Helmut Eisendles Buch Gut und Böse sind Vorurteile der Götter
erscheint im Februar2002 im Residenzverlag ISBN 3-7017-1251-4
Descartes rief eines Tages in heller Verzweiflung aus, er wisse
nicht gewiß, was er denke; er wisse gewiß nur, daß er
denke; darauf setzte Kant die noch traurigere Resignation, daß
all unser Denken uns nur einen Schein der vorausgesetzten Wirklichkeit
biete; und nun setzte Schopenhauer seinen Trumpf drauf. Hatte Descartes
gerufen: Ich denke, also bin ich, so antwortete Schopenhauer jetzt: Ich
denke nicht nur, ich bin auch; was ich denke, ist bloße Vorstellung;
was ich bin, ist Wirklichkeit.
Fritz Mauthner
Felix Vicq d`Azur ist ein seltsamer Herr.
Ja, er ist ein Herr, und nicht irgendein Mann wie jeder andere, er
ist ein Herr, ein Gentleman von seinem Äußeren und seiner Art,
sich zu geben und zu denken. Sein ganzes Leben ist er durch die Welt gefahren,
nein, eher gewandelt, hat da und dort gelebt und seine Meinung - ob erwünscht,
erhört oder auch nicht - kundgetan. Er ist um die Sechzig - und hatte
Zeit seines Lebens das Glück, sich nie um mate-rielle Wert kümmern
zu müssen. Aus einer wohlhabenden Familie stammend, hat er seinem
Geist stets die Freiheit gönnen können, die dieser wünschte.
Durch sein Denken von der Vielfalt der Welt und von Neugierde besessen,
ist er ein Freigeist, tatsächlich. Zeitlebens gab er sich geradezu
manisch den Gedankenwelten hin, wobei er Welten, Überwelten und Unterwelten,
Wunder und ihr Gegenteil, Träume und Tatsachen, genauso wie Philosophen
und ihre Philosophien gerne und streng voneinander zu trennen wußte.
Dies alles weniger, um die Welt durch Taten zu verändern.
Nein, Weltverbesserer ist er keiner. Er denkt und denkt viel, um die
materielle und geistige Verworrenheit der Welt, in die er geworfen worden
ist, zu begreifen und darüber Verständnis für das eine und
andere aufzubringen.
Die Welt - eben nicht nur seine, meinte er - war in Verwirrung, in
eine Konfusion, ein Durcheinander, ein Gewirr, in ein Wirrsal, eine Wirrnis,
ein Chaos, ein Wirrwarr, ein Kuddelmuddel, ein Tohuwabohu, in einen Hexenkessel
geraten.
Der Meinung war er tatsächlich.
Vicq d`Azurs Äußeres hat er selbst fast schmählich
zum unauffälligen Durchschnitt degradiert. Gleichsam gibt er das Bild
eines gutmütigen, braven Bürgers ab, entkleidet jeder monumentalen
Pose. Diese hat er sich im Geist bewahrt.
Er wollte nie ein Held sein, nie auffallen, nie im Vordergrund stehen,
wo er doch an sich im Geheimen mehr als an jeden anderen stets geglaubt
hat und auch weiterhin glaubt.
Helden sind die Verachtung wert, denkt er. Ihre schwache Menschlichkeit
leuchtet durch die geflickten und von Kugeln zerfetzten Kleider. Der Heldentod
ist ihre Pflicht. Er, d`Azur, wie er sich gerne ohne seinen Vornamen selbst
nennt, sei kein Held, er sei ein Geist. Rein oberflächlich betrachtet,
ähnelt er einem altmodischen, pensionierten Lehrer, der Nachhilfestunden
erteilt, um sich die kleine Pension zu verbessern. Sein Gesicht mit kurzgestutztem
Bart, der sein Doppelkinn ziert, über dem Hemd mit der Krawatte mit
kleinem unauffälligem Muster, bietet er einem Gegenüber eine
gutmütige, bürgerliche Figur.
Wenn man ihm begegnet, gleitet der Blick den Körper abwärts,
vorüber am Spitzbauch, der das Gilet nach vorne ragen läßt,
über die mit Hosenträgern gesicherte Hose bis zu den schwarzen,
stets geputzten Schuhen mit Verzierung auf den Vorderkappen und breiten,
rahmengenähten Laufsohlen, die ihn kräftiger und schwerer erscheinen
lassen als er tatsächlich ist.
Vielleicht sind Gedanken der Grund aller Bewegung in der Welt. Und
die Philosophen, die mich gelehrt haben, daß die Welt etwas Begreifbares
sei, sind vielleicht durch das Unbegreifliche der Welt auf diesen Gedanken
gekommen, denkt Vicq d`Azur, unsere Welt oder genau genommen, meine, ist
nichts anderes als die Wirkung meiner und anderer Gedanken, eine Einbildung,
eine Silhouette, eine Chimäre, ein Schattenriß, ein Schattenbild,
ein Scherenschnitt. Vicq d´Azur war während einiger Seminare
neben dem jungen Edwin Tyson gesessen, ja, sie hatten sich auf seltsame
Art und Weise verbrüdert oder zumindest befreundet, obwohl ein joviales
Du nie in Frage gekommen war. Das Sie war die höfliche Distanz, welche
Achtung und Ehrerbietung verlangten.
Also sprach Zarathustra und verließ seine Höhle, glühend
und stark, wie eine Morgensonne, die aus den dunklen Bergen kommt.
Diesen letzten Satz aus Nietzsches Also sprach Zarathustra hatte Vicq
d´Azur auf einen Zettel geschrieben und immer vor sich liegen gehabt.
Bis Tyson ihn gefragt hat, was es damit auf sich habe.
Zarathustra?
