nur eines leichten Aufflaumens der Gegenwart - als kraulte man den Bauchflaum einer Gans - und die Vergangenheit wird sichtbar, die unberührte, wie das reine Weiss dicht am warmen Bauche des Vogels.
Zugehörigkeit. Eine der niedrigsten Tendenzen des Menschen ist: irgend- wo dazugehören zu wollen, sagt Heimito von Doderer.
Unter welchem Einfluss immer neigt die österreichische Literatur dazu nicht die Wirklichkeit abzubilden, sondern mit der Sprache als Mittel ein Spiel mit der Realität zu treiben.
Realität ist nur das, was wir jeweils als unterste feste Standfläche mit dem Fuss ertasten - geschieht es auch im Dunkeln, so ist uns doch immer genaue Kenntnis davon verliehen - und wo wir doppelten Boden wollen, um auf ihm über der Realität zu verweilen, dort wissen wir`s auch genau und erkennen sofort den hohlen Klang beim Auftritte. Wir sind in solchen Fällen zu Auftritten überhaupt geneigt, wir lieben es dann, fest aufzutreten, was den Ton des doppelten Bodens verstärkt, meint Heimito von Doderer.
Das bedeutet auf die Literatur bezogen, dass neue Wirklichkeiten und Welten zwar mit der Sprache geschaffen werden können, die Beschreibung der äusseren Welt aber versagen muss.
Im Unterschied zu Österreich behauptet die deutsche Welteinsicht und Geisteshaltung, dass das Wort ein Mittel zur Erkenntnis der äusseren und inneren Wirklichkeiten sei, andererseits hat das literarische Werk Denkmäler der Kultur zu setzen und mit einer Kunstsprache zu begreifen, was der Umgangssprache unmöglich scheint.
Wie unterscheidet sich die deutsche von der österreichischen Literatur ?
Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben, meint Adorno. Ein Österreicher hingegen, glaube ich, ist ein Mensch, der die eine oder andere Lüge ausspricht, aber nie glaubt, dass sie eine ist.
Natürlich hat das Sprachverhalten der Österreicher wie auch der Deutschen oder Schweizer eine zwingende Beziehung zur jeweiligen Mentalität des Landes, die hinter dem dudenhaften Deutsch verschwindet.
Zwei deutschsprachige Autoren, Carl Einstein und Heimito von Doderer, scheinen eine besondere Beachtung wert; der eine politisch, der andere psychologisch.
Europa ist eine abgenützte Scholle, die allenthalben zerbröckelt. In Deutschland vor allem leidet der Geist an allgemeiner Müdigkeit. Ein verlorener Krieg und dann, noch schlimmer, eine abgetriebene Revolution haben Skeptiker geschaffen. Die wahren Ursachen solcher Erfolge schnarchen unter den Bettüchern der politischen Lage. Geist nennen wir eine Puddingmischung, wabbelig, unkontrollierbarer Gemeinplatz. Aber unseren Autoren selbst mangelt es an einer Richtung; schon vor dem Krieg schrieben sie Bücher von bequemer Menschenfreundlichkeit; man schwitzte Güte und Formauflösung. Die politischen Ereignisse brachen los, aber die Schriftsteller zeigten sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Und dennoch gab es in Deutschland etwas, was Literatur heissen kann; irgendetwas schlecht Bezahltes, frierend und mit den Zähnen klappernd, das unbemerkt vorübergeht und ohne Wirkung bleibt. Dass diese Haltung keinen Erfolg gehabt hat, ist nicht verwunderlich, haben doch Martin Walser und Bodo Kirchhoff einen überirdischen, weil das, was sie verfassen, der deutschen Mentalität entspricht und Wahrheit behauptet.
