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Informationsgesellschaft. Annäherung an eine Metapher


© by Frank Hartmann

Im politischen Programm der europäischen Gesellschaft ist die neue Mediensituation festgeschrieben worden: die populäre Metapher von der Informationsgesellschaft, 1994 geprägt im sogenannten Bangemann-Report an den Rat der Europäischen Union, verspricht offene Kommunikationsstrukturen durch eine Liberalisierung der nationalen Telekom-Monopole, spielt aber auch mit der rein technologischen Realisierung von gesellschaftlichen Versprechungen. Der ökonomische Hintergrund für damit verbundene Euphorien ist das Wachstum eines Wirtschaftssektors, der etwa doppelt so schnell vonstatten geht wie der Rest der Weltwirtschaft. Mit Informations- und Kommunikationstechnologien werden Milliarden umgesetzt – die politische Legitimation dieser Vollendung des modernen Industrialisierungsprozesses folgt auf den Fuß.

Der folgende Text ist entnommen aus:
Frank Hartmann (Hg.): Informationsgesellschaft. Sozialwissenschaftliche Aspekte
Wien: Forum Sozialforschung 1998
ISBN 3-901339-03-5
Brosch., 192 Seiten, ÖS 280,--/DM 40,--

War vor kurzer Zeit noch computervermittelte Kommunikation die Domäne von wenigen Experten, und digitale Technologie eine Sache für Freaks, so sind die Phänomene der neuen Informationstechnologien und der elektronischen Vernezung inzwischen von soviel politischer, wirtschaftlicher und kultureller Relevanz, daß jetzt von einer Informationsgesellschaft die Rede ist. Diese populäre Metapher verspricht offene Kommunikation und die Realisierung von gesellschaftlichen Vorstellungen, die jenseits der durch die industrielle Produktion geprägten Wertsphäre angesiedelt sind. Eine ihrer wesentlichen Manifestationen ist das "Netz", ein ursprünglich amerikanisches Produkt des Kalten Krieges zur Absicherung von Kommunikationsstrukturen, dessen transnationale infrastrukturelle Ausweitung die technische Basis für eine neue globale Kommunikationsstruktur ebenso geschaffen hat wie für eine neue Form der Wertschöpfung, die Informationsökonomie der multimedialen Mehrwertdienste.

Die europäische Gesellschaft verwaltet selbstgefällig ihr gewichtiges historisches Erbe und tut sich dementsprechend schwer im Umgang mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien. Das ist zunächst nicht einsichtig: schließlich sind die entscheidenden technischen Innovationen der Moderne (Telefon, Fax, Fernsehen, Computer, World Wide Web) zumindest teilweise europäische Erfindungen bzw. Entwicklungen. Das vorherrschende kulturelle Weltbild wirkt aber vor allem hinsichtlich der neuen Medienanwendungen hemmend. Der gesellschaftliche Bedarf an der Herausbildung und Ausformung dieser Dinge ist bei weitem unterschätzt, während der bewährte europäische Kulturpessimismus mit seiner Logik des Zerfalls publizistisch immer prominenter wird. Das Internet wird unter anderem als das Produkt einer visionären Utopie gesehen, einer „kalifornischen Ideologie“, die mit der gesellschaftlichen Realität nichts gemein hat. Der expandierende Datenraum, der sogenannte Cyberspace, gilt eher als eine technische Chimäre, denn als der soziale Zusatzraum, den er für die Organisation neuer Formen der Öffentlichkeit im wesentlichen darstellt.

Während seit Anfang der neunziger Jahre in den USA staatlicherseits die Information Highways ausgebaut werden, deklariert die europäische Union im Sinne der globalen Wettbewerbsfähigkeit die hochsubventionierte Transformation ihrer Gesellschaft zur Informationsgesellschaft. In allerhand Expertisen dazu macht sich eine blumige Rede von den ,tiefgreifenden Veränderungen’ und den damit verbundenen ,Herausforderungen’ breit, während die konservative Kulturkritik zum Kampf gegen die angebliche ,Informationsflut’ und andere Auswüchse einer wildgewordenen Mediengesellschaft bläst. Das zerstört vor allem einmal den Boden für eine profunde sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den betreffenden Phänomenen, die man vorzugsweise in den unverbindlichen Bereich des Symbolischen verlagert, um sie dort dann kulturwissenschaftlich zu zerpflücken.