Gut und Böse sind doch Vorurteile Gottes, sagte die Schlange,
antwortete Vicq d`Azur. Verstehen Sie das?
Nietzsche?
Ja, die Fundamente der Lehre Zarathustras:
Neben dem Eingottglauben basiert die Philosophie Zarathustras auf den
drei Grundsätzen, gut zu denken, gut zu reden und gut zu handeln".
Tatsächlich?
Man nennt einen Menschen nicht böse darum, weil er Handlungen
ausführt, die böse sind, sondern weil diese - die Handlungen
sich so darstellen - daß sie auf Böses schließen lassen.
Was aber hat das mit Nietzsche zu tun?
Alles, Tyson.
Wir kämpfen Schritt um Schritt mit dem Riesen Zufall, und über
der ganzen Menschheit waltet bisher noch der Unsinn, der Ohne-Sinn.
Euer Geist und eure Tugend diene dem Sinn der Erde, meine Brüder:
und aller Dinge Werth werde neu von euch gesetzt! Darum sollt ihr Kämpfende
sein! Darum sollt ihr Schaffende sein!
Und die Gesetze stellen die Ordnung her?
Mit Ethik haben sie nichts zu tun. Nichts. Gut und Böse gibt es
nicht, Tyson.
Sie sind tatsächlich Vorurteile der Götter wie Nietzsche
sagte.
Für uns sind es Konventionen, Vereinbarungen, Regeln.
Ist ein Soldat gut, wenn er einen Feind erschießt?
Er gehorcht.
Eben.
Für den einen scheint er richtig gehandelt und für den anderen
ein Verbrechen begangen zu haben.
Begriff, Tyson, kommt von Begreifen. Begreifen Sie das nicht, Tyson?
Be-Greifen, als intellektuelles Er-Greifen, sapere, sapien-tia der
Wirklichkeit. Und Begriffs-Bildung meint nicht nur das Bilden von Begriffen,
sondern das Gebildet-Sein in Begriffen.
Anders war und ist es niemals möglich, aus dem komplizierten,
undurchsichtigen, flüchtig dahineilenden, scheinbar sinnlos verworrenen
und allseits von Trieben bedrängten, von Leidenschaften gepeitschten,
von Not erdrückten Dasein des Alltags jetzt und hier zum Wissen vorzustoßen.
Und sich als Mensch auf zerklüfteten und steilen Anstiegswegen zur
Wirklichkeit zu bekennen, kurz sich als Philosoph zu bewähren.
Sie wissen, wer das gesagt hat?
Unser Lehrer Amadeo Silva-Tarouca.
Wie so oft saßen sie bei einem Kaffee in der Mensa der Universität
und redeten, redeten, plauderten, stritten um nichts und alles, verloren
sich in Gedanken; Edwin Tyson, der Jüngere, und Vicq d´Azur,
der eigenartige, ältere Herr.
Edwin Tyson ist um die vierzig.
Sportlich gekleidet, setzt er sich bewußt von seinem älteren
Freund ab.
Ja, es war in einem Nietzsche -Seminar an der Karl-Franzens-Universität
in Graz, bei dem sie sich näher gekommen sind.
Ihr Lehrer war Professor Dr. Amadeo Silva-Tarouca, ein Herr von altem
Schrott und Korn, der den jungen Studenten völlig in seinen Bann zu
ziehen verstand.
Amadeo Silva Tarouca, der sich selbst gerne als AST bezeichnete und
zitierte, hat ausgehend von Nietzsche, Hartmann, Husserl die Ontophänomenologie
des Geistes entwickelt und immer wieder behauptet, daß diese nur
zu seinen Lebzeiten durch die Welt geistern werde, denn er - AST - habe
vor, sie mit ins Grab zu nehmen. Dann sei eine der unzähligen, fraglicherweise
sinnvollen oder sinnlosen Theorien aus der Welt verschwunden. So
verschwunden wie sie gekommen seien, meinte er immer wieder und lächelte
seine Zuhörer weise und sanft an.
Ach, seufzt Felix Vicq d`Azur, es fehlt nicht an beharrlichen Erinnerungen
an die Geschichte der Menschheit, in deren Verlauf Priester, Zauberer,
Bader und Sektierer im Dienst politischer Machthaber das Volk verdummt
und den Menschen die Ohren mit Märchen und Versprechen vollgeredet
hätten.
Ist es nicht so wie heute?
Eine vernünftige Staatsordnung, mein Lieber, ist erst möglich,
wenn ein aufgeklärtes, im Gebrauch seines Verstandes geübtes
Volk die Entscheidungen der Regierung oder des Parlamentes zu kontrollieren
vermag, d´AÀzur?
Das heißt doch Demokratie, verehrter Tyson, Demokratie.
Der Staat, mein lieber junger Freund, der Staat? Demokratie?
Demokratie als eine Realität mit der die Menschen der heutigen
Epoche konfrontiert sind, und nicht als ein Begriff aus der Antike, ist
das Ergebnis des Aufstiegs des Kapitalismus gewesen.
Tatsächlich, d`Azur?
Demokratie ist, wie der Bürger die Freiheit sieht.
Ich meine damit auf keinen Fall, daß es nur eine Definition von
der Demokratie gibt, oder historisch gesehen nur das Bürgertum die
Demokratie gewollt oder zu interpretieren versucht hat. Jeder glaubt an
seine Demokratie wie er an seine Freiheit glaubt.
Aha.
Gerade im letzten Jahrhundert, ist Demokratie die Forderung unterster
Schichten und Klassen gewesen, und sie ist durch die Intellektuellen und
Bewegungen dieser Schichten und Klassen erkämpft worden.
Das beweist nur, daß die Demokratie ein bürgerlicher Gedanke
ist?
