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Die Tageszeitung als Literatur


© by Helmut Eisendle

So lebt der Künstler im fortwährenden Zustand der Selbstentdeckung, wobei er an beides glaubt, an den Wert seiner Arbeit und an die Möglichkeit, sie zu verbessern. Als freier Mann gibt er ein Beispiel von Beharrlichkeit und Glauben, ein Beispiel, das andere gut überdenken sollten, gerade in einer Welt, die von Zweifel und Unsicherheit zerrissen und bedrückt ist.
Aaron Copland

Die Massenmedien sind da, um Informationen zu liefern. Wir leben in der beklagenswerten Zeit, in der alle öffentlichen Ereignisse immer mehr unser Privatleben beherrschen. Wenn Herr Rosenstingel Brasilien besucht, wenn amerikanische Jungen Mädchen erschießen, wenn Politiker sich äußern als wäre das Leben in diesem Lande mehr von ihnen als von der Tüchtigkeit der Staatsbürger abhängig, wenn Herr Haider zwar kein Nazi ist, sich aber vergleichbar zu den Nationalsozialisten eine Autorität anmaßt, die jeder demokratischen Gesinnung entbehrt. Das sind unsere Themen, unsere Tisch-, Bett und Partygespräche.
Ein phantasiebegabter Journalist hält Ausschau nach Wirklichkeit, dessen Bedeutung von ihm und nur von ihm bestimmt wird. Andererseits hat er nicht die Freiheit, die Schriftsteller immer hatten und auch heute noch erfolglos haben; Er ist eingeengt durch sein Bewußtsein, mit Tatsachen umzugehen, mit Charakteren, welche die Handlung jeder neuen Geschichte bilden. Wenn er sie verspotten oder verherrlichen, die Wahrheit über ihn schreiben will, die ihn vielleicht als Betrüger entlarvt, muß er sich bewußt sein - und wird schnell darüber aufgeklärt - das ihm der Brotkorb abhanden kommen und seine kleine oder große Karriere gefährdet werden könnte. Es gibt eine Konfrontation zwischen dem, was er schreibt, und der Öffentlichkeit. Wenn er Risken auf sich nimmt, so geschieht das nicht in einem Vakuum oder der vorweggenommenen Nachwelt des Schriftstellers. Der Journalist veröffentlicht und das, was er schreibt ist von kurzer Dauer vorhanden. Beim Schriftsteller wird nicht selten nach dem Tod von seiner Bedeutung gesprochen.
Bis vor kurzen oder in geheimen Clubs und Vereinen noch heute wurde ganz selbstverständlich angenommen, daß die Einbildungskraft die geeignetste Ausdrucksform die Literatur sei.
Aber ist Literatur tatsächlich als Art des Schreibens die natürlichste, die heute für einen von einer Informationsflut der Massenmedien deformierten Menschen, der gezwungen ist, sein Leben an der dargestellten Wirklichkeit anderer Leute zu messen, paßt ?
Wenn Literaturkritiker behaupten, es habe in den neunziger Jahren keine bedeutenden Schriftsteller vergleichbar mit einem Böll, Grass, Hemingway, Wolfe, Faulkner gegeben, so meinen sie, das keiner der Nachfolger sich gegen die Zeit behauptet hat. Aber gerade diese Autoren waren trotz ihrer Glorie, die ihren Namen anhaften, im radikalsten Sinne Reporter, deren hauptsächliches Anliegen und deren Visionen zu gefährlich oder zu subtil oder zu kompliziert oder zu heftig oder zu lyrisch oder zu eigensinnig oder zu herausfordernd waren für die Massenmedien ihrer Zeit. Sie mußten ihre eigenen Geschichten erfinden, die auf dem beruhten, was sie beobachteten oder fühlten, und die sie als Einzelgänger veröffentlichten. Sie standen mit persönlicher Integrität und subjektiver Wahrheit im Gegensatz zum oberflächlichen Journalismus ihrer Zeit in der Ecke mit dem Stigma Literatur. Das Feuilleton der besseren Zeitungen betreibt zwar die Behandlung von Literatur als Kritik oder veröffentlichte kleine Vorabdrucke, hat aber im Vergleich zur Arbeiterzeitung der Zwischenkriegszeit keinen Platz und Mut mehr jenen das Wort zu geben, die als Intellektuelle ihre Meinung von sich geben wollen. Ist man ein Prosa-Schriftsteller, so war und ist es beinahe notwendig, in Form eines Romans zu schreiben, da nur durch diesen mehr berichtet werden kann als im Journalismus. Der Anspruch des Schriftstellers besteht darin, immer tiefer in die Wirklichkeit der Geschichte einzudringen - und das kann nur geschehen, wenn er das Gefühl für die Sprache, einen Sinn für das Erzählen, für die Charakterentwicklung seiner Protagonisten besitzt. Die Non-fiction-Bücher haben sich wohl oder übel zu Fiction-Büchern entwickelt und dabei zwar der Literatur gedient, nicht aber den Möglichkeiten, welche die Massenmedien, gestatten.