Wenn wir mehr vom Cyberspace wissen wollen, der für die so vehement propagierte europäische Informationsgesellschaft eine zentrale Rolle einnimmt, dann müssen wir uns wohl oder übel auch seinen realen sozio-ökonomischen Grundlagen zuwenden. Die Entwicklung des telematischen Raums ist deswegen so komplex, weil hier mehrere Ebenen zusammenspielen und weil die Gesetze des Realraumes eben nicht außer Kraft gesetzt sind. Die entscheidenden Aktivitäten politischer und wirtschaftlicher Natur werden außerhalb des virtuellen Raums gesetzt, ebenso wie sich die Grundlagen der Informationsindustrie außerhalb der Sphäre befinden, in der sie zur Wirksamkeit kommen.

Pathetische, aus akademischer Distanz vorgetragene Kulturkritik ist angesichts des stattfindenden Transformationsprozesses der Öffentlichkeit ebensowenig angesagt wie jene populäre Cyber-Euphorie, die sich in manchen Ecken der Trendforschung breitgemacht hat. Es könnte sein, daß die irgendwie aus der Mode gekommene politische Ökonomie wieder an Aktualität gewinnt, wenn es ihr gelingt, die Strukturen und Bedingungen von Wirtschaftsaktivitäten bloßzulegen, wie sie sich an den Schnittstellen von gesellschaftlichen Räumen und von Materialitäten der Kommunikation, bzw. der die Informationsdienste tragenden Infrastruktur, entwickeln. Hier gibt es genug Themen einer ,Raumplanung’ der Zukunft, einer ,Architektur’ der künftigen Gesellschaft. Daß der Cyberspace mittels neuer Informations- und Kommunikationstechnologien ausgebaut wird, heißt noch nicht, daß hier eine Informationsgesellschaft im positiven Sinn des Wortes im Entstehen ist. Die innovativen Technologien stürzen die Welt in eine ernste und desorientierende Krise hinsichtlich der Rolle von Arbeit, Ausbildung und Unterhaltung im Rahmen der gesellschaftlichen Reproduktionsprozesse. Die neue Technologie erzeugt jedoch nicht die Krise, sondern sie ist selbst schon Ausdruck einer veränderten Bedarfslage – zumindest von Teilen der Gesellschaft. Denn während 96% der ersten und 99% der restlichen Weltbevölkerung nicht „Online“ sind – der Informationhighway hat dort, wo sie wohnen, keine Abfahrten und es sind vorerst auch keine geplant – explodiert der elektronische Handelsmarkt für eine kleine Gruppe, die ihre Vorteile aus dem Bit-business zu ziehen versteht: aus „der Produktion, Transformation, Distribution und Konsumtion von digitaler Information.“ Es geht dabei natürlich nicht allein um Technik, sondern vornehmlich um gesellschaftliche Macht und Herrschaft. Hier zeichnet sich tatsächlich so etwas wie eine neue Informationsökonomie ab, unter deren Voraussetzung die Frage nach der Rolle von Kritik und von sozialwissenschaftlicher Aufklärung neu zu stellen wäre.

Unsere digitale Zukunft weist weniger Eindeutigkeiten auf, als für diverse Konzepte der Planbarkeit – einer Zentralidee der gesellschaftlichen Moderne – wünschenswert wäre. So ist die Informationsgesellschaft auch eine Metapher für die vielen Unsicherheiten, die sich mit der technischen Innovation verbinden. Neben allen Schwierigkeiten im Umgang mit der Virtualität, der Auflösung räumlicher Orientierungssysteme (wie etwa Zentrum und Peripherie) in ihrer digitalen Dublette, bestehen auch Unsicherheiten in Fragen des Rechts und der Rechtsanwendung. Schließlich ist der Rechtsstaat, wie wir ihn kennen, wesentlich auf seine Implementierung innerhalb nationaler Grenzen aufgebaut, die in der virtuellen Gemeinschaft jedoch eine untergeordnete Rolle spielen. Das heißt beispielsweise, daß nationale Restriktionen hinsichtlich der Rede- und Meinungsfreiheit im Netz relativ problemlos umgangen werden können. Die Folge sind meist weitreichende Phantasien über die Freiheiten des Cyberspace, die zwar nicht ganz von der Hand zu weisen sind, in ihrem quasi-religiösen Versprechen einer von allen herrschenden gesellschaftlichen Zwängen befreiten Gemeinschaft jedoch überzogen und weltfremd wirken. Wie auch immer, die Rechtsverhältnisse ändern sich mit den Bedingungen der Produktion und Distribution von Kulturgütern, und es darf darüber spekuliert werden, was die durch Digitalisierung ermöglichte universelle Verfügbarkeit dieser Kulturgüter für das ,nationale’ kulturelle Erbe bedeutet.
Bezeichnend ist hier bereits die Problematik einer multimedialen Aufbereitung von Publikationen, eine Erfahrung, die von den Autoren der deutschen TAB-Multimediastudie im Vorwort wie folgt geschildert wird:

„Daß sich, wer einen Bericht zu Multimedia vorlegt, in besonderer Weise um eine mediengerechte Präsentation bemühen muß, war uns als Anforderung früh klar. (...) Die Recherche nach geeigneten Film- und Videomaterial, das Durchforsten nach brauchbaren Beispielen, deren textliche und schnittmäßige Aufbereitung – diese ganze Arbeit führte uns sehr deutlich vor Augen, wie aufwendig eine Multimedia-Produktion ist. (...) Manche Video- bzw. Bildaufnahme hätten wir gerne noch eingebaut, doch standen diesem Vorhaben teilweise sehr hohe Preise der Rechte-Inhaber entgegen. Multimedia ist ein u.U. kompliziertes Lizenzmanagement.“

Im Internet wird jedem Nutzer, der sich etwa einer Universitätsbibliothek für seine Zwecke bedienen kann, sehr rasch klar, daß die Bedingungen der Recherche kultureller und wissenschaftlicher Daten sich stark verbessert haben. Die Frage des Copyrights ist hier natürlich ein Dauerbrenner der Diskussion: wenn etwa ein Hypertext andere Texte und Textteile nicht nur zitiert, sondern einbaut, wenn Film- und Musikzitate verwendet werden, dann ergibt sich sehr schnell die Frage, wie unter diesen Umständen noch die individuellen Autorenrechte gewahrt werden können. Wir vergessen über diese Diskussion sehr leicht, daß die für das moderne Publikationswesen so zentrale Frage wie der Schutz geistigen Eigentums historisch eher jüngeren Datums ist und daß sie mit den Produktionsbedingungen von Autoren und Verlegern Anfang des neunzehnten Jahrhunderts zu tun hat. Die Interessen, die hier geschützt werden, sind nicht sosehr diejenigen eines geistigen Urhebers (teilweise ohnehin eine Fiktion angesichts der Interdependenz von Texten und Produktionskontexten) als die eines ausdifferenzierten Verwertungsapparates. Mit der Modifikation des Produktions- und Distributionsapparates, der im Hinblick auf die erhöhte Zirkulationsgeschwindigkeit von akademischen Texten ohnehin zu schwerfällig geworden ist, werden auch jene verbürgten Rechte tendenziell zu Anachronismen. Dies rührt freilich auch an den Grundfesten der Bildungsinstitutionen, die erst im Übergang zum neunzehnten Jahrhundert davon abgingen, die vorhandenen klassischen Texte zu lesen und zu erläutern, zu interpretieren und zu kommentieren, um an den Platz der Überlieferung das moderne Konzept der Autorschaft zu setzen. So avanciert in der akademischen Gemeinschaft das Medium Buch zum Kristallisationspunkt der intellektuellen Sozialisations- und Gratifikationsprozesse. Mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien rückt in diesem wie in anderen Bereichen der gesellschaftlichen Reproduktion das Gedruckte jetzt langsam aus dem Zentrum und wird durch andere Diskursmedien wenn nicht ersetzt, so mindestens doch ergänzt.
Emsig wird nach neuen Strategien für die Verlagsindustrie geforscht. Ein Effekt dieser Verschiebung in Richtung Electronic Publishing wird nämlich sein, daß Standortfragen für bestimmte Industriezweige – ganz typisch die Verlage – irrelevant werden und durch völlig neuartige Fragen ersetzt werden, wie beispielsweise Plattformfragen, Infrastruktur und Byte-Logistik:

„In Zukunft werden Anbieter von Plattformen noch mehr auf der Wertschöpfungskette nach vorn rücken, um nahtlos aneinander anknüpfende Dienste für die Endverbraucher ebenso wie für die Organisatoren von Communities schaffen zu können (...) Byte-Logistik besteht darin, die richtige Information in der richtigen Sequenz zur richtigen Zeit (auf Anfrage) in der richtigen Form zu der richtigen Adresse zu liefern. Es beinhaltet ebenfalls das Verfolgen von Bytes zur Schnittstelle mit Rechnungstellung oder Überwachung von Copyrights.“

Die Sozialwissenschaften müßten sich nicht nur eingehend mit Technik und Medien beschäftigen, sondern diese sogar als Aspekt der menschlichen Sozialstruktur begreifen lernen. Das funktioniert nur, wenn einerseits eine Rekonstruktion sozialer Aspekte gelingt, die im technischen System bis zur Unkenntlichkeit aufgehoben worden sind, und wenn andererseits die nichthumanen Prozesse im Sinn einer umfassenden Systemtheorie der gesellschaftlichen Organisation mitberücksichtigt werden. Das heißt es geht nicht nur um die berühmte Mensch-Maschine-Beziehung im Sinne einer subjektivitätsorientierten Technikforschung oder auch einer technischen Interface-Theorie, sondern um die Effekte der Maschinen-Maschinen-Beziehungen auf die Gesellschaft und um die Attribute von technologischen Konstellationen, die ganz ähnlich den biologischen Bedingungen ein bestimmtes menschliches Dasein in all seiner historischen Kontingenz erst ermöglichen. Dies bedingt eine Verabschiedung von der Vorstellung, die Gesellschaft wäre ein Produkt stets bewußter und autonom handelnder Subjekte – ein Problem, das als Variation über Foucaults schillernde Metapher vom Verschwinden des Menschen den gesamten postmodernen Diskurs bewegt.

Im Enthusiasmus über die neuen, technologisch induzierten Möglichkeiten lebt die politische Hoffnung einer radikalen Veränderung des gesellschaftlichen Systems jenseits subjektiver Interventionen fort: das Internet als Fortsetzung einer vergeblichen Suche nach dem revolutionären Subjekt? Das „Internet“ wurde bis Anfang der neunziger Jahre von einem Geist getragen, der seine direkte Wurzeln im politischen Radikalismus der sechziger Jahre hat. Soziologisch interessant ist daran, daß der gegenkulturelle Protest starke medienaktivistische Züge aufwies, schließlich war der Vietnam-Krieg auch ein wesentlich medial vermittelter, ein Fernseh- (und späterer Kino-) Krieg. Paradoxerweise wurde die Forschungs- und Entwicklungsarbeit an dem neuen Kommunikationsnetz über den amerikanischen Verteidigungshaushalt mitfinanziert. Anti-Establishment- und Anti-Kommerz-Haltungen, die das Netz bis heute kennzeichnen, haben direkt mit jener Protest-Ethik zu tun, die im weiteren zu der Illusion geführt hat, die Online-Gemeinschaft bestünde nicht etwa aus Akteuren des Corporate-Business und der Regierungen, sondern aus spontan für die richtige Sache sich engagierenden, autonomen Individuen. Diese Illusion konnte sich zu einer hartnäckig vorherrschenden Mentalität verfestigen. Der Einwand gegen jede Form staatlicher Zensurmaßnahmen, die Verteidigung der Rede- und Meinungsfreiheit (Free Speech, Blue-Ribbon Campaign) haben hier ihre direkte ideologische Quelle. Ebenso die Idee, daß die für diese Aktivitäten vorausgesetzten und aus ihnen folgenden Produkte (vor allem Software) grundsätzlich nicht-kommerzieller Natur seien und daher zur uneingeschränkt freien Verfügung stünden. Das Netz wird so zur Sphäre einer Gemeinschaft jenseits aller gesellschaftlichen Zwänge, und vor allem jenseits der Kontrolle von Staats- und Wirtschaftsmacht.