Peter Dettmering schreibt in seinem Buch Dichtung und Psychoanalyse über Heimito von Doderer folgendes:
Der österreichische Erzähler Heimito von Doderer, dessen Werk abgeschlossen und übersehbar vorliegt, hat mit den meisten seiner Zeitgenossen auf dichterisch-schriftstellerischem Gebiet die Idiosynkrasie gegen die Psychoanalye gemein. Wie andere neben ihm übernahm er einen Teil ihrer Entdeckungen und Begriffe und wandte sie direkt oder indirekt in seinen Romanen, Erzählungen und Tagebüchern an, grenzte aber zugleich sich und das Seine in polemischer Weise gegen sie ab. Dieses in jener Epoche schon fast gesetzmässige Verhalten hängt aber wohl aufs engste mit der Tatsache zusammen, dass die Psychoanalyse zwar das von Dichtern Gewusste oder Geahnte zu bestätigen, für den gegenwärtigen und künftigen Dichter jedoch die Gefahr mit sich zu bringen schien, Seelisch-Unbewusstes werde durch technische Benennung seiner produktiven Potenz beraubt.
Doderer selbst definiert es folgendermassen:
Die wissenschaftliche Psychologie, wenn sie nicht bezogen wird auf die Entelechie des Menschen, kommt mir vor, wie die Betrachtung eines Pfeiles unter Absehen von der Spitze: da werden Schaft und Fiederung zu unbegreiflichen, ja fast monströsen Formen, und man gelangt am Ende vielleicht zu der Vermutung, das Ganze sei ein Werkzeug, um Schaum zu schlagen oder etwa, um sich am Rücken zu kratzen, wenn`s juckt.
Obwohl es möglich - und im Falle Doderer sogar sinnvoll wäre - sein Werk einer analytischen Deutung zu unterwerfen, nehme ich Abstand davon, weil dieses hypothesenbildende Spiel oftmals versucht worden ist. Die psychoanalytische Interpretation hätte... das doppelte Ziel zu verfolgen, Strukturlinien des Werkes mit analytischen Mitteln hervor- zuheben, zugleich aber auch herauszuarbeiten, wie sich seelische Phänomene der endopsychischen Wahrnehmung dieses Dichters darbieten, erklärt Peter Dettmering in seinem Buch.
Allein die Begriffe Apperzeption, Apperzeptionsverweigerung, Angst, Sexualität, Doppelgängertum, Dreieckskonflikt, Selbst- und Objektwelt und mehr liessen vielerlei Schlüsse über das Werk und die Person Doderer zu.
Moderne Literatur, meine ich, und zu der rechne ich Doderers Werk, hat nicht mehr abzubilden, zu erzählen oder darzustellen, sondern zu konstruieren, Sinn zu produzieren und sich dessen zu bedienen, was die Geisteswissenschaften zu bieten haben.
So hat Doderers Beschreibung der Wiener Bourgoisie vor und nach dem ersten Weltkrieg mit der Wirklichkeit soviel zu tun wie eine Fotografie mit einem Objekt. Er verfasst Geschichte oder Historie, indem er Geschichten schreibt.
Die Dämonen, sagt Herbert Eisenreich, sind der grössere, gleichsam epigrammatisch trockene Roman, in dem er ein universales Bild von Wien bietet, aus dem Zeichen der Zeit aufleuchten.
Ein Text ist in seiner Art vollkommen, wenn er eine Begierde des Lesers und des Autors zugleich befriedigt. Jeder, der eine Idee von Interesse empfindet, muss den Glauben, dass Literatur Realität als Tatsachenbericht abbilde, verweigern. Eines einzelnen Menschen Einstellung zur Literatur als Welterzeugung hat mit Lust und Begierde - ein Synonym für Interesse und Freude am Lesen - zu tun wie eines einzelnen Menschen Einstellung zur Sprache selbst. Das Schreiben und Lesen mehr oder weniger als Laster.
Laster ist die Verbindung und Aussonderung von Punkten reinster Spontaneität durch ein hier ganz unzuständiges Continuum, sagt Heimito von Doderer.
