Zu Franz Kafka


© Franz Josef Czernin

Paradoxen beschämen immer-
daher sie auch so verschrieen sind
Novalis

I

"Die Frage des Tagebuches ist gleichzeitig die Frage des Ganzen, enthält alle Unmöglichkeiten des Ganzen [... ]. Es ist unmöglich, alles zu sagen, und es ist unmöglich, nicht alles zu sagen.- In Kafkas Tagebüchern finden sich dann und wann Eintragungen wie diese, Eintragungen, die man als Paradoxa klassifizieren kann.

So verschiedenartig das auch sein mag, was unter einem Paradoxon verstanden wird, so verschieden auch die Umstände sein mögen, unter welchen etwas als paradox angesehen wird: in allen Fällen wird mit dem Versuch, ein Paradoxon zu verstehen, etwas irritiert, gerät etwas aus den Angeln. Was aber oder in welchem Sinn da etwas aus den Angeln gerät, ob da ein Sprach-, Denk- oder ein Ich-Krampf ausgelöst wird oder im Gegenteil eine Sprach-, Denk- oder Ich-Lösung, das eben hängt wiederum von den Umständen ab, unter welchen etwas als paradox behauptet wird.
Ein Paradoxon kann dementsprechend als logisches Problem bzw. Sprachproblem aufgefasst werden, oder es kann - gerade hinsichtlich des oben gebrauchten Bildes - der, vielleicht fragwürdige, Angel-Punkt einer philosophischen Methode sein; in der Literatur, zum Beispiel in den Paradoxa vieler Aphoristiker, kann es als sprachlicher Ausdruck eines Überschwangs angesehen werden, vor dem die Logik in Form einer rhetorischen Figur, aber vielleicht ausdrucksvoll, kapituliert.

So sind Russels Paradoxa anderer Art als die Hegels, Hegels anderer Art als jene Zenons und Zenons anderer Art als diejenigen Oskar Wildes, die wiederum sehr wenig mit jenen Hegels gemeinsam haben: Russels Paradoxa verdanken sich dem Nachdenken über gewisse Probleme der Mengenlehre; Hegels Paradoxa sind Extreme, die den Prozess seines Denkens auslösen, oder Extreme, zu welchen Prozesse seines Denkens hinfuehren; Zenons Paradoxa sind ein Versuch, die Wahrheit einer bestimmten Metaphysik, nämlich derjenigen des Parmenides, zu beweisen; Wildes und die vieler anderer Aphoristiker verdanken sich wohl häufig einer Art Spieltrieb und der Lust, sich selbst - aber wohl zunächst andere - zu verblüffen. (In dem Aufsatz über Robert Musil interpretiere ich dessen Paradoxa, wie sie in den lyrischen Passagen des zweiten Teils des Mann ohne Eigenschaften vorkommen, als Anzeichen einer sich überspannenden beschreibenden Sprache.)
Kafkas Paradoxa nun, vor dem Hintergrund all seiner anderen Sätze, als deren zugespitzte Kollisionsform, können nicht hinreichend vollzogen werden, wenn sie als Teil eines philosophischen Problems, einer philosophischen Methode oder einer literarischen Technik angesehen werden oder vor allem als Ausgangspunkt oder Illustration von psychologischen, logischen, philosophischen, rhetorischen Untersuchungen des Paradoxen. Vielmehr stellen sie etwas her oder dar, das auf Paradoxa beruhende philosophische Methoden, Probleme oder literarische Techniken, aber auch wie immer geartete Untersuchungen des Paradoxen genausogut auslösen wie zu ihrem Ende bringen könnte.
Da es sich bei Kafkas Schriften um Literatur handelt, die eben nicht vollständig als Ausdruck philosophischer Diskussionen oder als Gebrauch literarischer Techniken verstanden werden kann, so will ich damit aber noch etwas andeuten, von dem ich nicht annehmen muss, dass es in dem Begriff der Literatur enthalten ist: dass das, was auf dem Spiel der Kafkaschen Paradoxa steht, in ungewöhnlich hohem Ausmass er selbst ist.
Kafka sind der übliche Umgang mit Paradoxa und die üblichen Auswege aus Paradoxa häufig verschlossen; oder sie sollten es wenigstens sein, wie gerade er selbst, der genausogut an seinem Mangel an Selbstwiderspruch verzweifeln kann wie an dem Selbstwiderspruch selbst, häufig gemeint haben mag.

Man versucht nicht nur im Zusammenhang verschiedener Disziplinen wie der Logik, der Rhetorik und der Psychologie, Paradoxa zu klassifizieren oder womöglich aufzulösen, sondern auch als Schreibender oder Lesender, der sich bemüht, ein Paradoxon ernsthaft - und das heisst hier wörtlich und tatsächlich - zu verstehen.
Ein Paradoxon lesen oder schreiben heisst ja auch, dass man eine Lösung sucht, aber die Lösungen, die man dann zu finden meint, werden meistens bloss zu Auswegen, um eine Kollision zu verhindern, die man als Kafka, in einer vielleicht ungerechtfertigten Übertragung, als eine tatsächliche körperliche abzusehen meint.

Ich nehme an, dass für Kafka - wenigstens für eine der Stimmen Kafkas - rnit jedem Versuch, dem Paradoxon selbst auszuweichen, das, was mit seinen Paradoxa gesagt wird, gerade nicht mehr gesagt wird, oder, um sein Paradoxon zu variieren: nicht mehr so alles gesagt wird und nicht mehr so alles nicht gesagt wird wie in seinem Paradoxon. Und dieser Kafka hätte sich darauf berufen, dass der Versuch, ein Paradoxon wörtlich und tatsächlich zu verstehen, eben eine Zerreissprobe sei oder gar, konsequent zu Ende gedacht, zum Zerreissen führen müsste; so als ob sich jedes Paradoxon im Vollzug seines Verstehens zu einem letzten Wort auswachsen sollte - ähnlich dem berühmten Satz Kafkas auf seinem Sterbebett:Töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder.
Eine der Möglichkeiten, den Konsequenzen des Verstehens eines Paradoxons auszuweichen, wäre, das Paradoxon als noch nicht präzise genug formuliertes Problem anzusehen. So wäre es leicht, Kafkas Paradoxon - "Die Frage des Tagebuches ist gleichzeitig die Frage des Ganzen, enthält alle Unmöglichkeiten des Ganzen [... ]. Es ist unmöglich, alles zu sagen und es ist unmöglich, nicht alles zu sagen" - so umzuformulieren, dass ihm das Paradoxe genommen wird.
Ein Versuch: Ich und die Sprache (die ich ja mitten in der Welt gebrauche) stehen mit allem, was es gibt, in Verbindung, alles spricht in jedem Wort mit. In diesem Sinn sage ich immer alles. Andererseits weiss ich, wenn ich Worte gebrauche, nicht von allem, mit dem ich in Verbindung stehe. Und in diesem Sinn sage ich niemals alles.

Der Trick besteht hier offenbar darin, alles sagen als mehrdeutig anzusehen.
Für das Paradoxon - "Geständnis und Lüge sind das gleiche. Um gestehen zu können, lügt man. Das, was man ist, kann man nicht ausdrucken, denn dieses ist man eben; mitteilen kann man nur das, was man nicht ist, also die Lüge" - bieten sich sowohl mehrere Lesarten als auch mehrere Auswege an: Versteht man das Paradoxon wörtlich, so als würde mit ihm einfach gesagt, dass Lüge und Geständnis das gleiche sind, dann kann man der Kollision, auf die Kafka vielleicht hinaus will, damit ausweichen, dass man die Behauptung, dass Geständnis und Lüge das gleiche sind, als Begriffserklärung auffasst, als einen Vorschlag für einen anderen Sprachgebrauch als den üblichen, der ja die Bedeutungen von Geständnis und Lüge einander entgegensetzt. Man würde also ein Sprechen über Dinge durch ein Sprechen über Begriffe ersetzen.
Versteht man aber, was im Fall Kafkas naheliegt, dieses Paradoxon selbst als ein Geständnis, dann ähnelt es dem berühmten Geständnis, der berühmten Lüge des Kreters, der sagt, dass alle Kreter Lügner sind. - Kafka würde dann sagen: Alle meine Geständnisse und auch dieses sind Lügen. Die Konsequenz daraus: Wenn ich mit dieser Aussage die Wahrheit sage, dann lüge ich gerade insoferne, und wenn ich mit dieser Aussage lüge, dann sage ich gerade insoferne die Wahrheit.
Man könnte nun die schwindelerregenden wie schwindelvernichtenden Konsequenzen dieses Satzes abzuschwächen versuchen, indem man sagt, dass hier nicht von allen möglichen Aussagen über sich selbst gesprochen wird, sondern eben nur von Geständnissen; dass jedes Geständnis eine Lüge ist, und auch die Aussage, dass dem so ist, muss noch nicht heissen, dass alles, was einer über sich sagt, ein Geständnis ist und also eine Lüge. Dass dieses Manöver hier wahrscheinlich unerlaubt ist, zeigt auch der übernächste Satz des Zitats: "Das, was man ist, kann man nicht ausdrücken, denn dieses ist man eben; mitteilen kann man nur das, was man nicht ist, also die Lüge."
Es wäre also alles gemeint, was man über sich selbst aussagt, und nicht nur der Spezialfall des Sich-etwas-Eingestehens. So nehme ich an, dass jener Ausweg nichts als Selbstbetrug wäre - Lüge, die Geständnis ist.