Nicht nur angesichts der schlagenden kommerziellen Erfolge der Hard- und Softewareindustrie erweist sich diese Mentalität jedoch als eine illusionäre Einschätzung der tatsächlichen Verhältnisse. Weder treffen die Prophezeiungen eines „Global Village“ zu, die Dezentralisierung und Enthierarchisierung in Aussicht gestellt hatten, noch ändert sich die Gesellschaft grundsätzlich durch die vielgerühmte „gift-economy“ des Netzes. Die Logik der Dezentralisierung und Demokratisierung bezog sich vor allem auf den Zugang zu bestimmten Kommunikationsgruppen in akademischen Randgebieten, dem sogenannten „Usenet“, das ebenso einer vergangenen Ära angehört wie die damit verbundene Ideologie, auch wenn sie in verschiedenen „Newsgroups“ munter weiterzuleben scheint. Die Realität ist letztlich eben kein Universitäts-Campus, wo alle ständig dazu angehalten sind, jede Regel einer korrekten Kommunikationsführung zu befolgen. Aus der naiven Utopie, oder besser: aus dieser Mittelklassenideologie ist längst das harte Geschäft geworden. „Electronic Commerce“ lautet das neue Schlagwort, „Push Media“ und die neue Inhalteindustrie übernehmen zuerst die Agenda der anstehenden Informationsgesellschaft.

Wovon ist also die Rede, wenn diese Informationsgesellschaft thematisiert wird? Die komplexe soziale und kulturelle Matrix des angesprochenen Wandels ist nicht ausreichend bekannt; im gegenwärtigen Diskurs wird der Cyberspace nicht als sozialer Raum wahrgenommen, sondern entweder über technologische Metaphern oder die Marktmechanismen der jetzt entwickelten telematischen Breitband-Infrastruktur. Und das nicht ohne Grund: der europäische Marktwert für Informations- und Kommunikationstechnologien rangiert derzeit in der Höhe von 300 Milliarden ECU, und die Implementierung der europäischen Informationsgesellschaft wird mit einer durchschnittlichen pro Kopf-Investition von 347 ECU vorangetrieben. Man sollte dabei aber nicht vergessen, daß der Zugang zum Internet in europäischen Ländern immer noch zwischen zehn- und hundertfach so teuer ist wie in den USA (verursacht durch die überhöhten Telekom-Gebühren für lokale Verbindungen). Dennoch propagiert die Kommission der Europäischen Union Europa als das kommende Zentrum des elektronischen Handels – eine Propaganda im Sinne eines Wirtschaftswachstums, die in Hand geht mit einer massiven Subventionspolitik und verschiedensten ,Handlungsplänen’ zur Entwicklung der neuen Technologien. Was aber, wenn es bei den Plänen und beim wirtschaftspolitischen Wunschdenken bleiben wird? Skepsis ist angesagt: „Lost in Cyberspace. Europe goes nowhere on the superhighway ", war jüngst in den Schlagzeilen zu lesen. Die Europäer wüßten den Goldesel nicht zu strecken, lautet das Verdikt, also müssen sie sich von den Amerikanern zeigen lassen, wie das geht – im vergangenen Sommer verabschiedete die Clinton-Administration ihr Rahmenprogramm zum „Global Electronic Commerce".

Die politische Ökonomie des Netzes ist immer noch eine erst im Entstehen begriffene. Ob aber die digitale Revolution nach dem gegenkulturellen Muster der Netzaktivisten (Hackerkultur) aufgehen wird oder nach den Vorstellungen der Industrievertreter (Bangemann-Gruppe), die über die EU-Bürokratie ihre Vorstellungen von der Informationsgesellschaft durchdrücken, das ist keine offene Frage, sondern eine falsch gestellte Alternative. Konsultiert man freilich die verschiedensten programmatischen EU-Papiere zum Thema, so stellen sich gesellschaftlichen gegenüber den geschäftlichen Implikationen der Breitband-Multimedia-Anwendungen, also des Rückgrats der ,Informationsgesellschaft’, als eher dürftig heraus. Mit dieser Techno-Utopie eines „Kapitalismus des globalen Marktes“ sollen anscheinend allein Prinzipien einer Marktliberalisierung, Deregulierung und Privatisierung zur Anwendung gebracht werden. Wenn Personen letztlich nur als Manifestationen potentieller Märkte existieren, die den Paradigmen eines umfassenden ,Wettbewerbs’ unterworfen werden, dann ist auch der Begriff einer Informationsgesellschaft eine bloße ideologische Metapher, ein Feigenblatt für den verpaßten Übergang einer ,modernen’ zu einer ,sozialeren’ Gesellschaft.