Dass dieses Laster trügerischen Charakter im Autor und im Leser besitzt, ist offenbar. Hier das Geschäft, der Erfolg, die öffentliche Wirkung, dort das Imponiergehabe, der kleine Vorteil im sozialen Gefüge. Die meisten Menschen leiden an der Schwäche, zu glauben, weil ein Text, ein Stück Literatur vorhanden sei, müsse es für etwas vorhanden sein; das Geschriebene ist vorerst nicht für etwas, sondern für irgendwen vorhanden. Einmal für den Autor und dann für den Leser. Wenn nun der Leser nicht fähig ist mit ähnlichen Intentionen wie der Autor zu reagieren oder eine Welt zu erzeugen, wird er das Stück Literatur zwar für gut oder unnütz, schlecht oder nützlich halten, nicht aber erkennen, was der Urheber eigentlich wollte.
Wenn es nur eine Welt gibt, umfasst sie eine Vielfalt möglicher Gesichtspunkte; wenn es viele Welten gibt, ist ihre Zusammenfassung eine. Die eine Welt kann als viele oder die vielen können als eine aufgefasst werden; ob eine oder viele, das hängt von der persönlichen Auffassungsweise ab (Nelson Goodman)
Wir knien vor einem Bild, einem Gedicht, einer Musik nur nieder, wenn sie wenigstens mit einem Wort, einem Detail, einem Ton dasselbe zustandebringen wie jene Weltausstellung von Träumen und Erinnerungen, hat Richard Weiner behauptet.
Die österreichische Literatur beweist vor allem, dass sie besteht. Mehr nicht. Ob sie gut ist oder schlecht. Der Unterschied zur deutschen ist nicht so wichtig, da die Treue der Literatur zur gesinnungsfreundlichen Berichterstattung genauso eine Eigenart darstellt wie die Fixierung auf die Seele und die Sprache unter Einbezug der Traditionen einer Monarchie mit viel Hinterland und der daraus entstandenen Mischung vieler Mentalitäten, die nun einmal die österreichische ist.
Die Auffassung von Welt und Wirklichkeit ist hierzulande jedenfalls eine andere, ob bei Doderer, Jandl, Joseph Roth, bei der Bachmann, Gruber, Czernin oder Okopenko. Vielleicht ist sie so ähnlich wie die von Franz Mon, Johannes Schenk, Günther Bruno Fuchs oder in Paul Wührs Gegen-München. Eben unwirklich oder anders. Unter Umständen eine literarische Wirklichkeit. Grass wird das schon wissen, was wirklich ist, genauso wie Süsskind oder Kempovsky. Oder John Updike. Das sieht man am Erfolg. Wenn dieser das Kriterium ist. Die andere Wirklichkeit ist eben anders.
Im Unterschied zur Wissenschaft oder zum Journalismus stellt eine bestimmte Literatur ein freies Schreiben dar. Es macht sich selbst. Wie die Drift der Erkenntnis in der Wissenschaft nicht organisierbar ist, sondern aus einem Forscherdrang oder Problembewusstsein entsteht, so ist Literatur etwas, das mit Lust und Laune gemacht ist. Ob sie nun veröffentlicht wird, also geschrieben erscheint, hängt vom Markt und seinen Gesetzen ab. Eigentlich fragt keiner, ob man die oder eine andere Literatur braucht, wenn sie gerade geschrieben wird.
Ein Schriftsteller ist ein Mensch, dessen Sprache der Welt entsagt hat, dessen Person in ihren Netzen verstrickt bleibt, sagt Doderer.
Zum Teil avancierte Literatur - auch durch Doderer - zur Travestie des Intellekts, indem sie den Erkenntniszwang unterläuft. Auch wenn Theodor Reik behauptet hat, dass die Identifikation mit dem Leiden anderer sich als scheinmasochistische Gebärde in Kultur verwandelt, bleibt dies nichts als eine Attitude. Dahinter mag es tatsächlich Bedürfnisse und Wünsche geben, einen psychischen Hintergrund, der einer Stimmungslage dient und dem Geschäft schadet oder nützt.
