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Essays

Vilém Flusser

Das Problem, das ich behandeln will, ist gewiß von allen, deren Absicht es ist, über ein “gelehrtes” Thema zu schreiben, erlebt worden. Es ist folgendes: Soll ich meine Gedanken in einem akademischen Stil formulieren (d. h. entpersönlicht) oder soll ich mich in einem lebendigen Stil (d. h. meinem Stil) ausdrücken? Die Entscheidung, die ich treffen werde, wird die Arbeit grundsätzlich beeinflussen. Es geht nicht nur um die Form, sondern es geht auch um den Inhalt. Es gibt keinen einzigen Gedanken, der auf zwei Weisen auszudrücken wäre. Zwei von einander verschiedene Sätze sind zwei von einander verschiedene Gedanken. Die Entscheidung, ein gelehrtes Thema entweder in akademischer oder in lebendiger Form zu behandeln, bedeutet, dieses Thema von verschiedenen Standpunkten aus anzugehen. Es werden andere Argumente vorgebracht, andere Entscheidungen werden gefaßt, und das Thema selbst wird nur scheinbar das gleiche sein. Die Arbeit wird vom Stil wesentlich geformt.
Bei einem nicht gelehrten Thema gibt es dieses Problem nicht. Der akademische Stil bietet sich nicht als Alternative an. Der akademische Stil ist ein besonderer Stil. Er verbindet intellektuelle Ehrlichkeit mit existentieller Unehrlichkeit, weil derjenige, der den akademischen Stil anwendet, den Intellekt einsetzt und sich seiner eigenen Verantwortung entzieht. Charakteristischerweise meidet der akademische Stil das Fürwort “ich”. Er ersetzt das “ich” durch das bombastische (obwohl scheinbar bescheidene) “wir” oder “man”, das nicht kompromittiert. Ich leugne nicht die Schönheit des akademischen Stils. Es ist die Schönheit der Starre, obwohl nicht notwendigerweise der Starre des Todes (“rigor mortis”). Es ist die Schönheit, die in der Mathematik und formalen Logik erstrahlt, und diese ist auf eine gewisse Weise für den Intellekt charakteristisch. Ich werde aber behaupten, daß der Stil eine Pose ist. Niemand denkt akademisch. Jeder täuscht vor, so zu denken, jeder zwingt sich, in dieser Form zu denken. Der akademische Stil ist das Ergebnis dieser Bemühung (einer mentalen Disziplin, wenn Sie wollen), infolgedessen Resultat des ersten Gedankens. Der akademische Gedanke ist ein “second thought”, der zweite Gedanke, er ist die Übersetzung des ersten spontanen Gedankens. Er ist nicht spontan, er ist überlegt. Die Entscheidung zwischen dem akademischen und meinem Stil zu wählen, ist meine Entscheidung. Ich werde entweder spontan oder akademisch schreiben.
Wie bei jeder Entscheidung gibt es auch hier das Problem der Verantwortung. Der Akademismus übernimmt die Verantwortung für die Starre, die Gültigkeit des Arguments, und vermindert die Verantwortung des Autors, als eines Menschen aus Fleisch und Blut (wie es Unamuno sagen würde). Der lebendige Stil übernimmt diese Verantwortung. Seine Gültigkeit hängt von der Gültigkeit der Werte desjenigen ab, der argumentiert. Es sind zwei verschiedene Arten, sich zu engagieren. Es ist denkbar, daß das Engagement vom Thema abhängt. Ein nicht akademisches Engagement beim Thema “Anatomie der Küchenschaben” (obwohl es die “Verwandlung” von Kafka gibt) ist schwer vorstellbar. Ich muß aber gestehen, daß mir hier sogar die Vorstellung eines akademischen Engagements schwer fällt. Eine authentische Abhandlung über die Anatomie der Küchenschaben geht immer weit über dieses Thema hinaus. Es gibt immer eine Sorge um ein Detail, das später in einen bedeutenderen Kontext einbezogen wird. Und sollte es so sein, wird auch das Problem des Stils entstehen. Das Beispiel ist indessen ganz ausgefallen. Ich glaube, daß im Fall der Anatomie (oder in ähnlichen Fällen) die Wahl ganz “natürlich” auf den Akademismus fallen wird. Das Problem wird sich aber mit seiner ganzen Macht stellen, sobald das Thema die Sozialwissenschaft oder die Philosophie sein wird. Und mit diesem Thema will ich mich befassen.