Ein anderer, allzu selbstverständlicher, Ausweg bestünde darin, dass man sich einredet, dass in jenem Kafkaschen Lügner-Paradoxon nichts anderes geschieht, als dass eine ungewöhnliche Einsicht gewonnen wird: Man nimmt einfach zur Kenntnis, dass man lügt, wenn man gesteht, und gesteht, wenn man lügt. Man sagt sich das vor, begreift diesen Satz auch wiederum als Satz über sich selbst, bricht aber den Prozess damit ab; sich selbst dabei unangetastet lassend, spricht man weiter über sich selbst. So geht es uns wohl allen, selbst wenn wir verzweifelt versuchen würden, uns jene Einsicht, die keine sein kann, zu Herzen zu nehmen. Es hilft uns gar nicht zu wissen, dass wir nichts von uns wissen, besonders wenn jenes Nicht-Wissen anscheinend im Gleichnis, in der Sprache stattfindet. Von dieser lebensnotwendigen Lauheit, von diesem Mangel an philosophischem Ernst bleibt selbst dort, wo die entgegengesetzten Konsequenzen einander eigentlich zu Todfeinden machen sollten, auch Kafka nicht verschont - wenigstens der Kafka, der von sich weiss. Wenn Kafkas Paradoxa vor allem ihn selbst zeigen, dann aber in seinem paradoxen Versuch, sich selbst zu beweisen, dass es ihn - in einem allerdings notwendig ungewissen und vielleicht ohnmächtigen Sinn dieser Behauptung - nicht geben kann.

Was in der Literatur häufig als das Geistreiche erscheint, philosophisch als These und Antithese in einem Satz, in der Logik als logischer Widerspruch, in der Psychologie als das sprachliche Symptom des Konflikts zwischen antagonistischen Kräften - das also würde Kafka in Form eines Zerreissens bei lebendigem Ich von sich selbst verlangen?
"Die ungeheure Welt, die ich im Kopfe habe. Aber wie mich befreien und sie befreien, ohne zu zerreissen. Und tausendmal lieber zerreissen, als in mir sie zurückhalten oder begraben. Dazu bin ich ja hier, das ist mir ganz klar."
Diese ungeheure Welt hat eben die Tendenz, sich in einander entgegensetzende Mächte aufzuspalten, welche dann in Paradoxa ihre sprachliche Gestalt finden können und in sprachlicher Form vollzogen werden sollten.

Die Funktion der Paradoxa Kafkas läge gerade in einer sprachlich hervorgerufenen Epilepsie, der Vernichtung jener ungeheuren Welt, jenes ungeheuren Ich, einer Vernichtung, die vielleicht zugleich eine Befreiung zu oder von beidem wäre. - Die Formel ist dunkel, aber nicht dunkler als jene Welt und jenes Ich.
Von hier aus gesehen, wären auch Kafkas Parabeln, als die erzählerische Entfaltung des Paradoxen, der notwendig paradoxe Versuch, sich selbst nach und nach, eben erzählend, mit jener Dunkelheit zu unterwandern, sich der absoluten Dunkelheit asymptotisch anzunähern, als ob man sich an etwas annähern könnte, in dessen Mitte man sich bereits befindet.
Aber habe ich mich mit diesen Paraphrasen nicht schon einem jener Ausweichmanöver überlassen, die den Kafkaschen Paradoxa eben gerade nicht gerecht werden?
Explizite Paradoxa sind in Kafkas Schriften ziemlich häufig, aber sie sind nicht immer ohne weiteres als Ausdruck einer ausweglosen Zwangslage zu interpretieren. Einmal trägt Kafka in sein Tagebuch auch ein berühmtes Paradoxon Zenons in dieser Form ein: "Zeno sagte auf eine dringliche Frage hin, ob denn nichts ruhe: Ja, der fliegende Pfeil ruht." Kafka selbst könnte der Fragesteller sein, der unruhig, nämlich dringend, einer Antwort bedarf. Die Antwort selbst, der Argumente Zenons entbehrend, ist bei Kafka ein Rätsel. Es könnte eine Antwort sein, die den Fragenden, wenn er tatsächlich selbst dringend der Ruhe bedarf, geradezu verhöhnt. Es könnte aber auch eine Antwort sein, die den Fragenden vollkommen befriedigt. Dann wäre das Paradoxon erleuchtend und damit für Kafka vielleicht der Anlass des Erlebens jenes unendlich kleinen Zeitraums, in dem der Junggeselle ein Verheirateter ist und der Verheiratete ein Junggeselle: Wäre eine Ehe so zu schliessen und aufzulösen, dann hätte vielleicht selbst Kafka, der ewige Verlobte, geheiratet.

II

Wenn sich manche von Kafkas Erzählungen (etwa Vor dem Gesetz und Eine kaiserliche Botschaft) in einer Atmosphäre entfalten, aus der auch manche philosophischen Paradoxa zu stammen scheinen, dann vielleicht deshalb, weil diese Atmosphäre bei Kafka wie auch bei den entsprechenden Philosophen aus dem widersprüchlichen oder wechselseitig dunklen Verhältnis zwischen den Momenten Ich, Sprache und Wirklichkeit stammt, einem Verhältnis, das für Kafka schon alles andere und auch die entsprechenden Probleme der Philosophie enthält. - Der Kaiser in seinem Palast, welcher der Mittelpunkt der Hauptstadt ist, die der Mittelpunkt des Reiches ist, flüstert dem Boten eine Botschaft ins Ohr, aber der Weg zum Empfänger dieser Botschaft, der irgendwo an der Peripherie des unermesslichen Reiches auf sie wartet, ist unermesslich lang, so als ob der kaiserliche Bote einen Weg zu nehmen hätte, der sich in jedem Augenblick unendlich oft halbieren liesse. Für jedes Selbstgespräch könnte die selbe Parabel passen, vielleicht aber auch eine umgekehrte: Wie soll ich, Kaiser über mein Reich und dessen Mittelpunkt, die Botschaften verstehen können, die mich erreichen, da ich meine Grenzen unendlich weit hinausschieben kann und damit auch die meiner Botschaft, deren Sinn sich dementsprechend in unendlich viele Aspekte aufspaltet?

Selbstbeobachtung als ein Versuch, Wirklichkeit zu finden, noch dazu als Botschaft über mich selbst, ist dementsprechend für wenigstens einen der vielen Kafkas unmöglich: Will man sich selbst erkennen, so versucht man sich an einem Bild, das einen zusammenfassen und mitteilen soll. Gerade wenn dieses Bild als Bild begriffen wird, verspottet es einen genau damit, dass es an einer Wand hängt, für einen Augenblick, der sich mit jedem weiteren Augenblick in eine unübersichtliche und masslose Angelegenheit vervielfacht, in ein wahres Schloss von Zimmerfluchten, in welchem dieses Bild, diese Botschaft nur einen schon wieder verlassenen oder auch nicht hinreichend differenzierten Raum bedeutet. In seinen Texten scheint Kafka auf dieses Gefühl damit zu reagieren, dass er Elemente, die sich vielleicht seinen dennoch unternommenen Versuchen von Selbstbeobachtung verdanken, so miteinander in Beziehung bringt, dass sich eher eine Flucht von Sinnräumen auftut, als dass ein bestimmtes Bild von etwas, zum Beispiel von dem eigenen Ich, an etwas Bestimmtes, zum Beispiel die eigene Sprache, angenagelt wird.

Für Kafka, diese meist so dunkle Rückseite der enthusiastischen frühromantischen Selbst-Philosophie, wachsen sich die Zweifel an der Möglichkeit der Selbstbeobachtung, ja der Beobachtung überhaupt, häufig zu einem paradox ausweglosen Vorgang aus, dessen Ausweglosigkeit nicht behauptet werden kann, ohne den Ausweg zu nehmen, der eben darin besteht, dass man seine Ausweglosigkeit zu beobachten behauptet. Beobachtet Kafka sich selbst, so erfährt er das als den jämmerlichen Versuch, auf den eigenen Schatten zu steigen: Was man da sieht, wenn man angestrengt schaut, ist niemals das Beobachtende, oder dieses nur insofern, als es sich sogleich in das Beobachtete verwandelt, in eine Spur, die nicht auf den schliessen lässt, der sie hervorgebracht hat.
Der Vorgang der Selbstbeobachtung türmt Körper aufeinander, Gedanken, Schichten einer Skulptur, deren Entfaltung in der Zeit, im Raum den Preis hat, dass ihre Teile einander ununterbrochen gegenseitig verdecken und nach und nach undurchdringliche Dunkelheit schaffen.