Was letzten Endes überbleibt, was man zu sehen oder zu hören bekommt, ist nur ein Surplus, der Überschuss dessen, was tatsächlich geschieht, wenn einer sich vor das Blatt Papier gesetzt hat. Das, was beim Schreiben wirklich passiert, ist mehr, viel mehr oder ein wenig mehr. Und das, was auf dem Papier landet, ist der Rest davon. Es fällt schwer, dasselbe von der Wissenschaft zu behaupten.
Die Lust an der Inszenierung, der verschwiegene oder offene Einbezug des Ichs und der eigenen Geschichte, auch wenn der Autor sich hinter seinen Protagonisten versteckt, ist Literatur. Oft ein Surrogat.
Nachdem als möglicher Modus moderner Literatur eine weltweite Informationssflut entstanden ist und Furore macht, entwickelte sich die Eliminierung dessen, worüber informiert werden sollte: das Ich in der Welt. Name dropping in aller Intensität ersetzte die Intimität von Literatur. Vom Ereignis des Ichs, vom Pathos wie bei Doderer, Musil, Joyce, Carl Einstein oder Valery, geriet Literatur immer mehr zu einer Berichterstattung, zu einer Zeugenarbeit mit Anteilnahme an Moden, Katastrophen, Unfällen, Anfällen und Einfällen.
Jedermann weiss, dass alles ein Lügengespinst ist. Oder eine Traumdeutung, nicht mehr.
Doderer behauptet: Traumdeutung kann nichts anderes sein als die glücklich benützte Möglichkeit, welche der Anblick vollends aufgedeckter innerer Mechanik bietet:
nämlich daraus auf die Mechanik des äusseren Lebens zu schliessen.
Das kann man allerdings auch auf die Literatur, auch seine, anwenden.
Die Menge geniesst die Deutung und die Manipulation fremder Ichs, das Abschieben des Wirklichen ins Nichts und starrt vergnügt in die Bücher und Monitore. Das reibungslose Dahinplätschern eines sich durch den Fluss der Ereignisse selbstbefriedigenden Systems von Literatur erhält sich selbst und beschäftigt viele. Noch.
Es ist ein Spiel. Die Umwandlung des Subjekts zu einem Objekt erzeugt eine Veränderung zum allwissenden Zeugenstand. Die Wirklichkeit und die Figuren am Horizont. Immer zu spät und immer aus der Ferne. Und das Publikum blickt aus den Fenstern und lacht und ruft: wo sind denn wir ?
Die mehr oder weniger moderne Art zu schreiben kennt nur ein Ziel: sich zu erhalten wie Systeme sich eben selbst erhalten. Kleine Traummaschinen mit Köpfen und Seelen. Voll mit Träumen, die immer nur Träume zulassen. Literatur als eine ins Unermessliche wuchernde Vergrösserung des Bewusstseins. Eine Bewusstheit. Die allumfassende Bibliothek. Und in dieser riesigen Bibliothek die Autoren und Autörchen, die konsumieren und produzieren und damit ihre Erregungssummen im Gehirn hochrechnen und die hochgerechneten Ergebnisse in Lust oder Unlust, Freude oder Schmerz, Gewinn oder Verlust, Liebe oder Hass werten. So reguliert sich alles im Autor in einer Zweiteilung: in Literatur und im Bewusstsein dessen, was er tut: schreiben.
Literatur generiert (1) sich selbst. Deshalb gibt es in ihr und für sie auch keine äussere Wirklichkeit. Letztere ist das Feld des Journalismus. Wird behauptet.
Wenn man diese Gedankengänge der Inexistenz von äusserer Wirklichkeit in der Literatur akzeptiert, heisst das genau genommen, den Zug zu verlassen, abzuspringen; von einer vorgetäuschten Wirklichkeit zu sich selbst zu kommen. Die Figuren werden zum Surrogat (2) der Ichs. Was der Autor sucht und findet, hat alles schon einmal stattgefunden, hat alles schon einmal durchquert, hat viele Arten und Formen von Bewusstsein durchwandert, hat die Mühlen der Akzeptanz längst hinter sich. Vieles ist vergessen oder taucht plötzlich wieder auf. Was der Autor unter Umständen findet, ist ein Teil seiner selbst und niemals ein Teil eines anderen, auch kein Teil von Ihnen oder irgendwem. Ebenso müssen, was Sie finden, auch Sie gesucht haben und nicht der Autor. Jeder ist eben ein eigenartiges Wesen, ein System, und eben nicht unbedingt ein Abhängiger in der Art eines Rädchens, das sich mitdreht. Auch Doderer.