Es zeigt, daß die Ideologie des Bürgertums die Kämpfe
für Freiheit und Befreiung beherrscht hat. Es ist dem Bürgertum
sozusagen gelungen, die Freiheit durch Demokratie zu ersetzen, und so die
äußerste Grenze, welche die Kämpfe der unteren Schichten
für die Freiheit erreichen konnten, und die Form ihres endgültigen
Sieges vorzudefinieren.
Es kämpfte für die Freiheit, und was sie bekamen, war das
Parlament, Vicq d`Azur?
Freiheit?
Ja, Freiheit.
Der Mensch ist Bürger zweier Welten, des Reichs der Freiheit und
des Reichs der Notwendigkeit. Die verschiedenen Bewegungen und Politiker
redeten und reden mit unterschiedlichen und manchmal gegensätzlichen
Interessen, Notwendigkeiten und Zielen von der Demokratie, und meinen sicherlich
nicht das gleiche, Tyson. Unterschiedliche politische Zustände werden
durch unterschiedliche Strömungen als Demokratie bezeichnet.
Der Staat, was stellt man sich darunter vor, Tyson?
Eine Kombination aus Legislative, Exekutive und Jurisprudenz, Vicq
d`Azur.
Der Staat, eine Ordnung, ha, daß ich nicht lache.
Wohlan! sagte Nietzsche.
Jetzt tut nur die Ohren auf, denn jetzt sage ich euch mein Wort vom
Tode der Völker. Staat heißt das kälteste aller kalten
Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem
Munde: Ich, der Staat, bin das Volk. Lüge ist´s. Schaffende
waren es, die schufen die Völker und hängten einen Glauben und
eine Liebe über sie hin: als dienten sie dem Leben. Wo es noch Volk
gibt, da versteht es den Staat nicht und haßt ihn als bösen
Blick und Sünde an Sitten und Rechten. Aber der Staat lügt in
allen Zungen des Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt
- und was er auch hat, gestohlen hat er's. In Wirklichkeit haben der Staat,
die Mächtigen im Staat, wie die Banken und Konzerne, ein Faustrecht,
das es zwar nicht gibt, in der Praxis aber fortlebt bis zum Tod.
Ich verstehe sie nicht, mein Lieber.
Was wollen Sie, Sie leben doch im Wohlstand, in Freiheit, im Luxus,
d´AÀzur.
Ein Paradoxon der Freiheit: uneingeschränkte Freiheit führt
mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Freiheit, Tyson.
Es geht nicht um mich, mein Lieber, es geht um uns. Um alle.
Die Frage nach der Souveränität eines Volkes läuft im
Grunde darauf hinaus, ob nicht irgend jemand vom Faustrecht Ge-brauch macht
und uns, das Volk darüber beherrscht.
Gerade jene, welche sich das Faustrecht genommen haben, erklären
das Volk zum Souverän.
Das Volk der Souverän der Demokratie?
Marx sagt, wenn die Souveränität im Staat existiert,
so ist es eine Narrheit, von einer gegensätzlichen Souveränität
im Volk zu sprechen; denn es liegt im Begriff der Souveränität,
daß sie keine doppelte und gar entgegengesetzte Existenz haben kann.
Ist die Souveränität, die im Staat absorbiert ist, nicht
eine Illusion?
Souveränität des Staates oder des Volkes, das ist die Frage.
Kann auch von einer Souveränität des Volkes im Gegensatz
zu der im Staat existierenden Souveränität gesprochen werden,
Vicq d`Azur?
Junger Mann, es handelt sich nicht um eine und dieselbe Souveränität,
die auf zwei Seiten entstanden ist, sondern es handelt sich um zwei ganz
entgegengesetzte Begriffe der Souveränität, von denen die eine
jene ist, die in der Regierung, im Parlament, im Staat, in den Parteien
behauptet wird; die andre ist die, von der das Volk träumt. Ebenso
wie es sich fragt: Ist Gott der Souverän, oder ist der Mensch der
Souverän? Eine von beiden ist eine Unwahrheit.
Das Volk allein, mein Herr, ohne Regierung und die eben damit notwendig
und unmittelbar zusammenhängende Definition des Ganzen genommen, ist
eine formlose Masse. Vor allem kein Souverän.
Wird unter der Volkssouveränität die Form der Republik und
der Demokratie verstanden, kann man schwer sagen, daß das Volk souverän
ist oder? Unter bestimmten Gesichtspunkten ist die Demokratie die Ablösung
der vergangenen Monarchie. Die Monarchie war nicht demokratisch, wirklich
nicht, Tyson.
In der Monarchie ist das Volk unter den politischen, monarchischen
Regeln gefangen; in der Demokratie, behauptet man, ist die Verfassung
die Selbstbestimmung des Volks.
Ja, das wird behauptet, Tyson. Eine tolerierbare Lüge.
Die Demokratie ist wie das Alte Testament, das unzähliger Verbesserungen
bedurfte. Die Praxis ist eine oligarche Bürokratie, eine Bürokratur.
Das Ideal, daß vor dem Gesetze alle gleich seien, daß es so
etwas wie Gleichberechtigung gäbe, ha, Tyson. Der Mensch ist nicht
des Gesetzes, sondern das Gesetz ist des Menschen wegen da, es ist ein
Regulativ des menschliches Daseins. Inder Monarchie war der Herrscher das
Gesetz. In der Demokratie sind die Gesetzgeber die Herrscher.
Das ist die Grunddifferenz der Demokratie zu allen anderen Staatsformen,
nicht?
Aha, Vicq d`Azur.
In der Demokratie ist der Staat das Besondere, das auf das Allgemeine
Druck ausübt. Die Franzosen haben irgendwann geglaubt, daß in
der wahren Demokratie der politische Staat untergehen müßte.