Vielleicht in einem Augenblick des Enthusiasmus schreibt Kafka aber auch: "Vollständiges Erkennen seiner selbst. Den Umfang seiner Fähigkeiten umfassen können wie einen kleinen Ball. Den grössten Niedergang als etwas Bekanntes hinnehmen und so darin noch elastisch bleiben."
Dass er diese Forderung aufstellt - noch dazu so, dass sie auch als eine Beschreibung gelesen werden kann -, bedeutet immerhin, dass er vollständiges Erkennen seiner selbst und darnit auch von anderem für möglich hält.
Aber - so fällt sich Kafka wohl selbst häufig ins Wort - wie soll man sich selbst erkennen können, ohne dass etwas erkannt wird? Und wie sollte man etwas erkennen, wenn man jenes etwas selbst ist? - Oder vermischen sich hier nur Begriffe zu etwas so Trübem, dass Kafkas Paradoxa noch den ökonomischsten wie auch den intensivsten Umgang mit ihnen bezeichnen?
Jene so häufig empfundene Dunkelheit verstärkt sich also noch, wenn die Sprache das Mittel sein soll, das Beobachtete wiederzugeben. - Kafka: "Das Schreiben selbst verführt oft zu falschen Fixierungen. Es gibt eine Schwerkraft der Sätze, der man sich nicht entziehen kann."

Wie sollen Sätze, die mit ihrem ganzen Staat aus Buchstaben und Lauten, der vorgefertigten Rüstung ihrer Grammatik, die mit selbstverständlicher und kaum empfundener Gewalt den überall wartenden Sinn aufsaugt - wie also soll diese Sprache, starr und geräuschvoll wie sie ist, etwas von jener schattenhaften, fliessenden Mannigfaltigkeit wiedergeben, die beobachtet wird?
Diese Sprache in ihrer bösartigen Pracht wird zu einem Fremdkörper. So stehen bei Kafka in einem grossartigen Satz die Zweifel [ ..] um jedes Wort herum , und Kafka hört, wie sich die Konsonanten blechern aneinanderreiben, und die Vokale singen dazu wie die Ausstellungsneger.
Dementsprechend schreibt Kafka auch: "Zwischen tatsächliches Gefühl und vergleichende Beschreibung ist wie ein Brett eine zusammenhanglose Voraussetzung eingelegt."

Die Folge: Alles, was ich über mich selbst oder anderes aussagen will, verselbständigt und vergegenständlicht sich. Nicht nur Psychologie wäre also Ungeduld, wie Kafka in sein Tagebuch einträgt, sondern jede Beschreibung, wenigstens sofern man glaubt, sie wäre etwas anderes als eine Fortsetzung jener zusammenhanglosen Voraussetzung, jenes Bretts.
Der dennoch beobachtende, vor allem selbst-beobachtende Kafka in einer Eintragung in seinem Tagebuch:
"Dieser Flaschenzug im Innern. Ein Häkchen rückt vorwärts, irgendwo im Verborgenen, man weiss es kaum im ersten Augenblick, und schon ist der ganze Apparat in Bewegung. Einer unfassbaren Macht unterworfen, so wie die Uhr der Zeit unterworfen scheint, knackt es hier und dort und alle Ketten rasseln eine nach der anderen ihr vorgeschriebenes Stück herab."
Die anscheinend so hartnäckig sich behauptende Natur dieser anscheinend beobachtbaren Tatsache, die genausogut die Tatsache der voraussetzungsabhängigen Automatik der Beschreibung beschreiben könnte, ist eine der Gründe für Kafkas wiederkehrende Verzweiflung. Nicht einmal die Literatur, die man doch als eine Tätigkeit verstehen kann, die nichts aus ihren sprachlichen Prämissen entlässt, wäre da selbstwiderspruchslos identifizierbar als künstlich zusammengestellte Aufgabe; geschweige denn eine Psychologie, verstanden als Anleitung zur therapierenden Selbstbeobachtung, also als Beschreibung mit Wahrheitsanspruch; eine Psychologie, die ja davon ausgehen muss, dass ihr (sprachloser) Gegenstand die Aufgabe zusammenstellt. - Der Kafka, der fühlt, dass gerade seine Selbstbeobachtungen (seien sie nun als Psychologie oder als Literatur verstanden) insofern zu nichts führen, als er dabei auf eben jene sprachlichen Prämissen angewiesen ist, die sich zugleich zu jenem Brett aus Voraussetzungen verhärten, fragt rhetorisch: "Kann man überhaupt eine natürliche, eine nicht nur künstlich zusammengestellte Aufgabe bestehen?"
Genausogut hätte er fragen können: Steht es denn dafür, etwas als seine Aufgabe anzusehen, das man künstlich zusammengestellt hat? Sind die wirklichen Aufgaben, wenn es sie überhaupt gibt, nicht gerade jene, die man gar nicht bestehen kann? Und ist nicht sowohl die Psychologie als auch die Literatur - schon deshalb, weil sie beide in sprachlicher Form auftreten - entweder eine künstlich zusammengestellte Aufgabe, deren Bestehen nicht dafürsteht, oder eben eine natürlich zustande gekommene Aufgabe, die aber gerade insofern nicht bestanden werden kann?
Die Voraussetzung für die Errichtung des Labyrinths von Zuständen, die Kafkas Kunst darzustellen unternimmt, kann also leicht als paradox empfunden werden und zieht weitere Voraussetzungen nach sich, die es nicht weniger zu sein scheinen: Einerseits - da man ja annimmt, etwas zu beobachten und zu beschreiben - glaubt man an die Existenz jenes Labyrinths, glaubt man daran, Tatsachen zu entdecken; andererseits darf inan dann auch nicht vergessen, dass man das, was einem zustösst, erfindet, indem man es zu entdecken glaubt. Man erfährt sich Augenblick für Augenblick, und es gibt nur diese Bahn, das, was sich als Augenblick ausfüllt. Die Vorstellung, dass es diese Bahn in diesem oder jenem Sinn gibt, dass sie Raurn und Zeit beanspruchen kann, dass ich selbst schon so und so viele verschlungene Wege zurückgelegt habe und noch zurücklegen werde, gehört zu diesem Augenblick. Diese Einsicht Kafkas die allerdings auch ein Geständnis sein könnte, das eine Lüge ist - hat auf seine Erzählweise weitreichende Folgen. Sie bestehen zum Beispiel darin, dass Kafka, eben um das Hypothetische des Faktischen und das Faktische des Hypothetischen herzustellen, Konjunktiv und Indikativ in eigentümlicher, von der Schulgrammatik oftmals abweichender Weise gebraucht. (Kafkas diesbezügliche Eigentümlichkeiten werden genau und einleuchtend in Klaus Ramms Arbeit Reduktion als Erzählprinzip bei Kafka benannt.)
Aber selbst wenn allen Paradoxa der Beobachtung zum Trotz dann und wann eine Selbsterkenntnis möglich sein sollte, wie wenig fällt das, was man davon sprachlich wiedergeben kann, ins Gewicht, wie gefährlich ist es schon zu versuchen, es wiederzugeben:
"Ich habe vieles in diesen Tagen über mich nicht aufgeschrieben, teils aus Faulheit [... ], teils aber auch aus Angst, meine Selbsterkenntnis zu verraten. Diese Angst ist berechtigt, denn endgültig durch Aufschreiben fixiert dürfte eine Selbsterkenntnis nur dann werden, wenn dies in grösster Vollständigkeit bis in alle nebensächlichen Konsequenzen hinein sowie mit gänzlicher Wahrhaftigkeit geschehen könnte. Denn geschieht dies nicht - und ich bin dessen jedenfalls nicht fähig - dann ersetzt das Aufgeschriebene nach eigener Absicht und mit der Übermacht des Fixierten das bloss allgemein Gefühlte nur in der Weise, dass das richtige Gefühl schwindet, während die Wertlosigkeit des Notierten zu spät erkannt wird."
Nun, auch das wäre, vielleicht paradoxerweise, eine Beobachtung, und wenn man sie, durch nichts anderes dazu gebracht als durch die Schwerkraft der Sätze, für treffend hält, also für eine Selbsterkenntnis, dann darf es einen auch nicht wundern, dass auch sie nicht das Privileg einer ein für alle Male aus dem Fluss herausgehobenen Wahrheit hat, sondern nur einer von vielen (man weiss nicht, ob scheiternden) Versuchen des Schiffes Kafka ist, sich zu beweisen, dass es nicht nur aus Wasser ist.