Der Zirkelschluss des Ichs ist unentrinnbar. Die Natur des Ichs ist sein Pathos (3). Und die Wirklichkeit ist das Verdrängte. Die Möglichkeit der Erkenntnis die Psychologie. Der Omnibus, der dem Luftschiff nachfährt.
Die Verdrängung des Wirklichen durch die Literatur ist absolut und obsolet. Doderer ist ein Beispiel. Die Verdrängung der Wirklichkeit über die Sprache ist seine Fiktion, die sehr gut zur österreichischen Literatur passt.
Der bevorzugte Ort des Vorgehens ist mit den Worten und Sätzen als Werkzeug die grosse, unendliche Bibliothek, in der alle Zeichen, in all den unzähligen bewusstseienden Bewusstseinsstrukturen mit allen Löchern, Lücken und Fugen und Ritzen und Zu - und Abflüssen, Eingängen und Ausgängen und Übergängen aufbewahrt sind. Ein Arbeitsfeld, das nicht zwischen Sein und Schein unterscheiden lässt.
Der Autor kann sich tatsächlich nicht mehr auf Wahrheitsfindung einlassen wie die Wissenschaft, die auf Erkenntnis pocht und die Wahrheit will.
Die Wirklichkeit ist die Fable convenue der Philister, meinte Hofmannsthal.
Ursprünglich schrieben und redeten die Dichter über sich, mit sich und miteinander und lösten Schritt für Schritt und Wort für Wort ihre Existenz auf, um sie durch Literatur und Poesie zu ersetzen. Vielleicht ist so die Winterreise entstanden oder die Sache mit Lenz (4), als er ins Gebirge ging ? Irgendwann, irgendwo im Januar. Da ist ein Subjekt gestorben.
Die technische Reproduzierbarkeit, welche die Welt und Weltwirklichkeit Stunde um Stunde und Wort für Wort ersetzt, stösst immer auf Halbwahrheiten. Na und ? Wie ein Spiegel wirft die Künstlichkeit der Literatur die Wirklichkeitswelt in ein graues Feld.
Wie es keine Wirklichkeit gibt oder mehr gibt, gibt es keine Wahrheit.
Ich, fragt der Autor, und meine Zukunft in der Welt. Die Zukunft in seiner Welt.
In welcher ?
In seiner, in seiner Zukunft.
In die Zukunft verlegt er seine Hoffnungen. Mit diesem Ritual revanchiert er sich in Gedanken für die Unfreundlichkeiten der Welt in der Gegenwart. Gleichsam stellt er ein zukünftiges Wohlergehen der gegenwärtigen Armseligkeit gegenüber. Die Zukunft ist sozusagen das Traumland, ein Lunapark (5) wie die Freiheit.
Mehr oder weniger wird dieser Trick mit Erfolg betrieben; denn wenn die Zukunft erfunden ist und sie nicht so ausschaut wie er will, ist sie nichts anderes als eine Lüge. Und wenn es ihm tatsächlich gelingt, etwas zu erfinden, blickt er auf die Vergangenheit, also die derzeitige Gegenwart und denkt:
Ich habe meine Wirklichkeit und mein Ich in die Welt gesetzt.