Die Technik an sich ist keineswegs schon ein Instrument des sozialen Wandels. Aber erlauben wir uns doch die Frage, warum dann soviel Aufregung um die neuen telematischen Technologien herrscht. Sind sie wirklich angetreten, die Menschheit zu ändern, oder nicht vielmehr selbst schon Ausdruck eines längst stattfindenden Wandels? Die Technik selbst ist dann nur ein Teil des Problems. Die Informationsgesellschaft beinhaltet politische, ökonomische und kulturelle Merkmale, die noch der Untersuchung harren. Es öffnet sich ein breiter Fragenhorizont: zum Beispiel danach, was für die tatsächliche Medienmündigkeit jener Bevölkerung getan wird, der die versprochenen Segnungen einer Informationsgesellschaft jetzt politisch verkauft werden. Oder danach, wer letztlich von der beliebten Identifizierung des technisch Machbaren mit dem sozial Wünschenswerten der Medienentwicklung profitiert. Ist ein verbesserter Datenverkehr – nach dem Kommunikationsbegriff des neunzehnten Jahrhunderts, der dem räumlichen Warentransport entspricht und im Begriff des Information Highways zu neuen Ehren gekommen ist – gleichzusetzen mit einer verbesserten gesellschaftlichen Kommunikation? Welche Folgen ergeben sich schließlich für partikulare Diskurse wie Kunst, Kultur und Wissenschaft, deren Medien sich ändern und die neuen Bedingungen von Produktion und Distribution ausgesetzt sind, ohne daß die Ausbildungsmechanismen schon darauf abgestimmt wären?

Die Telematik initiiert und verstärkt neue Formen der sozialen Entgrenzung über die Technik, und während kein Weg daran vorbeiführt, daß laufend neue Distinktionsmechanismen erfunden werden, deutet auch vieles darauf hin, daß sich eine neue Art der gesellschaftlichen Integration abzeichnet. Unter Bedingungen der postmodernen Gesellschaft manifestiert sich die menschliche Grundbefindlichkeit – das „transzendentale Subjekt“ Kants – nicht länger über Kategorien der sinnlichen Wahrnehmung und des rationalen Denkens, sondern über diejenigen der globalen elektronischen Infrastruktur. Zumindest als Effekt der Benutzeroberflächen; vielleicht hatte McLuhan ja doch recht, als er behauptete, daß mit dem „Zeitalter der Elektrizität . . . die ganze Menschheit zu unserer eigenen Haut (wird).“

Doch die ganze Menschheit vereint im Global Village? Das wäre die Erfüllung des alten philosophischen Traums einer Utopie der guten und gerechten Gesellschaft, gebaut auf einer universalen Sprache und einem uneingeschränkten gegenseitigen Verständnis. Der irreführende Terminus vom Global Village läßt die sozialen Zwänge vergessen, die ein Dorfleben so mit sich bringt. Es besteht natürlich die Möglichkeit, daß die Informationsgesellschaft eine kulturelle Homogenität auf dem Boden grenzenlosen Kommerzes mit sich bringt. Es sollte demgegenüber nicht vergessen werden, daß wir in ziemlich heterogenen Welten und unter Bedingungen der Ungleichzeitigkeit leben und vielleicht wäre es angebracht, spezifische Strategien zu entwickeln, wie wir uns diese kulturellen Eigenheiten auch erhalten können.

Diese Aufgabe ist eine kritische. Warum? Einerseits können wir uns des Problems schwer entledigen, daß sich der Universalitätsanspruch der Moderne immer auch mit imperialistischen bzw. kolonialistischen Gesten verbindet. Andererseits hat unser Jahrhundert die Erfahrung einer Dialektik der Aufklärung gemacht, die keine einfache Fortschreibung des Fortschrittsgedankens als Mythos des 20. Jahrhunderts gestattet. All die kritisch bis überkritisch diagnostizierten Mobilmachungen der Moderne gemahnen zur Vorsicht im Umgang auch mit soziologischen Modernisierungsaxiomen, die von den Segnungen immateriell gewordener Produktionszusammenhänge (im EU-Jargon die sogenannten „Mehrwertdienste“) schwärmen.