In Kafkas Aufzeichnungen finden sich jedenfalls häufig Sätze, die kaum eine andere sinnvolle Interpretation zulassen als die, dass sie Versuche sind, Beobachtungen oder Erinnerungen an Beobachtungen sprachlich wiederzugeben. Wenn Realismus in der Literatur bedeutet, dass jemand die Sprache dazu gebraucht, etwas, das er mit seinen äusseren oder inneren Sinnen wahrnimmt, wiederzugeben, dann hat der Kafka der Tagebücher einige Eigenschaften eines realistischen Schriftstellers. Das Brett von Voraussetzungen - bestehe es im Beobachten oder in der sprachlichen Wiedergabe des Beobachteten - wird offenbar nicht immer als etwas empfunden, das den Versuch, etwas zu beschreiben, sinnlos macht. Manchmal, mit einer gewissen Selbstverständlichkeit oder einem gewissen Vergessen begabt, schreibt Kafka auf, was er sieht, was er hört, was er fühlt:
"Frl. H. sie erinnert mich an Frau BI., nur ihre Nase sieht in ihrer Länge, leichten Doppelbiegung und verhältnismässigen Schmalheit wie die verdorbene Nase der Frau Bl. aus. Sonst aber hat auch sie im Gesicht eine äusserlich kaum begründbare Schwärze, die nur von einem kräftigen Charakter in die Haut getrieben sein kann. Breiter Rücken, weit vorgeschrittene Anlage zu dem schwellenden Frauenrücken; schwerer Körper, der dann in der gut geschnittenen Jacke dünn wird und für den nun noch diese schmale Jacke lose ist. Nach Verlegenheiten im Gespräch bedeutet ein freies Heben des Kopfes, dass ein Ausweg gefunden ist.
Aber Kafka ist eben auch ein Schriftsteller, der sich immer wieder an den Voraussetzungen stösst, die er mit einer solchen Beschreibung in Anspruch nimmt. Er unterliegt nicht dem weitverbreiteten Irrtum, der einen naiven Begriff des Realismus voraussetzt, nämlich dass das zu Beobachtende sich selbst als solches auszeichnet und überall auf der Strasse liegt und dass die Sprache eine Art Spiegel ist, der die empfangenen Bilder speichert.
Für Schriftsteller, die an diese naive Form des Realismus glauben, wäre es vielleicht heilsam, wenn man in ihnen für einige Augenblicke künstlich den Zustand auslösen könnte, der von der Psychologie Autismus genannt wird (und in dem es, wie es scheint, nichts anderes gibt als ein gegenstandsloses Flimmern in den Augen, ein Tosen in den Ohren), um sie dann an der allmählichen Herstellung von sich voneinander abgrenzenden Gegenständen teilhaben zu lassen, an der Teilung des Ozeans in verschiedenförmige Tropfen. Zu diesen sich voneinander abteilenden Dingen würde auch die Sprache gehören, die also in diesem Bild nicht einfach ein Instrument ist, das an die schon geordneten Dinge herangehalten werden kann, sondern ein Ding unter Dingen, das wir, jenes Meer anfänglicher Ununterschiedenheit teilend, aus dem gleichen Stoff schaffen, den wir als naive Realisten dann so zu beobachten meinen, als würden wir unsere Beobachtungen fertig und auf uns wartend vorfinden. (In dieser Welt gäbe es keine Bretter, die die Welt bedeuten, sondern diese Welt bestünde nur aus Brettern, die einander wechselseitig bedingen.)

*

Kafkas Beschreibungen von Beobachtungen, wie sie in den Tagebüchern vorkommen und wie sie auch in seine Erzählungen und Romane eingegangen sind, merkt man an, dass sie sich nicht jenem skizzierten naiven Realismus verdanken, sondern ein höchst eigenartiger Ausdruck seiner meist skeptisch gewendeten romantischen Reflexionsphilosophie sind, seines skeptisch erlittenen Solipsismus. Seine Beobachtungen wie deren Beschreibungen haben eine ganz andere Funktion als die, eine schon vorgebene Wirklichkeit in Hinblick auf eine schon vorgebene Reihe von Interessen zu begreifen; - wobei das Wort Funktion hier seltsam unangemessen wirkt, gaukelt es doch etwas wie das Wissen um einen Zweck des Kafkaschen Sprachgebrauchs vor. In Kafkas Beschreibungen kommt nicht nur das voraussetzungsgemäss Beobachtete zu Wort, sondern es wird auch jenes Brett von Voraussetzungen mit fühlbar; hauptsächlich dadurch, dass, ganz im Gegensatz zu den meisten Beschreibungen, im Unklaren gelassen wird, worauf der Beschreibende hinaus will. - Kafka notiert in sein Tagebuch:
"Ein Bekannter kommt und spricht mit mir. Ich lege mich förmlich auf ihn, so schwer bin ich. Er stellt folgende Behauptung auf: Manche sagen das, ich aber sage gerade das Entgegengesetzte. Er führt die Gründe seiner Meinung an. Ich schwanke. Die Hände liegen in meinen Hosentaschen, als wären sie hineingefallen, und doch wieder so locker, als müsste ich die Taschen nur leicht umklappen und sie fielen wieder schnell hinaus."
Was bedeutet es da zum Beispiel, dass Kafkas Hände in den Hosentaschen liegen, als wären sie hineingefallen? Und was bedeutet die Folge der Sätze bzw. der Ereignisse? Worauf bezieht sich die Beschreibung eigentlich? Welche Absichten verbindet Kafka mit seiner Beschreibung? Will er etwas von dem darstellen, was häufig soziale Wirklichkeit genannt wird? Will er seine seelischen Zustände beschreiben? Nach welchen Gesichtspunkten wählt Kafka seine Beobachtungen aus? Das ist viel geheimnisvoller als bei den meisten Schriftstellern. Bei Zola oder Balzac oder auch Musil, bei allen Schriftstellern in der Tradition des realistischen Romans scheinen die Hintergründe des Beschreibens viel stabiler. Jede Antwort auf die Frage, worauf Kafka hinauswill, erscheint dagegen geradezu als Versuch, Kafka das Wort abzuschneiden. Kafka beschreibt zumeist nicht, indem er das, was er als Beobachtetes oder Erfahrenes sprachlich wiedergibt, in einem Netz handhabbarer Voraussetzungen auffängt, sondern er beschreibt und belässt es dabei; so ist es unter der Hauptvoraussetzung, dass etwas beschrieben wird, unsere Sache, deren Teile zu finden oder zu erfinden. Man entdeckt, nach dem Sinn der Ereignisse fragend, in diesen Sätzen eine Reihe, vielleicht eine unabsehbare Reihe von Möglichkeiten, die sich verschieden plausibel anfühlen, und es ist diese zwischen vielen Punkten flutende Bewegung des eigenen Denkens, welche die charakteristische Reaktion auf Kafkas Texte bildet.
Dennoch und nicht in Widerspruch dazu ist Kafka in seinen Tagebüchern häufig das, was man einen genauen Beobachter nennt; - das heisst (jedenfalls sofern er jenes Brett von Voraussetzungen fühlt), er experimentiert mit der Annahme, dass man es sein kann, er untersucht, was geschieht, wenn man Sprache so gebraucht, als könnte man es sein:
"Sänger Gollanin. Friedliches, süssliches, himmlisches, herablassendes, mit zur Seite und in die Tiefe geneigtem Gesicht lang ausgehaltenes, mit gerümpfter Nase etwas zugespitztes Lächeln, das aber auch bloss zur Mundtechnik gehören kann."
Dieser Eintragung ins Tagebuch entspricht eine Passage aus der Erzählung Ein Landarzt:
"In seiner rechten Seite, in der Hüftgegend hat sich eine handtellergrosse Wunde aufgetan. Rosa, in vielen Schattierungen, dunkel in der Tiefe, hellwerdend zu den Rändern, zartkörnig, mit ungleichrnässig sich aufsammelndern Blut, offen wie ein Bergwerk obertags."
Man kann sich den Kafka, der diese Sätze schreibt, als einen geradezu überwachen, ganz an die Phänomene Hingegebenen vorstellen, dennoch fähig, seine Eindrücke ganzen Orchestern von Übertragungen auszusetzen. Die Eindrücke (und es spielt da eben keine Rolle, ob es sich um solche handelt, die wir als tatsächliche ansehen, oder um solche, die wir als Halluzinationen bezeichnen) werden gewissermassen unter die Lupe genommen. Als ob sich die Aufmerksamkeit an ihnen festsaugen wurde. Wenn das Leben, unbeobachtet und unbeschrieben, ein Flimmern vor und hinter den Augen ist, ein Dröhnen ausserhalb und innerhalb der Ohren, dann wird hier eine Einzelheit herausgehoben, ein Element des Flimmerns gerät unter den Bann eines Blicks (wenn es nicht der Blick ist, der unter den Bann eines Elements des Flimmerns gerät) und das Flimmern hört auf. Der Augenblick, der Zeitraum (verstanden als das, woraus Beobachter und Beobachtetes bestehen) wird selbst so stabil wie ein Buchstabe oder ein Wort, bekommt etwas Zeichenhaftes, wird eine wiederholbare Geste, wird ein Bild: "Die Bilder lebendiger als im Kino, weil sie dem Blick die Ruhe der Wirklichkeit lassen."