Jeder hat doch das Menschenrecht, zu träumen. Ein Autor natürlich auch. Das Ich fürchtet sich wohl oder übel davor, in seinen ganzen Schwächen erkannt zu werden. Immer wieder. Auch bei Heimito von Doderer. Es gibt zwar Spezialisten, Mechaniker, Entstörer für das Ich. Psychologen. Aber auch diese architects of ego - changing (6) verhalten sich hilflos den Ichs gegenüber, vielleicht wie die Kinder im Wald. Die unschuldigen Wesen sehen nicht den Wald, sondern nur die Bäume. Die schuldigen Psychologen sehen nicht das Ganze, den Menschen, sondern nur, ja was ? Symbole, Figuren und Symptome als Nährboden unglaublicher Deutungen. Im Grunde sind Psychologen tatsächlich wie Chauffeure von Omnibussen, die einem Luftschiff nachfahren. Die Wahrheit schwebt in der Ferne, der Busfahrer versucht sie einzuholen, aber das Schiff mit den Ichs verschwindet, hinter einer Wolke vielleicht. Der Fahrer versucht es überall aufzustöbern und fragt und redet und redet und deutet, als hätte er es wirklich gesehen. Er stellt Mutmassungen an, weil er nicht aufgeben darf.
Das Pathologische ist nichts als ein wandernder Akzent, welcher über dem Allzu-Individuellen stecken geblieben ist, sagt Doderer.
Ich und Du haben eigene Ordnungen. Angenommen ein Ich offeriert einem Du, auch wenn es ein Ich z.B. ein Überich ist, die Definition seiner selbst. Das Ich kann das auf verschiedene Weise tun, aber immer heisst es: so sehe ich mich oder es. Es liegt in der Natur der menschlichen Beziehungen, dass einem Du nur drei Wege offenstehen: die Bestätigung, die Verwerfung oder die Entwertung.
Warum ?
Die Natur des Ichs ist eben sein Pathos.
Und die Natur ohne Ichs ? Gibt es nicht.
Und das Ich ohne Natur ? Ergibt keinen Sinn.
Ein Beispiel:
Ich sehe ein Bild vor mir. Mit einem Ich.
Ein Feldweg, braun mit Karrenspuren, Steine am Wegrand. Zum Horizont hin wird der Weg schmäler und verschwindet als Strich hinter einer Steigung. Auf der linken Seite, neben den Karrenspuren, steht ein Baum mit einer riesigen, grünen Krone. Wie eine Kugel leuchtet sie. Links und rechts davon Wiesen mit Blumen, darüber ein gelber Schimmer. Auf der einen Seite in der Ferne blaue Hügel, Wellen gleich, hintereinander. Sie berühren den Himmel. Von rechts her schiebt sich eine dunkle Wolkenfront. Es ist Sommer. Kein Mensch ist zu sehen.
Plötzlich kommt einer den Weg entlang. Langsam schreitet er mit schweren Schritten auf den Baum zu. Er bleibt stehen, nimmt eine Motorsäge vom Rücken, zieht an einer Leine, der Motor springt mit einem knatternden Geräusch an. Der Mann setzt die Säge am Stamm des Baumes an und schneidet Segmente aus ihm heraus. Die Krone zittert. Nach einiger Zeit tritt er zurück. Der Baum fällt mit Krachen um und liegt quer über dem Weg.
Ein elendes Bild, nicht ?
Die Natur und ein Ich. Irgendeines.
Der Mann könnte erklären, was er getan hat. Wie man alles erklären kann. Es wäre plausibel. Wenn ihn einer fragen würde.
Einer hat gesagt, er soll den Baum umschneiden. Er, der Mann bekomme dafür seinen Lohn. Der Mann würde davon reden, dass ein anderer ihm gesagt habe, er solle den Baum umschneiden. Der andere sei der Chef. Der habe das Recht. Nicht er. Der Baum stehe im Wege, habe der Chef gesagt. Darum gehöre er weg. Und er hat es getan. Nicht mehr. Klar. Schliesslich und endlich verdiene er damit sein Geld. Er habe die Säge. So ist es eben. Was sei daran falsch ? Ein Baum mehr oder weniger.
Was würden die Psychologen sagen ?