In allen von der Demokratie bestimmten Staaten ist die Staatsmacht
fast ohne Kontrolle.
Es wird zwar gesagt, die Verfassung ist das Gesetz und der Staat selbst
nur eine Selbstbestimmung des Volks. Darüber muß man sich einmal
klar werden. Die abstrakte Staatsform der Demokratie ist die Republik.
Man verstand die Republik als diejenige Staatsform, in der die Interessen
aller zur Geltung kommen; insbesondere wird die Res publica als die Staatsform
verstanden, in der die ‘libertas’, also Freiheit am deutlichsten ausgeprägt
ist. Nach römischer Auffassung bedeuten Republik und Freiheit eine
untrennbare Einheit und bedeuten fast dasselbe.
Die Abstraktion des modernen politischen Staats ist also ein
Lügenprodukt. Alles klar, Tyson?
Besitzt das Volk nun Macht oder nicht, Vicq d`Azur? Hat es die Freiheit?
Daß es schnell ein unmündiger Souverän wird, der unter
der bleibenden Vormundschaft der Mächtigen steht und nie und nimmer
seine Rechte einfordern kann, ist offensichtlich.
Sie hängen ein Schwert über alles und ihre Begierden
und Wünsche und Träume und Schäume machen sie blind.
Ach, junger Freund, es sind Götzen, denen alle gehorchen.
Tote Wortsymbole. Das Götzenbild der Demokratie. Götzen,
Götzen. Irgendwo fängt es an. Das Götzenbild der Gattung.
Seine Wurzeln liegen in der gemeinsamen Natur des Menschengeschlechts.
Dieses angeblich Gemeinsame unterscheidet uns vom Tier.
Vom Affen?
Ha.
Das Götzenbild des Geistes. Wir sitzen in einer Höhle. Der
Zugang zu dieser liegt aufwärts gegen ein Licht. In dieser Behausung
sind wir seit unserer Kindheit an Hals und Schenkeln gefesselt, so daß
wir ständig auf dem selben Fleck bleiben müssen und auch nur
nach vorne auf die Wand der Höhle schauen können. Dort sehen
wir flackernde Figuren, deren Bewegung und Sinn wir nicht deuten
können. Das Licht empfangen wir von einem Feuer, welches von oben
und von ferne hinter einem Weg und einer hohen Mauer brennt. Hinter dieser
Mauer machen Gaukler ihre Kunststücke. Was wir sehen, sind nur ihre
Schatten. Wenn einer von uns befreit werden würde und die Höhle
verließe und sich hinter die Mauer begeben würde, sähe
er, was tatsächlich geschieht. Würde er in die Höhle
zurückkehren und uns seine Wahrnehmung berichten, müßten
wir ihn der Lüge bezichtigen.Platon.Das heißt, die Schatten,
die wir sehen, wetteiferten mit der erzählten Wirklichkeit dessen,
der draußen war. Und über die lächerliche Sprache glauben
wir uns verständigen zu können.
Das tun wir doch?
Das Götzenbild der Kommunikation, des Verkehrs miteinander.
Alles baut sich auf der Macht von Worten auf.
Wir vertrauen auf die Sprache.
Auf welche? Hat doch jeder seine eigene?
Max Stirner hat es begriffen, wenn er sagte: Was ich sage, das meine
ich nicht und was ich meine, vermag das Wort nicht zu sagen.
Und?
Und nicht zuletzt der Götze der Schauspielerei, das Götzentum
der Darstellung. Der Eindruck der Aussage macht's doch.
Was, was?
Der Eindruck ist die Aussage. Die Art und Weise teilt sich mit, nicht
mehr; laut, grell, zornig, heftig, leise überzeugend. Was, fragt sich
nicht, mein Freund. Es weiß doch jeder wie unglaublich schwer es
ist das Vehikel der Wahrheit in neue Bahnen zu lenken oder vom falschen
Weg abzubringen?
Wahrheit ist die beste Lüge, junger Mann.
Ja.
Der Geist hat die Welt verlassen, und die Welt zahlt es ihm heim.
Während der Mensch immer begieriger darauf war, zu erfahren, wo
es mit ihm hingeht, fragte er sich auch unermüdlich, welche Möglichkeiten
die Zukunft brächte. Andererseits lebt er, der Mensch, ein schrecklich
alltägliches Leben; er lebt für den Tag, ganz als wäre er
wie eh und je von unmittelbaren täglichen Bedürfnissen bestimmt,
so wie in den Urzeiten die Jäger, Sammler und die Hüterin des
Feuers. Trotzdem es so ist, erfindet und vertraut er doch auf tägliche
und blödsinnige Voraussagen und Zukunftsdeutereien. Darauf ist er
eingestellt worden von Politikern, Herrschern, Staatsmännern, Mächtigen
und Demagogen. Und das macht ihn unsicher, die Nichterfüllung der
Zukunft. Für immer. Er ist mit Not gerade so organisiert, daß
er in der Gegenwart und nur im Augenblick leben kann. Und läßt
sich tatsächlich einreden, er, dieser Erdenwurm könne in der
großen Natur etwas mitgestalten und bewirken. Er plant nach dem ersten
Niedergang, den zweiten und so weiter. Er ist doch ganz und gar gerade
so organisiert, daß er in der Gegenwart und nur im Augenblick lebensfähig
ist. Er stolpert selbstverliebt seiner Zukunft entgegen. Bis es endlich
aus ist und Bumm macht.
Und Vicq d`AÀzur??
Unser Staat ist ein Ungeheuer. Wir leben nur von dem, was er uns gnädig
überläßt. Unser Besitz, unser Leben, unser Schicksal, sogar
über unser Grab hat er Verfügungsgewalt. Wir leben in den Zugeständnissen,
die der Staat uns macht, Tyson.