Nun (das eine Brett der Voraussetzungen wird mit einem anderen vertauscht), diese Art von Beschreibung könnte sich dennoch einzig und allein der Sprache verdanken. - Und das hiesse: mit mir ist die Sprache als universaler Tropus (Novalis) durchgegangen, die Übertragungen finden ohne Rücksicht auf das statt, was angeblich der Gegenstand der Beobachtung oder der Beschreibung ist; der Eindruck wäre also nichts als nur Anlass, blinder, tauber Druck eines jenseitigen Ding-an-Sich oder gar selbst nur unbemerkter Teil der die Weit konstruierenden Sprache. So wäre es also gar nicht möglich, zuerst in der geschilderten Weise stabile Augenblicke, Zeiträume - erinnerungsfähig also reproduzierbar - herzustellen, sie zu Zeichen zu formen und sie dann in einer Sprache, wie es so unklar heisst, wiederzugeben. Eine Folge davon wäre: das, was ich aufschreibe, hat nichts mit dem zu tun, was mir widerfährt, wenn ich nichts aufschreibe, sondern wahrnehme bzw. beobachte. - Die Welt des Schreibenden wäre eine andere als die desjenigen, der innen oder aussen wahrnimmt, ohne zu schreiben.
Für Kafka beschwört sich diese Folge wohl häufig herauf und auch eine Reihe von mit ihr zusammenhängenden Fragen, von denen seine Schriften gesättigt scheinen: Diktiert eine Idee, eine Konvention von Genauigkeit die Worte oder ist es der Reichtum an Unterschieden, den die Dinge selbst besitzen? Kann man sich, gerade kraft der Genauigkeit der Beschreibung, an eine unabhängig von diesem Versuch existierende Wirklichkeit annähern, oder ist das, was ich schreibend jeweils als Welt voraussetze, nur ein Gleichnis für den Umstand, dass ich so schreibe? Oder besteht die Genauigkeit einer Beschreibung darin, einen Reichtum von an und für sich sinnlosen Unterschieden sprachlich in einen Reichtum von sinnvollen Unterschieden zu verwandeln? Oder besteht die Welt aus einem allzu grossen Reichtum aus vergessenem oder noch nicht verstandenem Sinnflimmern, aus einander durchdringenden Zeichen, die zu dicht sind, um immer verstanden zu werden, so dass die Genauigkeit einer Beschreibung in geschickter Verarmung jenes Reichtums besteht? Will ich mir eigentlich zeigen, dass es die Welt so und unwiderruflich gibt, wenn ich mir das geradezu prachtvoll nuancierte Farbenspiel einer offenen Wunde vorführe, oder will ich mir im Gegenteil zeigen, dass diese Pracht die zeichenfähige, zeichenförmige Pracht eines Gleichnisses ist ?
Kafka in seinem Tagebuch: "Traum: Das französische Ministerium, vier Männer, sitzt um einen Tisch. Es findet eine Beratung statt. Ich erinnere mich an den an der rechten Längsseite sitzenden Mann mit einem im Profil flach gedruckten Gesicht, gelblicher Hautfarbe, weit vorspringender (infolge des Plattgedrücktseins so weit vorspringender) ganz gerader Nase und einem ölig schwarzen, den Mund überwölbenden, starken Schnurrbart."- Oder: "Sie ist aber von vorn gesehen hübsch, nur im Profil fährt ihre Nase zu lang, zu spitz und grausam hinab."
Das zweite Brett von Voraussetzungen wird wieder gegen das erste vertauscht, die Voraussetzungen sind im Dunkeln, während einem das geschieht, was aus ihnen folgt: Die erste Aufzeichnung, die der Versuch ist, einen Traum wiederzugeben, und die zweite unterscheiden sich bezeichnenderweise nicht darin voneinander, dass die Traumbeschreibung etwa phantastischer wirkt als die Beschreibung von etwas, das Kafka offenbar mit den Sinnen wahrgenommen hat. Deutlich ist in beiden der Versuch, die Sprache so zu gebrauchen, dass das Resultat eine möglichst differenzierbare visuelle Vorstellung ist. Kafkas Blick ist häufig der eines nach der äusseren oder der inneren Natur malenden Malers; er nimmt Nuancen des Zusammenspiels von Farben und Formen wahr und versucht, diese Nuancen wiederzugeben. Seine Sinne scheinen oft ganz rein, unverstopft im Aufnehmen von Farben, Gerüchen, Geräuschen. Als Folge der Gewohnheit zu beobachten und jener Reinheit der Sinne sind seine inneren Bilder ungewöhnlich stabil oder schon von vornherein beschreibungsförmig. Seine halluzinatorischen Fähigkeiten sind über das übliche Mass hinaus entwickelt oder ungewöhnlich genau an seine sprachlichen angepasst.
Wiederzugeben, wie Kafka wiedergibt, dazu ist einige Anstrengung, einige Kunst nötig. Die Gewohnheiten des Sprachumgangs sind für jeden hinderlich, der sich in dieser Kunst versucht. Kafkas Geschicklichkeit in dieser Hinsicht ist erstaunlich. Und wiederum ist viel schwieriger zu sagen, worin sie besteht, als bei den Beschreibungen vieler realistischer Schriftsteller. Balzacs Genauigkeit etwa ist auf eine Art Vollständigkeit aus; auf eine Vollständigkeit, die sich manchmal selbständig macht, die sich vielleicht seiner Vorstellung umfassender Dokumentation verdankt. Kafkas Genauigkeit ist aber auch nicht jene kalt-positivistische Übergenauigkeit des Robbe-Grillets der Jalousie, dessen übergenaues Unter-die-Lupe-Nehmen sein Gegengewicht in den metaphorischen Energien findet, die geradezu darauf warten, von einem Deutungs-Funken zur Explosion gebracht zu werden. Kafka hat auch in diesem Punkt etwas von der Geschicklichkeit eines Malers; eines Malers, der keineswegs alles von dem wiederzugeben sucht, das er sieht; er hebt hervor, er schafft sprechende Einzelheiten, auch wenn es so schwierig ist zu sagen, was diese Einzelheiten aussprechen.

In der zitierten Traumbeschreibung wird der Versuch, in der Sprache das Visuelle des Traums wieder zu erzeugen, durch nichts gestört. Die Beschreibung scheint nichts als Protokoll. In der anderen Eintragung fährt die Nase nicht nur lang und spitz darin voneinander, sondern auch grausam. Die Grausamkeit einer langen spitzen Nase ist nun natürlich nicht etwas, das man beobachten kann, sondern hier geschieht Seltsames und überraschendes: Es mischt sich sich etwas in das anscheinend rein Phänomenologische, das dazu führt es als Physiognomisches zu interpretieren.
. Was als Versuch einer Wiedergabe von Optischen begonnen hat, wird unversehens zu dem Versuch einer Wiedergabe von Mentalem. Soll also die Form der Nase auf seelische Eigenschaften des Beschriebenen schliessen lassen ? Ich glaube, die Funktion dieses Wortes ist hier verwickelter. Grausam für den Wahrnehmenden könnte ja auch der Eindruck jener langen spitzen Nase sein und nicht nur für die Frau, weil sie eine grausam spitze Nase hat. (So ähnlich wie in einem Bild eine Linie im Verhältnis zu anderen Linien als grausam empfunden werden kann).

Das Eigentümliche dieser und vieler vergleichbarer Beschreibungen Kafkas ist, dass das Seelische oder Mentale nicht ohne weiteres zu lokalisieren ist. Kafka ist eben nicht ein realistischer Schriftsteller. Balzac, bei dem grausam spitze und lange Nasen schon verlässlich das Messer ahnen lassen, das ihr Besitzer im nächsten Kapitel ziehen wird., um die ihm vorbestimmte Grausamkeit auch zu begehen.
Wenn aber nun grausam, obwohl das Wort eine mentale Eigenschaft bezeichnet, mitten unter die beobachtbaren Eigenschaften einer Nase versetzt wird, vielleicht ist es dann auch umgekehrt so, dass die Nase oder sonst irgendetwas Beobachtbares eine mentale Eigenschaft sein kann. Eine lange spitze Nase wäre dann ein seelischer Zustand oder Vorgang. Alles wäre mental, und so wäre auch nichts erstaunliches daran, dass etwas oder jemand eine grausame Nase hat, jedenfalls nicht erstaunlicher, als wenn man jemanden spitze Nasen oder zornige Absichten zuschreibt.
Nun, Kafka lässt weder grausame Nasen noch zornige Absichten in völliger Eigenständigkeit in seinen Eintragungen und Erzählungen auftreten, aber für die Schwierigkeit der Lokalisierung des Beschriebenen und der Kategorie der beschreibenden Prädikate ist doch charakteristisch, wie selbstständig sich bestimmte Einzelheiten, und das sind sehr oft Körperteile, in seinen Erzählungen machen. Man schöpft den Verdacht, dass sie alle, wenn schon nicht selbst seelische Zustände, dann doch wenigsten Allegorien von ihnen seien. Aber wenn Kafka ein Allegoriker ist, dann ist er einer, dem sich die Schlüssel für seine Allegorien ständig wundersam vermehren.
Jedenfalls machen sich die Körperteile in Kafkas Schriften beinahe so selbständig wie Dinge im Märchen; aber es sind häufig nicht märchenhafte Dinge, sondern eben Dinge wie Gelenke, Kniescheiben, einzelne Muskeln usw. - allesamt seltsame Schlüssel-Beine, die geradezu nach dem Entschlüsselnden rufen. Entschliesst man sich aber zu einem Schlüssel, dann hat man sogleich das Gefühl, Kafkas Schrift betrogen zu haben, und paradoxerweise gerade um ihren Sinn; vielleicht deshalb, weil jede Deutung - wie für Kafka die Psychologie - Ungeduld ist. Man war so ungeduldig, einen Sinn zu unterstellen, als ob sich der Sinn von Kafkas Werk schon vor dem jüngsten Tag der Literatur herausstellen könnte.
In diesem Licht erscheinen Kafkas Beobachtungen als Bruchstücke einer zu rekonstruierenden Sprache, die offenbar eine andere wäre als die, in der jene Beobachtungen beschrieben werden. Kafka tut so, als gäbe es nichts Unsymptomatisches, oder so, als ob alles Symptomatische auch semiotisch sein müsste, ein Zeichen, das Bedeutung hat.
Häufig scheint Kafka also die Sprache in den Dingen zu suchen, ohne allerdings jemals grosspurig suggerieren zu wollen, dass er sie findet, oder dass er weiss, dass er sie findet. Und insofern verhält sich Kafka oder wenigstens eine Stimme des Chores Kafka genau gegensätzlich zu dem ihm zeitgenössischen Dadaismus, aber auch zu seinem Zeitgenossen Joyce, die eher dazu geneigt haben, die Dinge in der Sprache zu suchen.
Das seltsam zerstückelnde Körper- und wohl auch Ich-Gefühl Kafkas ist eines der auffälligsten Merkmale sowohl seiner Tagebucheintragungen als auch seiner Erzählungen. Beobachtet wird - so fühlt man den Kafkaschen Regen von Nervositäten - ein sich unwillkürlich zusammenfindender Knochenstrauss, notdürftig und provisorisch verbunden von etwas, das alle Mühe hat, seine Knochen und Knöchelchen im Zaum zu halten: "Mein Kopf lag in der kühlen Luft, und gerade mein rechtes Knie flog am besten, ich lobte es durch Beklopfen."
Es gibt allerdings auch Ebenen, auf denen jene Zerstückelung nicht stattfindet: das ist die Ebene des Wortes und des Satzes. Weder Neologismus noch agrammatische Reihung sind Kafkasche Stilmittel. Seine Schreibweise ist in diesem Bereich geradezu klassisch (in dem Sinn, in dem Borges dieses Wort gebraucht). Eine reich gegliederte hypotaktische Prosa, manchmal rabulistisch verschachtelt, voller Appositionen, Klauseln und Einschüben - voller Merkmale, die sowohl mit Kafkas Judentum als auch mit seiner juristischen Ausbildung zu tun haben mögen, wenn man nicht zuerst seinen skrupelvollen Selbstumgang dafür verantwortlich machen will. Dabei aber wird seine Sprache niemals starr, zeigt sich äusserst flexibel in Wort- und Satzstellung und, damit zusammenhängend, in rhythmischer Gewichtung.