Im Sinne der Aufklärung bezog sich Kritik auf die Grenzziehung des Vernünftigen, was sich durchaus auch auf Effekte und Sinnestäuschungen bezieht. Angesichts der Vorherrschaft funktional autonomer Regeltechniken wird die Kritik jetzt entlassen zugunsten einer immer schwerer zu sublimierenden Faszination für das, worauf sie keinen Zugriff hat. Der Prozeß der (engagierten) Interpretation wird zusehends durch die (kühle) Kombination und Rekombination von Daten ersetzt; in der Übernahme des kybernetischen Paradigmas weiters drückt sich eine Mimesis an die Komplexität der Postmoderne aus, deren Beherrschung nur mehr durch die Subjektlosigkeit automatischer Steuerungsmechanismen gewährleistet scheint. Davor rettet keine moralisierende Warnung mehr. Das Problem intellektueller Kritik ist die damit sich einstellende Nichthintergehbarkeit der Medienrealität; es ist ein grundsätzliches Problem: sobald das längst überholte kommunikationstheoretische Modell der Vermittlung und Übertragung (das Reiz-Reaktions-Schema, bzw. das behaviouristische Sender-Empfänger-Modell) verlassen wird, können wir der Medienwirklichkeit kein eigentliches Realitätsmodell mehr entgegensetzen, auf dessen Grundlage sich die Medieninhalte kritisieren lassen.

Aber der Hinweis auf eine Totalität des Verblendungszusammenhangs ist mindestens ebenso obsolet geworden. Denn der authentische Diskurs über das, was „eigentlich“ ist, wird am Ende der Gutenberg-Galaxis selbst als kulturtechnischer Effekt durchschaut. Die Pointe ist ja, daß alles ohnehin ,trotzdem’ funktioniert. Denn das kritische Bewußtsein, auf Medieninhalte gerichtet, greift nicht mehr: das Publikum durchschaut die medialen Effekte, aber es spielt dennoch weiter mit. Ein gefundenes Fressen für die systemtheoretische Beschreibungsebene, die hier von der Medienwirklichkeit spricht als von „rekursiv stabilisierten Funktoren, die auch dann stabil bleiben, wenn ihre Genetik und ihre Funktionsweise aufgedeckt sind.“

Wir werden in der ausdifferenzierten Moderne permanent einer Überfülle kommunikativer Möglichkeiten ausgesetzt, vor der wir entweder kapitulieren (gemäß der Metapher von der ,Informationsflut’) oder für deren Funktion wir eine mit der sozialen nicht kompatible virtuelle Realität akzeptieren sollen. Ein Drittes ist der Kunstgriff einer Beobachterposition zweiter Ordnung, welche die kritische Position sublimiert. Sie impliziert die Akzeptanz sogenannter Systeme einfacher Unterscheidungen (Kultur und Subkultur, Information und Unterhaltung, High Tech und Low Tech), in denen die Art und Weise, wie einzelne Elemente zueinander stehen, über den Informationsgehalt des Systems entscheiden. Die Grundlage dieser vielfach favorisierten systemtheoretischen Sicht ist eine bemerkenswerte Akzeptanz des kybernetischen Paradigmas in den letzten Jahrzehnten, welches wenn nicht höhere Einsicht, so doch eine an die technische Rationalität angeglichene Rede vom ,System’ erlaubt.

Gesellschaft ist ein sozialwissenschaftlich konstruierter Gegenstand, der in seiner empirischen Form wie selbstverständlich innerhalb bestehender nationaler Grenzen gesetzt wird. Die Informationsgesellschaft impliziert die Auflösung solcher Grenzen. Ein Nachdenken über Gesellschaft scheint nun immer öfter in Form von Kommunikationstheorie stattzufinden. Die Betriebsform der postindustriellen Gesellschaft ist ganz auf jene sequentielle Strukturen eingestellt, welche als Funktionsprinzip der Massenmedien die althergebrachte Teleologie eines aufgeklärten Weltbürgertums abgelöst hat. Sie funktioniert demnach analog zum fortgesetzten re-entry (Luhmann) der massenmedialen Kommunikation, die sich im Jenseits der feststellenden Repräsentation irgendeiner objektiven Wahrheit bewegt. Medien, und mit ihr die Informationsgesellschaft sind so zur zentralen Metapher unserer Gesellschaft geworden, die wesentliche Aspekte von Kultur, Politik, und Ökonomie in sich aufsaugt. Dann sind die Sozialwissenschaften jetzt eben gefordert, eine Art „Metaphorologie“ zu betreiben, um endlich damit zu beginnen, die mit diesen Termini verbundenen Diskussionen, Phantasien und Utopien zu entmythologisieren.


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