Sie sind ein Anarchist, d`Azur.
Und Sie, ein Nichtsnutz, ein Diener falscher Herren.
Mir ist es völlig klar, daß es von Zeit zu Zeit Revolten
geben muß, die uns von der Unmenschlichkeit des Systems befreien
wollen. Die Menschen stehen schaudernd und zitternd vor dem Monster Staat,
genau so wie sie staunend und ehrfürchtig vor den riesigen Maschinen
stehen, die sie selbst gebaut haben.
Vor dem Riesenrad.
Ja, es ist wunderbar.
Und wer hat es konstruiert?
Walter B.Basset. Ein Mensch wie wir. Wie konnte er das? Ein Genie.
Einer aus dem Volk. Ein Staatsbürger.
Der Staat, ha!
Jeder ist genau so viel Genie, wie er will.
Oder wie er braucht oder nötig hat, d`AÀzur?
Ist der Staat stark, erdrückt er uns, ist er schwach, gehen wir
an ihm zugrunde, Tyson.
Jede Politik, selbst die ungerechteste und die beste, setzt eine Auffassung
vom Menschen voraus. Und diese ist stets und immerzu einfach, unglaublich
einfach. Wenn also die Massen infolge politischer Umwälzungen
oder nach einem Glaubenswechsel einen tiefen Widerwillen gegen die Bilder
haben, die durch bestimmte Worte ausgelöst wurden, so ist es
die erste Aufgabe des wahren Staatsmannes, die Bezeichnungen zu ändern,
ohne – wohlge-merkt - an den Dingen selbst zu rühren, da diese zu
sehr an eine ererbte Geistesverfassung gebunden sind, als daß man
sie ändern könnte. Eine der wichtigsten Aufgaben der Staatsmänner
besteht also darin, die Dinge, die die Massen unter ihren alten Bezeichnungen
verabscheuen, mit volkstümlichen oder wenigstens bedeutungslosen Namen
zu taufen.
Die Macht der Worte ist so groß, daß gut gewählte
Bezeichnungen genügen, um den Massen die verhaßtesten Dinge
annehmbar und akzeptierbar zu machen, sagte Le Bon.
Die Auffassung vom Mann ohne Eigenschaften.
Wohl dem, der sagen kann "als", "ehe" und "nachdem"! Es mag ihm schlechtes
widerfahren sein, oder er mag sich in Schmerzen gewunden haben: sobald
er imstande ist, die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes
wiederzugeben, wird ihm so wohl, als schiene ihm die Sonne auf den Magen,
sagte Musil.
Es geht doch darum, über den Menschen zu verfügen, sich seiner
zu bedienen, ja, ihn brauchbar zu machen und zu gebrauchen. Welchen Menschen
stellen sich die Staatsmänner, die Politiker vor, d`AÀzur?
Ich frage mich, ob nur ein einziger unter den Politikern ist, der sich
die Zeit nimmt und sich die Mühe machen würde, darüber nachzudenken
wie ein Mensch glücklich werden könnte?
Alle wissen aber vom Unglück der anderen Menschen. Wenn sie gut
sind, wollen sie zumindest das verhindern. Aber Glück? Ha.
Gut, ich nehme stets das Gegenteil an.
Der moderne Mensch ist ein Sklave der Entwicklung, die rasend vor sich
geht.
Es gibt eben keinen Fortschritt, der nicht zur Knechtschaft wird. Computer,
Internet, Monitore, Walkman, Lautsprecher, Bild-schirme. Informationsverschmutzung.
Die Freiheit und die allzu mächtigen Mittel, die sie zur Verfügung
weniger hat, dröhnen uns in den Seelen. Voll sind unsere Köpfe
mit sinnigen und unsinnigen Meldungen über alles und nichts, uns durchbohren
täglich, stündlich, immer-zu sensationelle Nach-richten, Neuigkeiten.
Die Werbung, eine der größten Übelkei-ten unserer Zeit,
beleidigt die Augen, unsere Seele, unsere Gefühlswelt, verfälscht
sämtliche Entscheidungen, die wir über die Welt zu treffen hätten,
verschandelt die Welt an sich, verdirbt alle Qualität und Entscheidungsfreude,
allen Elan, allen Mut, alle Kritik, beutet alles aus und vermischt Mörder
mit Opfern. Gut mit Böse, alles mit nichts. All dies trifft uns ins
Gehirn.
Ach, Lieber, Sie reden und reden und reden. Und wie geht es Ihnen sonst?
Trinken Sie etwas mit mir? Nach dem vielen Reden?
Trinken Sie lieber, mein Herr, sie brauchen es dringend.
Sicher, ich brauche es.
Ach, wir entfernen uns immer schneller von den Lebenden: bald wird
man uns aus der Liste streichen. Das Verschwinden.
Es ist das einzige Mittel, um am Vorrecht der Toten teilzuhaben.
An welchem Vorrecht?
Nicht mehr zu sterben.
Nietzsche, fröhliche Wissenschaft, nicht?
Ja, ja, ja.
Wer sonst?
Die Chronik der geistigen Wunder schimmert fahl und zweideutig.
Carl Einstein, nicht?
Alle Größen dieser Welt haben ihre geistige Geschichte erfunden
und sich darinnen bluffend heroisiert. Ja, haben Sie sich damit in die
verlogene Historie unserer Zivilisation eingeschrieben? Heroen? Zivilisation?
Wer sind denn die Helden? Die, die gestorben sind? Dann ist doch jeder
ein Held, eben alle, die auf dieser verdammten Welt leben?
Meinen sie Napoleon, Hitler, Metternich, Franco, Bismarck, Gorbatschow,
Jelzin, Putin, Clinton, Bush . Daß ich nicht lache, d`AÀzur.