Es gibt für ihn - diesseits der philosophischen Verzweiflung an den Voraussetzungen einer solchen Frage - die Frage nach der richtigen Wiedergabe von Nicht-Sprachlichem im Sprachlichen: "Notwendigkeit, über Tänzerinnen mit Rufzeichen zu reden. Weil man so ihre Bewegung nachahmt, weil man im Rhythmus bleibt und das Denken dann im Genusse nicht stört, weil dann die Tätigkeit immer am Schluss des Satzes bleibt und besser weiterwirkt."
Den Tanz eines Mädchens und zugleich seine Reaktion darauf beschreibt Kafka dann so: "Wie sie beschäftigt die Arme warf, wie die dünnen langen Beine und zarten spielenden Knöchelchen in besonders fühlbar stummer Bewegung waren, wie sie das Tempo nicht einhielt, wie sie aber durch kein Erschrecken in ihrem Beschäftigtsein sich stören liess, was für ein sanftes Lächeln sie hatte, im Gegensatz zu dem verzerrten der anderen, wie ihr Gesicht und Haar fast üppig war im Vergleich zur Magerkeit des Körpers, wie sie den Musikanten ‘langsam’ zurief, auch für ihre Mitschwestern."
Einer bestimmten Deutung zufolge, die Kafka nicht immer verwirft, gibt dieser Text, der aus anaphorisch aufeinanderfolgenden Modalsätzen besteht, den Vorgang wieder als einen rhythmisch wiederkehrenden Ausruf, der gar keines Rufzeichens bedarf. Das Staunen, die Bewunderung, die sich mit jeder Bewegung der Tänzerin erneuert, wird nachgeahmt und auch das Sprunghafte dessen, was nach und nach auffällt.

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Kafka, der beobachtend am Beobachten verzweifelt, beobachtet nicht nur scharf und gibt seine Beobachtungen nicht nur aussergewöhnlich geschickt wieder, sondern vertritt für seine Beobachtungen auch einen, in seiner Strenge der Tradition der Literatur geradezu fremden, Wahrheitsanspruch. Eine eigenartige Moralität des Schreibens, die etwas Barbarisches im Sinne eines Anti-Literarischen hat, bewegt ihn, vergleichbar dem Barbarischen des späten Tolstoi, mit dem Unterschied aber, dass es sein Werk nicht beeinträchtigt, sondern geradezu die Bedingung für dessen ausserordentliche Qualität ist. Während Tolstois wiederkehrender Hass auf die Literatur der Hass auf eine für ihn gottverlassene Kultur ist - ein Hass, der sich eigentlich gegen jede Schrift richtet, welche nicht die Heilige ist -, besteht das Anti-Literarische Kafkas zunächst darin, sich selbst, sein eigenes Erleben so zu beschreiben, dass die aus solcher Forderung resultierende Schrift im Stande sein sollte, ihn vollständig zu vertreten, schliesslich er selbst zu sein.
Das Ziel seines Schreibens wäre also nichts anderes als er selbst, das immer gesuchte authentische Selbst, vielleicht auch seine eigene Verwandlung, die Verwandlung des Mistkäfers in etwas, das er für sich selbst noch nicht ist oder vielleicht auch gar nicht sein kann.
Es ist dieser Anspruch, der es mit sich bringt, dass seine Paradoxa sich nicht von ihm selbst lösen lassen sollen, und sie deshalb zu einem - wie er sowohl hoffen als auch fürchten muss - tatsächlichen, leibhaften, womöglich tötlichen Schmerz machen: "Der beurteilende Gedanke quälte sich durch die Schmerzen, die Qual erhöhend und nichts helfend empor. Wie wenn im endgültig verbrennenden Hause die architektonisehe Grundfrage zum erstenmal aufgeworfen würde."
Kafka scheint zu verlangen, dass die Literatur die Entfaltung des Gedankens des Todes zu sein und deshalb auch mit dem Tod zu enden habe: "Auf dem Nachhauseweg sagte ich Max, dass ich auf dem Sterbebett, vorausgesetzt, dass die Schmerzen nicht zu gross sind, sehr zufrieden sein werde. Ich vergass hinzuzufügen und habe es später mit Absicht unterlassen, dass das Beste, was ich geschrieben habe, in dieser Fähigkeit, zufrieden sterben zu können, seinen Grund hat."
Wir können uns nicht anmassen, darüber zu urteilen, ob Kafka in seinem Anspruch an sich selbst scheitert. Denn immerhin ist sein Haus endgültig verbrannt, und wir wissen nicht, ob dieses endgültige Verbrennen dasselbe für ihn war wie das Aufwerfen der architektonischen Grundfrage.

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Eine der schon zitierten Eintragungen Kafkas in sein Tagebuch wurde nicht vollständig wiedergegeben; vollständig lautet es so: "Geständnis und Lüge ist das gleiche. Um gestehen zu können, lügt man. Das, was man ist, kann man nicht ausdrucken, denn dieses ist man eben; mitteilen kann man nur das, was man nicht ist, also die Lüge. Erst im Chor mag eine gewisse Wahrheit liegen."
Mit dem letzten Satz schwächt Kafka sein Paradoxon ab, zeigt er selbst einen Ausweg. - Wenn mehrere zugleich gestehen und das heisst lügen, dann soll die Architektur dieser Geständnisse, die Lügen sind, oder die Architektur dieser Lügen, die Geständnisse sind, etwas von der Wahrheit zeigen können. Es ist alles andere als klar, wie aus einem Chor von Lügen eine gewisse Wahrheit werden soll; aber es lässt sich erahnen, dass dieser Ausweg etwas mit den Möglichkeiten von Literatur zu tun hat, dass es sich also um den Ausweg handelt, den Kafka selbst zu gehen versucht hat. Diese Literatur, als Polyphonie der lügenden Einzelstimmen, könnte das darstellen, wovon jede einzelne Stimme - und darin gerade bestünde ihr Lügen nichts weiss.