Das Bäumefällen oder das Bäumeumschneiden als psychologische Metapher lässt leicht Vermutungen über die Menschenseele, ja, ihr Verhältnis zur Natur zu. Der Baum als phallisches Symbol. Das Fällen, das Schneiden, das Hacken, das Absägen als Kastration. Dahinter steht ein kollektiver Kastrationswahn der Menschheit. Nicht ?
Vielleicht lässt sich ein Zusammenhang zwischen den Beschneidungsritualen der Araber und Juden und einem Kastrationswunsch herstellen ? Denken lässt sich viel.
Ziel des Bäumefällens als psychischer Akt der Kastration von Natur ist - unabhängig von der Nützlichkeit des zu verarbeitenden Materials Holz - die mechanische Reproduktion eines regressiven Moments (7), eine Kastrationsmechanik (8), die unter der Herrschaft des Triumvirats Ich - Es - Überich folgende Bedeutung beinhaltet: gib´ den immerwährenden, geforderten, männlichen Anspruch auf Gewalt auf, entmanne dich und damit ein Stück Natur oder umgekehrt:
entmanne die Natur und auch ein Stück von dir, damit du entmannt als Ding zur Natur zurückkehrst. Wie das Klirren der Axt und das Quietschen der Säge es verspottet, wirst du hierfür belohnt in einen penislosen Menschenbund aufgenommen, welcher das Geheimnis der Impotenz mit der Absage an alle Zukunft verbindet. Im Augenblick, wo du als Mann die Motorsäge oder die Axt an den Stamm setzt, hat dich dein Schicksal und Ende schon erreicht.
Würde der Arbeiter, der den Baum am Wegrand umgeschnitten hat, so oder so ähnlich denken, wäre die Welt der Menschen eine unproduktive Denkergesellschaft ohne Zukunft und er ein Geisteskranker. Durch den Geist entmannt.
So etwas kann man behaupten. Technisch. Akademisch, meine ich.
Eine Travestie des Intellekts.
Denken heisst, sagt Doderer, einen Punkt ausserhalb des Zweckmässigen so ausdauernd und konsolidiert beziehen, dass der Welt Zeit genug bleibt, ihr nun ganz verwandeltes Bild bis zum Hervortreiben neuer Gegensatzpaare zu detaillieren.
Nun gut. Es war wohl ein erfundenes Beispiel dafür, dass jeder auch ein Holzfäller schuldig gesprochen werden kann. Je grösser der Abstand zwischen der Moral und dem normalen Leben ist, desto grösser ist der Bedarf an Sündenböcken. Und im Hintergrund das Christentum, das Neue und das Alte Testament.
Aaron lege seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bockes und bekenne über ihm alle Schuld der Israeliten und alle Übertretungen, die sie irgendwie begangen haben; er soll diese auf den Kopf des Bockes legen und diesen in die Wüste hinaustreiben. Der Bock aber soll ihre Schuld mit sich wegtragen in eine abgelegene Gegend.
Moses 16, 21 - 22.
Sündenböcke heisst auf griechisch: pharmakos (9). Ein schöner Wahnsinn, nicht ? Eine Travestie ?
Nichts ist leichter als den Wahnsinn auf eine unsichtbare, unerklärliche Veranlagung zu schieben und zu sagen: wenn dieser Mensch eine andere Natur hätte, so wäre er nicht krank oder verrückt geworden. Oder wäre kein Holzfäller geworden. Oder keiner, der schreibt.
Die Natur und das Ich. Ich und die Natur. Und die Welt. Mein Ich. Alles verlangt eigene Wahrnehmungskünste. Das ist das elende Schicksal alles Geschriebenen, eines Briefes, eines Manuskriptes.
Und was sagt die Psychologie, die Psychologen ?
Welche ?
Die mit dem Omnibus dem Luftschiff nachfahren.
Die Psychologen wissen viel, zuviel über die, die schreiben. Schliesslich schreiben sie ja. Auch.
Oder ist Schreiben ein in stumpfer Trostlosigkeit produzierender, maschineller, instrumenteller Akt des Denkens ?
Mit vielen Fehlermöglichkeiten.