Hauptelement der modernen Geschichtsschreibung ist doch die Erfindung
von unglaublichen Persönlichkeiten und ihren sogenannten Taten. Nixon
, Clinton, Adenauer, Mao Tse Tung, Helmut Kohl ? Waren die wirklich so
wichtig? Die Geschichte lügt immer. Die Phrase der Französischen
Revolution. Egalité, Fraternité, Liberté ou la Mort.
So hieß es doch? Die Revolutionsgerichte haben unzählige, unschuldige
Köpfe rollen lassen, d`AÀzur.
Viele sterben zu spät, und Einige sterben zu früh. Noch klingt
fremd die Lehre: stirb zur rechten Zeit! Stirb zur rechten Zeit: also lehrt
es Zarathustra, Tyson.
Eine Behauptung, d`Azur.
Eine Phrase.
Hinkt die Wirklichkeit nicht hinter Ihren Worten her?
Wer hat die Atombomben werfen lassen über Hiroshima und Nagasaki?
Ein demokratischer Präsident, nicht?
Harry Truman.
Nein, nein, Schuld hatte der Kommandant des Bombers.
Ist auch dafür wahnsinnig geworden.
Ha, daß ich nicht lache.
Die Menschen, die in unserer Welt das Sagen haben, also die Führer,
ändern sich nur unter erbärmlichen Zwängen. Wenn sie sich
widerwillig zu etwas entschlossen haben, behaupten sie die Urheberschaft
der Ideen der Änderung, Tyson.
Obwohl man die Welt asphaltiert hat, will man auf der grünen Wiese
liegen, meinen Sie das, d`Azur.
Nein.
Zurück gibt es nicht, sagen die Führer, bauen wir doch Sauerstoffzelte
oder streichen wir die Häuser grün?
Ach, Sie, halten Sie den Mund.
Aus dem abgeklatschten Politikertum der letzten Jahrzehnte ist ein
lärmender Reklamebetrieb geworden.
Und? Hören sie noch hin? Lüge und Wahlfang. Die Politiker
betrachten die Menschen als Objekt, das man ruhig stellen kann.
Und das Volk verliert nie das Vertrauen?
Hat es jemals gezweifelt? Der Einzelne vielleicht, aber das Volk?
Niemals.
Alle Mächtigen betreiben und betrieben stets einen schamlosen
Geniekult und propagierten und propagieren die eigene Vergötterung.
Ja, und manchmal tritt einer zurück, in den unverdienten, überbezahlten
Ruhestand.
Ach, Sie. Ach, Sie.
In der Demokratie wird immer Stille-Post gespielt.
Richtig, d`Azur.
Jeder Politiker beansprucht für sich das Lügenmonopol und
behauptet die Wahrheit. In Wirklichkeit begreifen sie auch nur ihr kleines
Leben, ihre winzige Karriere mit dem Blick auf das verlogene Geschichtsbuch
und den damit verbundenen Profit. Das ist eben Menschlichkeit. Menschliche
Regungen.
Die Gefühle der Mächtigen, nicht?
Alle sitzen in einem Boot und rudern und rudern und rudern. Und am
Ufer steht das Volk und staunt und staunt und staunt.
Ja, das Volk kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Oder wendet sich ab. Ein bißchen Sozialstaat genügt ihm,
dem Volk. Eine Lohnerhöhung um die Inflationsrate, ein Fernsehapparat
mit Fernbedienung und 100 Kanälen, ein voller Kühlschrank, ein
Heimtrainer für die zu dicke Frau, ein Mittelklassewagen in der Wellblechgarage.
Und Billa, Zielpunkt und Hofer vor der Türe. Das ist Freiheit. Und
irgendwo draußen, Außerlandes ein paar inszenierte Revolten,
ein paar Kriege und ein paar Tote. Was für eine Welt?
Ja, was für eine Welt? Die Welt der Reichen und Tüchtigen.
Die Banker spielen unbekümmert mit Waffen, Rohstoffen, Getreide,
Banknoten, Gold und Geld und was weiß ich noch. Die Wirtschaft, wie
sie sich heute bietet, verkommt in einer spekulativen Willkür, da
jede Regierung, jeder kleine und große Funktionär bestechlich
ist und um seine Macht und Profilierung kämpft. Es ist doch so, nicht?
Ja, es geht jedem um die Freiheit. Tatsächlich jedem.
Denen oben noch viel mehr, weil sie mehr davon verstehen.
Von was, d`Azur?
Von der Freiheit, Tyson.
Das Paradies liegt hinter einer Mauer aus Säbeln und Kanonen.
Die Freiheit kostet viel, wenn nicht das Leben.
Jeder Mensch träumt von der Freiheit und wechselt wöchentlich
seine Meinung darüber. Das bewirken die Medien, sicher, die Lautsprecher
und Bildschirme. Und die Vergnügungs- und Verdrängungsspezialisten
der elektronischen Medienpäpste benützen alles, um ihre gehemmten
Empfindungen unter das Volk zu bringen und es damit taub und blind zu machen.
Alle zehn Minuten das Neue, News der Welt. Jede Katastrophe, jeder Krieg,
jeder Flugzeugabsturz, jedes Naturereignis, jede Überschwemmung, jeder
Vulkanausbruch, jeder Amokläufer, alles erfahren wir, nur um von uns
abge-lenkt zu werden. Die Endphase der kapitalorientierten demokratischen
Freiheit ist durch einen atemlosen Wettkampf um die Welt und ein atemloses
Angebot und zugleich durch die Auflösung jeder Gemeinschaft geprägt.