Truman Capote hat in Cold Blood nur das getan, was Reporter Jahre vor ihm in Kurzgeschichten verfaßt haben. Es gab tatsächlich die Zeit, als der Roman Die Blechtrommel von Günter Grass mehr Licht auf die Zukunft einer Generation warf als viele Non-fiction-Bücher zur selben Zeit oder danach. Die tieferliegende Wirklichkeit dieses Werkes selbst ist so außergewöhnlich in seinen Gegensätzen, seinen Absurditäten, seiner Gewalt, seinem schnellen Wechsel, seiner Deutung und Bedeutung, das es, um genau das zu treffen, was ist, den Reporter oder Berichterstatter in das Reich des Unbekannten verlegt, in das, was gewöhnlich die Welt der Vorstellung genannt wird.
Wie McLuhan behauptet, sind die Massenmedien eine Ausweitung des Nervensystems der Rock- und Pop-Generation. Für jede Art von Nach-richtenübermittlung - Zeitungen, Kinos, Fernsehen, Radio, Videos - die Millionen erreicht, es ist undenkbar, das die Beat-Generation und ihre Kinder mit dem Sog des Wirbelsturms der Informationsflut, mit dem sie aufgezogen wurden, die Kraft der schönen Dichtung romantisieren könnte, die gerade in 1500 Exemplaren verkauft wird.
Die Texte der Sänger, ob Dirty old man, Show me the way to the next Whiskey-bar, Daimon Alcohol, purple haze in your brain oder satisfaction haben der Literatur den Rang abgekauft.
Aber immer noch ist es das Wort, geschrieben, gesprochen, gesungen, allein das Wort, welches das bedeutendste Instrument für die Menschen im Lauf der Geschichte bleibt. Es ist das Wort als Vermittler der Wirklichkeit, das im Inneren jedes kämpferischen Augenblicks steckt, durch das eine neue und erweiterte Konzeption von Literatur erzeugt wird.
Journalismus wurde früher als schnell hingeschriebene Literatur bezeich-net, ein Ausspruch, in dem noch bis heute der Geist des Nützlichen und der literarisch minderwertigen Einschätzung enthalten ist, die von den meisten Journalisten nicht nur gespürt, sondern auch geprägt wird, wenn sie mit Schriftstellern verglichen werden.
In den Schreibwerkstätten der Zeitungen kann man noch die Meinung hören, die Bedeutung der Zeitung sei nicht mehr, als heute gelesen und morgen als Packpapier für einen frischen Fisch am Markt verwendet zu werden.
Aus der Sicht anspruchsvoller Journalisten ist das Zeitungmachen lediglich ein Ankratzen unter der demütigenden Begrenzung der Zeit eines Tages, des Platzes, des aktuellen Themas. Angestellter der Tatsachen hat sich ein Journalist einmal genannt.
Von der Tradition her ist der Journalist eine Schreibmaschine, ein Telefon-Zuhälter, ein Schwätzer und Horcher im Kaffeehaus, ein Einbrecher ins Private, ein Sammler und Jäger und vor allem kein Schriftsteller, denn er hat ein Schema seine Informationen zu bearbeiten. Wenn ein Journalist sein Büro verläßt, um zu recherchieren, hat er mit nichts anderem zu tun als mit der Zeit, in der er lebt. Wie trivial seine Geschichte ist, ob sie groß oder wichtig erscheint, wird er dem Leser aufzwingen. Er veröffentlicht etwas, weil der Platz, der ihm zugewiesen ist, gefüllt werden muß, und aus dieser Tatsache des Veröffentlichens gibt er einer Sache Bedeutung.
Die Inbesitznahme der medialen Nachrichten als Quelle ist immer eine offizielle Version der Wirklichkeit, der die Auffassung der Literatur des Subjektiv-Wirklichen gegenübersteht. Einer literarische Arbeit, ohne Beziehung zur medialen Realität außerhalb der Gedanken des Autors kann heute von einem Leser, Hörer oder Seher ohne weiteres aus dem Weg gegangen werden, wenn er behauptet, das habe für ihn keine Wichtigkeit.