Einer, der schreibt, ist gleichsam einer, der auf Stelzen geht. Er bildet sich ein, einen Wettlauf eher zu gewinnen, weil er künstliche, lange Beine hat oder eine Prothese benützt. Gut, er steht über allem und wartet. Doch beim ersten Schritt kann er stolpern und tief, sehr tief stürzen. Beim ersten Satz kann er scheitern. Auch Doderer hätte scheitern können.
Das ist die Welt des Schreibers mit seiner Welterzeugungsmaschine Literatur und mein Versuch, es, das Schreiben wahrzunehmen. So wenig es die absolute Identität des Ichs gibt, gibt es die absolute Identität des Schreibers.
Unser wahrer Besitz, sagt Doderer, besteht in der jeweiligen Spitze unserer Ahnungen. Sie allein sind unser wirkliches Leben. Das übrige ist zottelnder Nachtrab.
Literatur als Wirklichkeitsersatz. Ich ist immer ein anderer. Es vertraut Irrtümern und Lügen. Es ist sich sicher. Ich bin mir sicher. Gegen die unglaubliche Intelligenz des Unbewussten. Das Ich glaubt sich sicher. Auch das Ich des Schreibers. Sicher. Ein Phänomen der zeitlich abhängigen Sicherheit, die plausibel ist. Und hinter der Plausibilität lauern die Irrtümer und Fehler.
Sehe ich von der zweifelhaften Identität und Individualität eines Ichs ab und vertraue dem zu bestreitenden Ich - Gefühl, bin ich mehr oder weniger irgendein Individuum, ein Wesen. Vertraue ich dieser Empfindung nicht, nehme ich mein Ich nicht wahr, betrachte ich meinen Körper nicht als Individualität, sondern als Form gleich einem Strombett, in dem unaufhörlich Bewegungen stattfinden, würde ich, mein Ich schnell als verrückt gelten. Und auch der Österreicher Heimito von Doderer,wenn er sagt:
Die Kunst des Romans besteht darin, ausservernünftige Zusammenhänge entdecken zu können, welche schliesslich auch das Vernünftige mit einschliessen. Von daher muss der Roman durchaus verständlich sein, mindestens aber einer grossen Zahl von Lesern so erscheinen, die ihn gar nicht verstehen.
Die enorme psychologische Begabung Doderers ist nie bestritten worden, obwohl gerade er die Psychologie nur als Hilfswissenschaft bestehen liess.
Dadurch, sagt Eisenreich, wird seine Kunst, auch im Gegensatz zur Gattung eines psychologischen Romans des neunzehnten Jahrhunderts, zu dem, was sie auf höchsten Niveau zu sein vermag: die Wissenschaft vom Leben.

Literatur: Peter Dettmering, Dichtung und Psychoanalyse II, München 1974
Heimito von Doderer; Tangenten, Tagebuch eines Schriftstellers, München, 1964
Heimito von Doderer, Ein Begreifbuch von höheren und niederen Lebens-Sachen, Hgr. Dietrich Weber, München, 1969
Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M, 1990
Vic Meyer, in: Some problems in behaviour therapy, Middlesex, 1966
Georg Schmid, Doderer Lesen, Essai, Salzburg 1978
Thomas Szasz, Geisteskrankheit - ein moderner Mythos,Frankfurt/Main, 1975

(1) generieren,hier:aus einer Tradition des Herstellens hervorbringen
(2) Surrogat,hier:Ersatzhandlung
(3) Pathos,hier:Leidenschaft,Begeisterung
(4) Georg Büchner
(5) Lunapark,Walter Serner:Die Freiheit ist ein Lunapark
(6) Vic Meyer,in:Some problems in behaviour therapy, 1966
(7) regressives Moment,hier:ein zeitliches, insofern es sich um ein Rückgreifen auf ältere, angenommene psychische Bildungen handelt,Laplanche,Pontalis
(8) Kastrationsmechanik,ein Neologismus
(9) Thomas Szasz,in:Geisteskrankheit - ein moderner Mythos


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