Der demokratisch äußerliche Konformismus hat jeden zum gespiegelten
Doppelgänger und matten Echo des anderen oder zur sagenhaften Ausnahme
gemacht. Der Mensch – jeder – führt glücklich sein Schattendasein
hinter dem Medienzauber. Und ganz oben agieren und reagieren die Politiker
als blasse Komparsen einer profitmaximierenden Wirtschaft. Alles ist weltweit.
Global. Das Volk – also wir – fallen tatsächlich auf alles herein
und leben in den Lehn-sesseln vor dem Fernseher in der Utopie der privaten
Freiheit.
Freiheit? Welche? Meine? Ihre? Eine? Die? Für wen? Freiheit für
den normalen Bürger?
Ja, der Normale ist der Risikolose. No risk, no fun.
An Stelle des konkreten Menschen, der leidet, arbeitet, wünscht
und träumt, ist doch schon längst ein vollendetes, abstraktes,
angeblich objektivierbares Wesen getreten.
Eine Idealkonstruktion. Und der Mythos vom geheimen, neuen Wesen wird
täglich lanciert und bis zur Manie gesteigert.
Wo ist er denn, der neue Mensch? Der Mensch ist vor allem in der Mehrzahl
ein Kuli, der den Karren zieht, ein Säugling mit Bart, der zu seinem
Arbeitsplatz humpelt, ein riesiges Baby, das vom Staat eine Belohnung kriegt,
wenn es das Maul hält. Die Chronik der geistigen Wunder schimmert
fahl und zweideutig. So ist es. Carl Einstein
Langeweile, ist eine Wurzel allen Übels, sagt Kierkegaard.
Alle Menschen sind langweilig. Und doch ist es, auf Sie, mein Herr,
bezogen, doch recht sonderbar, daß Langeweile, die selbst eine so
ruhige und gesetzte Eigenschaft zu sein scheint, eine Kraft besitzt, etwas
in Bewegung zu setzen? Nämlich jene Gedanken zu erzeugen, die Sie
äußern, Tyson.
Entspringt Ihre politische Meinung nicht einer in Ihrem Wohlstand ruhenden
Langeweile?
Hoppla, hoppla.
Sie unterstellen mir einen Überschwang an politischem Interesse
aus reiner Langeweile?
Ja, das tue ich, d`Azur.
Sie reagieren wie ein Kind.
Solange sich Kinder unterhalten, geben sie Ruhe.
Wenn sie sich zu langweilen beginnen, werden sie ausgelassen und unerträglich.
Meinen Sie, daß die Götter aus reiner Langeweile den Menschen
und die Welt erschaffen haben?
Vielleicht.
Adam langweilte sich, weil er allein war, darum wurde Eva erschaffen,
Eva langweilte sich mit der Schlange, dann langweilten sich Adam und Eva
gemeinsam und schafften sich aus Langeweile Kinder an, dann langweilten
sich Adam, Eva und Kain und Abel. Kain erschlug Abel vielleicht aus Langeweile.
Mehr um sich zu zerstreuen als um die Langeweile zu beseitigen, kamen sie
auf den Gedanken einen Turm zu bauen, so hoch, daß er in den Himmel
ragt. Diese Arbeit, die sie sich aufbürdeten, war ebenso langweilig
wie der Turm hoch war, und ein Beweis dafür, wie sehr die Langeweile
die Welt beherrschte.
Und der Staat? Beschleunigt er seinen Untergang aus Langeweile, d`Azur?
Vielleicht, Tyson.
Man will den Staatsbankrott durch Steuern beseitigen. Was gibt es Langweiligeres?
Hie und da schafft es einer seine Schulden nicht zu bezahlen, sicher. Er
wird bewundert.
Macht der Staat nicht das gleiche? Er soll doch einen Kredit nehmen
von 500 Milliarden und man verwende sie nicht zur Bezahlung der Staatsschulden,
sondern gebe sie dem Volk. Alles würde gratis sein; man geht gratis
ins Theater und Kino, in die Gaststätten, gratis zu den Huren, fährt
gratis mit dem Taxi zur Arbeit, arbeitet gratis, weil ja alles gratis ist,
denn wenn alles gratis ist, gibt es keine Schulden, keine Mächte,
nichts.
Ja, wenn man das Geld abschaffen würde, wäre die Welt nicht
ärmer.
Es gibt doch andere sinnvolle Arten, Geld zu erwerben? Das Spiel, die
Karten, Roulette, Baccara, Poker, Wetten. Die Konditionierung der Arbeit
mit Geld desavouiert vor allem die Arbeit, nimmt ihr den Lustaspekt.
Arbeit wird zur Leistung, etwas, das mit Anstrengung, mit Mühe
zu tun hat.
Eben nicht. Ja, im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein
Geld verdienen.
Arbeit ist zum Geldverdienen denkbar ungeeignet, ja. Es entwürdigt
die Arbeit, macht sie zum Mittel eines Zweckes.
Aber es muß Arbeit geben.
Sicher soll es Arbeit geben, aber ohne Bezahlung.
Jeder Bürger hat ein Recht auf ein Mindesteinkommen. Praktisch
sein Spielkapital, das für alle gleich viel ist. In staatlichen Spielhallen,
Casinos, Kartenhäusern, Salons und Wettbüros hat er dann Gelegenheit
sein Geld zu riskieren, es zu vermehren oder zu verlieren. Voraussetzung
ist allerdings die Ausbildung zum Spiel. Kinder müssen schon in der
Grundschule ein Fach namens Spiel im Programm haben.
Sie gehen ziemlich weit.
Warum nicht?
Ich habe niemals mehr besessen, als ich gerade gebraucht habe.
Sie, Lieber, haben immer mehr gehabt, als sie verdient und benötigt
haben, oder?
Nein, nein.