Ich werde Arbeiten zu Themen, die im akademischen Stil behandelt werden, als Abhandlungen bezeichnen, und jene im lebendigen Stil als “Essays”. Die Entscheidung, eine Abhandlung oder ein Essay zu schreiben, ist, streng genommen, eine existentielle Entscheidung. Sie wird meine Einstellung zum Thema und zu den Lesern meiner Arbeit, folglich zu “meinen anderen”, bezeichnen. Im Fall einer Abhandlung werde ich mir das Thema überlegen und werde es mit den anderen diskutieren. Im Fall eines Essays werde ich mich in mein Thema versetzen und werde mit meinen anderen einen Dialog führen. Im ersten Fall werde ich mein Thema zu erklären versuchen. Im zweiten Fall, werde ich mich auf das Thema einlassen. Im ersten Fall werde ich mich bemühen, das Thema für meine anderen anzunehmen und die anderen zu informieren. Im zweiten Fall werde ich mich selbst annehmen und werde versuchen meine anderen zu ändern. Meine Entscheidung wird also von der Art abhängen, wie ich mein Thema und meine anderen ansehe. Es wird folglich von meiner Identität abhängen. In der Abhandlung interessiert das Thema. Im Essay bin ich und meine anderen das Thema des Themas. In der Abhandlung interessiert das Thema, im Essay bin ich, sind wir, mitten im Thema. Die Entscheidung zu einer Abhandlung deexistentialisiert. Es ist die Entscheidung zugunsten des “man”, des Publiken, des Objektiven.
Jetzt soll die Entscheidung zugunsten eines Essays erwogen werden. Wenn ich mich für ein Essay entscheide, für meinen eigenen Stil und das Aufmichnehmen meines Themas, laufe ich Gefahr. Die Gefahr ist dialektisch: entweder daß ich mich im Thema verliere, oder daß ich das Thema selbst verliere. Das sind die zwei aneinandergrenzenden Gefahren, sobald ich mich mit dem Thema identifiziere. Nehmen wir an, daß ich ein Essay über die Übersetzung und Übersetzbarkeit schreiben möchte. Das Thema ist gelehrt, und ich hätte folglich die Form einer Abhandlung wählen können. In diesem Fall hätte ich mich auf gelesene Autoren berufen, hätte diese Autoren in der Bibliographie und im Text genannt, um meine eigene Verantwortung zu mindern. Später hätte ich einige meiner Erwägungen zugefügt. Die Themen wären deutlicher geworden und meine Leser informierter.
Ich habe das Essay gewählt. Das Problem der Übersetzung und der Übersetzbarkeit nimmt, wie jedes existentielle Thema, kosmische Ausmaße an: es schließt alles ein. Es schließt zum Beispiel das Problem der Erkenntnis ein, die zu einem Aspekt der Übersetzbarkeit wird. Es schließt den Wert ein, der zum Aspekt der Gültigkeit der übersetzten Sätze wird. Es schließt das Problem der Bedeutung und des Absurden ein, die zu einem Aspekt der Grenzen der Übersetzbarkeit werden. Kurz: Ich beginne mein Thema zu verlieren, weil ich mich mit dem Thema identifiziere, und zugleich beginne ich mich selbst darin zu verlieren, weil ich mich selbst mit den verschiedenen Aspekten zu identifizieren beginne. In diesem Fall werde ich mir selbst zum Problem der Übersetzung, nämlich als Vielfalt von Systemen, die untereinander und auf ein Metasystem übersetzbar sind. Und der Stil meines Essays beginnt mein komplettes Engagement zu spiegeln, zu artikulieren und zu formulieren. Das ist die Gefahr des Essays, ist aber zugleich auch seine Schönheit. Das Essay ist nicht nur die Artikulation eines Gedankens, sondern es ist das Ziel einer engagierten Existenz. Das Essay bebt in dieser Spannung zwischen den Gedanken und dem Leben, und zwischen Leben und Tod, die Unamuno “Agonie” nannte. Deshalb löst das Essay sein Thema nicht, wie es die Abhandlung tut. Das Essay erklärt nicht sein Thema und informiert, in diesem Sinn, seine Leser nicht. Im Gegenteil, es verwandelt sein Thema in ein Rätsel. Es verwickelt sich im Thema und verwickelt seine Leser darin. Das ist seine Attraktion.