Will Kafka aber damit auch sagen, dass gerade die Literatur der Einzelstimmen, jene, welche es darauf absieht, etwas Bestimmtes zu gestehen oder zu verbergen, erst recht lügt; und damit auch, dass alle Literatur lügt, die vermeint wörtlich zu sprechen, die sich auf eine Beziehung zwischen Zeichen und Gegenstand verlässt, in welcher der Gegenstand vorgegeben ist und bestimmt, was das Zeichen bedeutet?
Hätte Kafka diese Frage mit einem einfachen Ja beantwortet und nicht, wie ich glauben möchte, mit einem paradoxen Ja und Nein, dann wäre ihm eine Literatur zur Verfügung gestanden, die sich Wort für Wort oder sogar Buchstabe für Buchstabe zum Verursacher der Reaktionen auf das Verketten von sprachlichen Reizen macht. Man stelle sich Kafka die Verfahren Raymond Roussels benutzend vor, der, wenn sein diesbezügliches Geständnis keine Lüge ist, seine Romane aus dem Gleichklang von Lauten herstellt; man stelle sich ihn als jemanden vor, der den Sinn seiner Texte als Resultat kombinatorischer, permutativer oder symmetrisierender Vorgänge versteht; stelle sich ihn als mystischen Dadaisten vor, der Buchstaben, Laute mischt und trennt, um der Herstellung des wirklichen Namens willen, dessen Aufgabe es wäre, die zerstreute, zerstreuende Mannigfaltigkeit des Ich und damit der Welt in der richtigen Kombination zu konzentrieren und zu erschöpfen.
Wer Kafka kennt, fühlt, dass er so nicht vorstellbar ist oder wenn er es wäre, dann nur als der absolute Dichter, der verheiratete Junggeselle, der Vater seines eigenen Vaters, derjenige, für den Herstellen und Erfahren (Beobachten) einander auf einen Schlag erzeugen ...
Es gibt allerdings einige wenige Hinweise, dass ihm Verfahren wie jene Roussels nicht so fern gelegen sind, wie man auf den ersten Blick glauben könnte. Da wäre einmal diese rätselhafte Tagebucheintragung, die vielleicht eine Vision jenes absoluten Dichters enthält: "Die ganze Literatur ist Ansturm gegen die Grenze, und sie hätte sich [... ] leicht zu einer neuen Geheimlehre, einer Kabbala, entwickeln können. Ansätze dazu bestehen. Allerdings ein wie unbegreifliches Genie wird hier verlangt, das neu seine Wurzeln in die alten Jahrhunderte treibt oder die alten Jahrhunderte neu erschafft und mit all dem sich nicht ausgibt, sondern jetzt erst sich auszugeben beginnt."
So dunkel diese Eintragung sein mag, vielleicht wird sie durch das erhellt, was Kafka nach der rauschhaften Niederschrift der Erzählung Das Urteil aufzeichnet: "Georg hat so viele Buchstaben wie Franz. In Bendemann ist ´mann' nur eine für alle noch unbekannten Möglichkeiten der Geschichte vorgenommene Verstärkung von ‘Bende'. Bende aber hat ebenso viele Buchstaben wie Kafka und der Vokal e wiederholt sich an den gleichen Stellen wie der Vokal a in Kafka. Frieda hat ebensoviel Buchstaben wie F. und den gleichen Anfangsbuchstaben, Brandenfeld hat den gleichen Anfangsbuchstaben wie B. und durch das Wort ‘feld' auch in der Bedeutung eine gewisse Beziehung. Vielleicht ist sogar der Gedanke an Berlin nicht ohne Einfluss gewesen und die Erinnerung an die Mark Brandenburg hat vielleicht eingewirkt."
Um diese neue oder alte Literatur zu schreiben, müsste man zugleich ein Buchstaben-, Wort- und ein Selbst-Künstler sein, man müsste eine Algebra seiner Zustände entwickeln können, welche zugleich die Zustände dieser Algebra darstellt, man hätte Meister von Zuständen zu sein, die aus Buchstaben zusammengesetzt sind und zugleich Schüler von Buchstaben, die Zustände sind. Träumen sie, wie einseitig auch immer, nicht alle davon, ob sie nun Quirinus Kuhlmann, Novalis, Raymond Roussel, Paul Valery, Stephan Mallarme oder eben Franz Kafka heissen?

Und verfehlen sie dieses Ziel nicht alle deshalb, weil sie entweder ihre Algebra zugunsten ihrer Zustände vernachlässigen oder umgekehrt ihre Zustände zugunsten ihrer Algebra?
Bei jenem Ansturm gegen die Grenze träumt Kafka also vielleicht von einem Schreiben, das sein Gesicht, sein Gehör, seine ganze Welt verursacht, während es von ihr bewirkt wird; von einer Idee, die auf allen Ebenen der Sprache wie auch der Welt mit sich selbst spricht, sich in jeder Einzelheit wiederfindet, sich selbst durch sich selbst stärkt, oder sich selbst durch sich selbst vernichtet. Er träumt vielleicht davon, von nichts mehr absehen zu müssen; davon, von jedem Gesichts- oder Gehörpunkt zu jedem anderen wechseln zu können, sodass dabei die tausend Fluchtlinien des Sinns von tausend Fluchtpunkten ausgehend oder zu tausend Fluchtpunkten hinziehend einander so durchdringen, dass jenes Gewölbe aus einander steigernden oder aneinander zerfallenden Beziehungen entsteht, in dem jede Bewegung eine des Erkennens ist. Man will, so gesehen, nicht zufällig Buchstaben für Silben, Silben für Worte, Worte für Sätze, Sätze für Absätze, Absätze für Kapitel und Kapitel für Bücher und Bücher für Welten hingeben; man versucht jenen einzigen Text, in dem man für jede Beziehung einstehen kann, in dem alles wohlgeordnet ist, in dem das chaotische Rauschen, das Brausen der Lebensformen, der dunkle Tunnel der Voraussetzungen, in den man nach Kafka hineinzuschreiben hat, aufgebraucht wird.
Alle, die schreiben, scheinen daran gescheitert zu sein, die Welt in den Zeichen verschwinden zu lassen oder aus den Zeichen entstehen zu lassen; ausser wir nehmen an, dass irgendeiner dieser Schöpfer so erfolgreich, seine Welt so komplex, so undurchsichtig ist, dass wir, ihre Geschöpfe, uns nicht an unsere Herkunft oder Hinkunft erinnern können. Vielleicht, könnte man Mallarme variierend sagen, hat alles immer schon in ein Buch gemündet.

*

Auch Kafka muss bei seinem Ansturm gegen die Grenze scheitern. Auch er ist einseitig. Denn er geht, wenn überhaupt, erst in zweiter Linie von dem aus, was an der Sprache hörbar und sichtbar ist. Er fühlt sich veranlasst, vor allem von sich selbst, und das in Form der angedeuteten paradoxen Prämissen, auszugehen: Selbstbeobachtung ist unmöglich und ausserdem Laster, Sünde, Lüge. Aber: Schreiben beruht auf Selbstbeobachtung, ja wäre ohne die Annahme, dass Selbstbeobachtung stattfinden kann, unmöglich. Würde das Schreiben für Kafka nicht wesentlich auf Selbstbeobachtung beruhen, dann könnte auch seine Verzweiflung, wenigstens die am Schreiben, ausbleiben. In diesem Sinn liegt die Schwierigkeit Kafkas sowohl mit der Selbstbeobachtung als auch mit dem Schreiben in seiner, wenn auch häufig durch Paradoxa konterkarierten Neigung, beides zu psychologisieren. Anders als sein euphorisches Gegenstück Novalis, den der ganze transpersönliche Optimismus der idealistischen Bewusstseinsphilosophie Fichtes trägt, anders auch als die Dadaisten, für welche die ganze Sprache (und damit auch die der Selbstbeobachtung) durch ihre herkömmlichen Funktionen dermassen korrumpiert war, dass von ihr ohnehin nichts als Fortsetzung der Korrumption zu erwarten war, neigt Kafka zu einer psychologischen Auffassung seiner selbst und damit auch seines Schreibens; einer tendenziell empiristischen Auffassung also, die allerdings auch das Beliebige jedes Selbstbeobachtungsempirismus teilt. Und es mag nicht zuletzt die Erkenntnis dieses Beliebigen sein, die sowohl die Entstehung, Entfaltung der Paradoxa begünstigt, als auch jenen Hass gegenüber aktiver Selbstbeobachtung erzeugt: "Seelendeutungen, wie: gestern war ich so, und zwar deshalb, heute bin ich so, und deshalb. Es ist nicht wahr, nicht deshalb und nicht deshalb und darum auch nicht so und so. Sich ruhig ertragen, ohne voreilig zu sein, so leben, wie man muss, nicht sich hündisch umlaufen."
Kafka ist aber eben widersprüchlich, und sein Tagebuch ist voll von den Selbstumkreisungen, die er in ihrer explizit psychologischen Form verachtet. Und so gibt es den Kafka, der sich in das Ausmalen seiner persönlich verstandenen Schwäche so verbohrt, dass er seine Verhältnisse nicht mehr als Gleichnis, als Literatur verstehen kann; das sind die Augenblicke, da er den Preis für seine Forderung nach Authentizität zu zahlen hat, seinen ganz persönlichen Preis; es sind die Augenblicke, da er sich selbst zum Objekt einer Psychologie macht, das heisst eines Erklärungsschemas, das sich zur nicht hintergehbaren Grundtonart seines Selbstgefühls verselbständigt. Er malt dann die eigenen Schwächen psychologisierend und mit der für ihn charakteristischen unbarmherzigen Genauigkeit aus: "Mein Körper ist zu lang für seine Schwäche, er hat nicht das geringste Fett zur Erzeugung einer segensreichen Wärme, zur Bewahrung inneren Feuers, kein Fett, von dem sich einmal der Geist über seine Tagesnotdurft hinaus ohne Schädigung des Ganzen nähren könnte. Wie soll das schwache Herz, das mich in der letzten Zeit öfters gestochen hat, das Blut über die ganze Länge dieser Beine hin stossen können. Bis zum Knie wäre genug Arbeit, dann aber wird es nur noch mit Greisenkraft in die kalten Unterschenkel gespült. Nun ist es aber schon wieder oben nötig, man wartet darauf, während es sich unten verzettelt. Durch die Länge des Körpers ist alles auseinandergezogen."