Es ist nicht mehr der Ausdruck einer privaten Meinung, die packt, sondern die vermittelte öffentliche Brechung der unzähligen Tabus individuellen Daseins, die die Menschen Generationen lang beherrscht hat.
Bisher waren die Schriftsteller gemarterte Heilige eines unheiligen Lebens, ob Kafka, Kaser, Joyce, dessen Strategien Schweigen, Exil und Schlauheit waren. Kasers Ziel war ein Werk und der Tod sein Freund, da er in elenden Bedingungen leben mußte, bis sein Werk vollendet war.
Die einsame Verirrung des Schriftstellers, der seine Chimäre verfolgt, beeindruckt nicht mehr. Er spielt das Spiel eines Nachhalls aus der Vergangenheit, so außerhalb des Augenblicks, außerhalb der Zeit wie ein Stummfilm. Das heroische Leiden, die einst den Schriftsteller und Dichter auszeichnete, ist heute Eigentum von Jedermann und Jederfrau. Die neurotischen Erschütterungen, die dem Dichter anhingen, sind heute demokratisch weit verbreitet. Mit anderen Worten, die Schicksalslast des Künstlers ist eine menschliche Kategorie geworden und jeder Künstler, ob Dichter oder Maler oder Filmer oder Musiker muß heute versuchen, das Rätsel der Welt zu lösen, da es für ihn kein anderes Thema mehr gibt. Aber auch wenn seine Erschütterung von der breiten Masse der Medienkonsumenten geteilt wird, sind es seine Einbildungskraft und Fähigkeit, sie berührbar zu machen, seine Kraft, bis jeder Mensch den Trick gelernt hat, Schmerz und Widerwillen in Zeilen oder Bilder oder Melodien zu verwandeln.
Kunst und Literatur wurden nie gemacht, um sie an die Wand zu hängen oder auf einer Seite niederzuschreiben, sondern um trüben Augen eine wahre Vision des Lebens zu zeigen.
Heute genügen sich die trüben Augen, sich den Massenmedien hinzugeben. Am lesenden, hörenden und sehenden Ende dieser Medien gibt es Millionen von Menschen, die sich aus Verzweiflung von Lautsprecher zu Lautsprecher, von Monitor zu Monitor, von Zeitungsseite zu Zeitungsseite weitertreiben und weitertreiben lassen, verärgert mit dem, was sie hören, sehen, lesen.
Moderne Literatur und Kunst ist immer beides gewesen, ehrlicher, radikaler und genauer in der Sicht des gegenwärtigen Durcheinanders als irgendeine gesteuerte Nachricht der Presse- und Medienagenturen. Kunst und Literatur ist die genaueste und bedeutungsvollste Anwendung der Vorstellung von Welt, die es gibt.
Vielleicht ist die Zeit noch nicht reif, daß das Potential der Gesellschaft explodiert, auf dem Weg jenseits des realitätsproduzierenden Journalismus und der Gebrauch der Literatur das besser macht, was uns über Mächte, Verbrechen und politischen Arrangements, wirtschaftlichen Niedergänge, utopischen Weltraumträume, die uns dauernd vor Augen geführt werden, gelegt wird ?
Warum kann man nicht glauben, daß die Kunst, mit Worten umzugehen, mehr im Bewußtsein hinterläßt als die wie immer verfaßte Kolportage ?
Was sonst als die Aktualität selbst - und was sind Nachrichten anderes als ein zusammengepreßtes Geschwür von Informationen - sind Einsichten in die Zeit wert, nach denen der Schriftsteller immer seine Arbeit ausgerichtet hat, aber bis jetzt nie die Chance hatte, auf die Literaturlosigkeit der Ereignisse einzuwirken ? Es ist nicht mehr nur die Frage des Romans, des Gedichtes oder des journalistischen Geplänkels an sich; die wesentliche Frage, mit der ein Schriftsteller und die Hörer und Leser und Seher konfrontiert ist, ist die nach Effektivität der Einbildungskraft bei der Schaffung neuer Wirklichkeiten, welche die Potenz des Überlebens und Am-Leben-Seins nicht einschränkt.
Seit die Welt die Wirklichkeit über eine Sinnestäuschung der Massenmedien wahrnimmt, müssen die Menschen neue Standpunkte und Sehweisen einnehmen.
Und dazu ist die Literatur und die Kunst als individuelle Gebärde gut genug. Oder auch der Journalismus, wenn er sich dessen bedient, was ihm Kunst und Literatur vorführt.



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