Die Philosophie und die Wissenschaften schwanken zwischen der Abhandlung und dem Essay. Deshalb können wir von akademischer und essayistischer Philosophie und Wissenschaft sprechen. Dieses Schwanken ist vielleicht ein Aspekt zwischen “klassisch-romantisch”, oder des Pendelns zwischen “apollinisch-dionysisch” (um mit Nietzsche zu sprechen). Um einige Beispiele anzuführen: Die Physik in der Renaissance ist essayistisch (Leonardo, Gallilei), und akademisch ist die Physik des Barock. Bruno stirbt für die Physik, was für Volta unvorstellbar wäre. Die Biologie des neunzehnten Jahrhunderts ist essayistisch (Darwin), und akademisch ist die Biologie des zwanzigsten Jahrhunderts. Die analytische Psychologie ist essayistisch und akademisch ist der Behaviourismus. Man sage nicht (wie die Beispiele vielleicht anzudeuten scheinen), daß jede Disziplin mit einem Essay beginnt, um mit einer Abhandlung zu enden. Es gibt Beispiele für eine umgekehrte Tendenz. Einer dieser Fälle scheint mir gegenwärtig die Soziologie zu sein. Aber das wichtigste Beispiel für dieses Pendeln ist evident die Philosophie. Es gibt zwei Philosophien, und der Dialog zwischen ihnen scheint ein Dialog unter Tauben zu sein. Die essayistische Philosophie mit Plato, dem heiligen Augustin, Eckehardt, Pascal, Kierkegaard, Nietzsche, Camus, Unamuno. Und die akademische Philosophie mit Aristoteles, dem heiligen Thomas, Descartes, Spinoza, Hegel, Marx, Carnap. Beide Philosophien befassen sich mit den gleichen Themen, aber nur scheinbar. Das macht den Dialog zwischen ihnen so schwer. Wenn ich nämlich das Denken eines akademischen Philosophen entkräfte, habe ich seine Abhandlung entkräftet. Es genügt indessen nicht, einen Gedanken zu entkräften, um ein Essay ganz desavouieren. Dafür müßte die ganze Einstellung deautorisiert werden. Die Verwundbarkeit des Akademismus ist anders als die der Essayistik. Infolgedessen ist es schwieriger, Unamuno zu desavouieren als Carnap. Wenn ich Carnap kritisiert habe, habe ich nur sein Denken kritisiert, wogegen wenn ich Unamuno kritisiere, nichts von ihm übrig bleibt.
Der Leser kann einwenden, daß ich mit der Antinomie “Abhandlung-Essay” enorm übertrieben habe. Daß zum Beispiel die Essays von Hume echte Abhandlungen sind, und daß der Tractatus von Wittgenstein in Wirklichkeit ein Essay ist. Ich stimme damit nicht überein. Ich werde nicht leugnen, daß es in den großen Abhandlungen inspirierte Momente gibt, die den Charakter der Abhandlung ändern. Ich werde nicht leugnen, daß es in großen Essays Inseln gibt, in denen das Thema akademisch behandelt wird. Ich bestehe aber darauf, daß die Entscheidung der Arbeit vorangeht und ihr ganzes Klima endgültig bestimmt. Es genügt, ein “gelehrtes” Buch zu öffnen, um sofort das Klima zu spüren. Und es genügt, die Bedeutung der Freiheit zu erleben, die der Entscheidung für den Stil meiner Arbeit vorangeht.

Auf den brasilianischen Universitäten herrscht der Akademismus, möglicherweise als Reaktion auf den essayistischen Geist, der fast bis in unsere Tage vorherrschte. Universitäten, (wie es ihr Name sagt), dürfen nicht einseitig sein, wenn sie die Gelehrsamkeit, in einem weiteren Sinn beanspruchen. Sie sollten der Punkt sein, an dem die Verachtung des Akademismus vor der Essayistik und der Ekel der Essayistik vor dem Akademismus, einander überholen. Und das, insbesonders in einem Moment, in dem, meiner Meinung nach, der Pendel der Philosophie (und auch gewisser Wissenschaften) zur Essayistik neigt. Es war das Ziel dieses Artikels, der gewiß in die Kategorie der Essays eingereiht werden muß, diese Erwägungen zu provozieren.

Der Text wurde wahrscheinlich 1967 verfaßt. Edith Flusser übertrug ihn aus dem Portugiesischen ins Deutsche. Er wird in den manuskripten 141, mit freundlicher Genehmigung von Frau Flusser, zum ersten Mal publiziert.

aus Manuskripte 141/98


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