Ach, was haben Sie gegen das Prinzip: Jeder lebe nach seinem Bedürfnis,
kann doch keiner etwas einwenden. Jeder soll das machen, wofür er
geboren ist und was seinen Neigungen entspricht. Koprophile reinigen die
Toiletten, Gewalttäter werden Holzfäller und Eisenbieger, Nymphomaninnen
ergreifen den Beruf der Demi-Dames oder Huren wie es heißt.
Ach, sie sind wahnsinnig, d`Azur.
Ja, die Welt, und vor allem meine Welt ist eine Vorstellung, ein Bild,
ein von einer gleichsam inneren Notwendigkeit ausgehendes, verinnerlichtes
Bild. Und doch, sogar dieser Wohlstand ohne Reichtum würde früher
oder später langweilig werden und man würde wiederum Geld oder
Münzen, kleine Jetons erfinden, um sich zu zerstreuen oder dem langweiligen
Leben ein wenig Spannung zu verleihen. Alles ist also langweilig, das geben
Sie doch zu?
Und Sie sind aus reiner Langeweile politisch, d`Azur?
Halten Sie den Mund, Tyson.
Ist doch so.
Diejenigen, die andere langweilen, unterhalten sich selbst, diejenigen,
die sich nicht langweilen, langweilen gewöhnlich die anderen. Die
sich nicht langweilen, sind normalerweise jene, die viel zu tun haben.
Haben Sie viel zu tun? Sie haben nichts zu tun. Hätten sie etwas
zu tun, wären Sie noch langweiliger als jetzt. Da Sie nichts zu tun
haben, langweilen Sie sich zwar, doch aber nicht mich. Müßiggang
ist aller Laster Anfang.
Sie haben es notwendig.
Müßiggang ist keineswegs aller Laster Anfang, im Gegenteil,
er ist göttlich, unter der Voraussetzung, man langweilt sich nicht.
Die olympischen Götter langweilten sich nie. Sie lebten glücklich
im Müßiggang.
Die Langweile ist die Wurzel allen Übels, sie ist es, die man
fernhalten muss, Tyson.
Sie reden Stumpfsinn, d`Azur.
Ich?
Und Sie?
Sie sind ein Mensch, dessen Geschwätz ich mir notwendigerweise
anhören muß. Bei jeder Gelegenheit sind Sie mit einem kleinen
philosophischen Vortrag zur Stelle, mit einem Kommentar, einer beiläufigen
Bemerkung. Der Verzweiflung nahe bemerke ich, daß Ihnen das viel
Kraft kostet, daß Sie damit ihr langweiliges Wesen beseitigen wollen.
Das ist Unterhaltung, echte Unterhaltung. Ja, manchmal macht es mir sogar
Freude, sie anzuspornen. Aber Sie reden weiter und reden und reden und
reden, Sie reden doch nur.
Ich denke; alles und nichts, Tyson.
Ich bewundere Ihre Überheblichkeit. Jeder gescheite Kopf ist doch
erbärmlich gegen Sie. Was das Genie mit Bemühung äußert,
sagen Sie aus Langeweile oder?
Das Talent, etwas zu schaffen, wofür keine festen Regeln formulierbar
sind, nennt Kant Genie.
Verwendete Literatur:
(abgesehen von den Zitaten, wo Autor oder Werk
genannt worden sind, gehen in den Dialog das Gedankengut folgender Bücher
ein)
Bakuninn Michael, in: http://www.comlink.de/staatlichkeit_-anarchie.html
Buhr Georg Klaus, Manfred, Philosophisches Wörterbuch,
Leipzig, 1976
Caroll Lewis, Alice's Adventures in Wonderland.
in: http://www. Hypies.com/ Kinder-/2clocks2.html
Carus Gustav, Psyche, Kröner, 1941
Einstein Carl, Fabrikation der Fiktionen, Rowohlt, 1973
Fabri Albrecht, Der rote Faden, List, 1958
Fabri Albrecht, Stücke, Spiegelschrift 11, 1971
Fabri Albrecht, Der schmutzige Daumen, 2001, 2000
Gadamer Hans-Georg, Philosophisches Lesebuch 1-3, Fischer,
1992
Girnus Wilhelm, Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie,
Akademie Verlag, Berlin, 1974
Goodman Nelson, Weisen der Welterzeugung, Suhrkamp, 1990
Groddeck Georg, Das Buch vom Es, Ullstein, 1978
Kierkegaard Sören, Entweder – Oder, 1, 2, dtv klassik,
1988
Lafargue Das Recht auf Faulheit, trotzdem, 1999
Le Bon, Psychologie der Massen, Kröner 1951
Leiris Michel, Tagebücher 1922-89, Droschl, 1996
Lorenzn Konrad, Das sogenannte Böse, dtv, München
1983,
Marinetti Fillipo Tommaso, in: Felix Philipp Ingold,
Literatur und Aviatik, Birkhäuser, 1978
Marx Karl, in: http://www.mlwerke.de/me40/me40_510.htm
Mauthner Fritz, Wörterbuch der Philosophie 1-3,
Meiner, 1924
Musil Robert, Der Mann ohne Eigenschaften, Rowohlt, 1952
Nietzsche Friedrich, Werke in zwei Bänden, Kröner,
1930
Ryle Gilbert, Der Begriff des Geistes, Reclam, 1978
Silva-Tarouca Amadeo, Weltgeschichte des Geistes, Pustet,
1939
Silva-Tarouca Amadeo, Thomas Heute, Herder, 1947
Sovsky Wolfgang, Traktat über die Gewalt,
Fischer 96
Stirner Max, Der Einzige und sein Eigentum, Reclam, 1972
Valéry Paul, Cahiers/Hefte 1-6, Fischer, 1987
Zimmer Dieter E., Tiefenschwindel, rororo, 1995