Er schreibt dann Sätze, halb abergläubisch, halb identifikationssüchtig wie: "Ich glaube, diese Woche ganz und gar von Goethe beeinflusst gewesen zu sein, die Kraft dieses Einflusses eben erschöpft zu haben und daher nutzlos geworden zu sein."
Kafkas Selbstumgang ist hier ein Gebäude aus abergläubischen Formen, eine Reihe von selbst-hypnotischen Vorrichtungen, sich zu hindern und zu fördern. Aber das ist bei ihm nicht Schauspielerei, als gäbe es dahinter eine Wahrheit zu verbergen, sondern das paradoxe Einswerden von Nachahmen und Vorbilden. Bleibt das Paradoxon aber nicht artikulierbar, dann gibt es dieses Abgleiten Kafkas, in dem er sich selbst zum Objekt einer narzistischen Mischung von Zärtlichkeit und Grausamkeit macht, da er in jenem Gebäude aus vorgefundenen Formen (als dessen Baumeister oder Erdichter er sich nicht fühlen kann) sich selbst als gespenstisches Objekt begegnet, welches seiner eigenen Diagnosen bedarf.
Man kann aber, von hier, von aussen, dazu nicht einfach sagen, dass es Hintertreppen von Kartenhäusern sind; sagt man es, opfert man nur einem anderen Zauber, eben dem des Baumeisters oder Erdichters. Genausowenig kann man wie die Psychologen einfach behaupten, dass es Hintertreppen von wirklichen Häusern sind.
Kafka notiert seine Grausamkeiten mit Kälte, sachlich, ja pedantisch: "Immerfort die Vorstellung eines breiten Selchermessers, das eiligst und mit mechanischer Regelmässigkeit von der Seite her in mich hineinfährt und ganz dünne Querschnitte losschneidet, die bei der schnellen Arbeit fast eingerollt davonfliegen."
Diese Sachlichkeit oder Pedanterie hat allerdings, wie eben alle Beschreibungen Kafkas, etwas Allegorisches - in ähnlichem Sinn, in dem der krude Naturalismus pornographischer Darstellungen etwas Allegorisches hat. Die Darstellung dieser Vorgänge steht nicht allein oder immer für sich selbst, sondern auch für etwas anderes, vielleicht auch für ein kaltes, gespenstisches Wohnen im eigenen Leib. Wäre das Fleisch eine Art Spiegel, dann müsste sich dieses einwohnende Ich häufig als Ungeziefer zeigen. Wäre dagegen das Ich jener Spiegel, dann wäre es das Fleisch, das sich als jenes Ungeziefer zeigte.
Der Kafka, der in seinen Zuständen verloren geht, dem sie zu unübertragbaren natürlichen Gegebenheiten werden, nimmt von der entgegengesetzten, artistischen Seite aus die schmerz- und schmachvollen Folgen seiner Ohnmacht als Erfindungen auf sich. Man kann nicht wissen, ob es für diese so entgegengesetzten Seiten eine Synthese gibt. Fest scheint nur zu stehen, dass kaum jemand die Dialektik zwischen blutigernster, empirischer Selbstbeobachtung und sprachlicher Erfindung so weit getrieben oder ertragen hat wie Kafka. Es gehört zu dieser Dialektik zwischen befangenem, psychologisierendem Selbsterleben und der freien Erfindung des Hauses, dass Kafka seinen Roman seinen Eltern vorliest, sich also mitsamt seiner Kunst freiwillig an den Marterpfahl stellt: "Übermut, weil ich den ‘Heizer' für so gut hielt. Abends las ich ihn den Eltern vor, einen besseren Kritiker als mich während des Vorlesens vor dem höchst widerwillig zuhörenden Vater gibt es nicht. Viele flache Stellen vor offenbar unzugänglichen Tiefen."

III

Während es Novalis'Erkenntnis-Euphorie ist, die ihn Sätze für Welten und Welten für Sätze zerlegen und umkehren lässt - etwa wie ein Musiker Akkorde zerlegt und umkehrt -, und wenn diese Tätigkeit die Frage der Wahrheit, sei es der subjektiven, sei es der wissenschaftlichen, an den Rand drängt oder auch als beantwortet voraussetzt, beharrt einer der Stimmen des Chores Kafka geradezu verzweifelt auf seiner nicht dem Falschen, sondern der Lüge entgegengesetzten Wahrheit. Kafkas Fixierung auf die sprachlose, wenn auch zumeist nicht zeichenlose Wahrheit, auf sich selbst, auf sein Erleben als Instrument der Korrektur für sprachliche Formeln könnte - und dafür mangelt es vor allem in der Literatur seit Kafka nicht an Beispielen - die plattesten Psychologismen und Lyrismen zur Folge haben. Aber gerade der Umstand, dass Kafkas Wahrheitsbegriff paradoxerweise auch vor sich selbst nicht haltmacht, erzeugt Formeln, die seinen Beschreibungen eines Kampfes verschiedener Stimmen oder Kräfte (auch dem, was kaum anders als als Wiedergabe einer Beobachtung verstanden werden kann) eine eigentümlich reflektierte Qualität verleihen. Man merkt diesen Formeln an, dass sie die jeweils beiläufig herausgehobene Stimme aus einem Chor sind, der auch ganz andere, kontrapunktisch widersprechende Stimmen enthält. So wird der jeweils hörbaren Stimme, die eben auf nichts anderem gründet als auf sich selbst, der Boden der Wahrheit entzogen. Einer dieser latenten Kontrapunkte wird von Kafka in seinen Tagebüchern oftmals thematisch heraufbeschworen und lässt sich so paraphrasieren: Wenn Wahrheit mit Hilfe von Sprache schon nicht möglich ist, dann will wenigstens ich, Kafka, selbst in der Sprache verschwinden können. Die Umkehrung der Richtung, in welcher Kafka die Sprache zur Hilfe nehmen will, um Wahrheit zu sein, um nicht mehr vergeblich versuchen zu müssen, Wahrheit sprachlich wiederzugeben, hätte also wie die Grundrichtung den Zweck, die Spaltung aufzuheben, als die sowohl Beobachtung als auch Selbstbeobachtung erfahren wird.

Den Übergang zu dieser Umkehrung bezeugt diese Eintragung in ein Tagebuch: "Wenn ich etwas sage, verliert es sofort und endgültig die Wichtigkeit, wenn ich es aufschreibe, verliert es sie auch immer, gewinnt aber manchmal eine neue."
So etwas wie die Dialektik dieses Überganges wird in der folgenden Erzählung Kafkas entwickelt, die den Titel Von den Gleichnissen trägt:
Viele beklagen sich, dass die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: ‘gehe hinüber’, so meint er nicht, dass man auf die andere Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, dass das Unfassbare unfassbar ist, und das haben wir gewusst. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge. Darauf sagte einer: ‘Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon von der täglichen Mühe frei.' Ein anderer sagte: ‘Ich wette, dass auch das ein Gleichnis ist.' Der Erste sagte: ‘Du hast gewonnen.' Der Zweite: ‘Aber leider nur im Gleichnis.' Der Erste sagte: ‘Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren."
Man könnte diese Parabel Kafkas so variieren, um eine zu ihr parallele Stimme hörbar zu machen:
Viele beklagen sich, dass die Worte der Dichter immer wieder nur etwas wiedergeben, aber unverwendbar seien im täglichen Leben. Wenn der Dichter sagt: "Die Katze klettert auf den Baum", so meint er nicht, dass man sie herunterholen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn es einem darauf ankommen würde, sondern er verfolgt irgendeinen sagenhaften Zweck, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts sagen kann. Alle diese Wiedergaben wollen eigentlich nur sagen, dass das Unfassbare unfassbar ist, und das haben wir gewusst. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge. Darauf sagt einer: "Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Wiedergaben folgen, dann wäret ihr euch selbst wiedergegeben und damit schon von der täglichen Mühe frei.“
Ein anderer sagte: "Ich wette, dass auch das eine Wiedergabe ist." Der Erste sagte: "Du hast gewonnen". Der Zweite: "Aber leider nur in der Wiedergabe." Der Erste sagte: "Nein, in Wirklichkeit; in der Wiedergabe hast du verloren."
Ich will mich hier auf keine Deutung einlassen, weder von Kafkas Erzählung noch von meiner Variation, sondern lediglich anmerken, dass sowohl Kafkas Parabel als auch ihre Variation offenbar in einem Dilemma münden, und dass es dieses Dilemma ist, das Kafka wechselweise dazu bringt, seine Wahrheit mit Hilfe der Sprache wiederzugeben und die Sprache zu seiner Wahrheit zu machen, in der er verschwinden kann. Es hat mit jenem Dilemma zu tun, dass Kafka von sich fordert, seinen Körper (dessen Gegenwart für ihn vor allem im Schmerz unabweisbar wird) mit dem, was er schreibt, nicht in dem vagen, leichtfertigen Sinn zu verbinden, der es jedem, der Worte gebraucht, so leicht macht zu behaupten, dass er meint, was er sagt. Er begnügt sich nicht mit jenen Traditionen der Dichtung, die für das wörtlich verstandene, das heisst darin endgültig verbrennende Selbst, etwas setzen, das als poetisches Ich zwischen grammatikalischem Ich, logischem Subjekt, Metapher für einen Zustand und Bezeichnung für ein Allgemeines schwankt. Für Kafka, Regisseur seines eigenen, stillen Theaters der Grausamkeit, für ihn, diesen introvertierten Bruder des gewalttätigeren Antonin Artaud, soll es den Unterschied zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung, zwischen Gleichnis und Tatsache eben nicht immer geben.
Ich habe jetzt und hatte schon Nachmittag ein grosses Verlangen, meinen ganz bangen Zustand ganz aus mir herauszuschreiben und ebenso wie er aus der Tiefe kommt, in die Tiefe des Papiers hinein, oder es so niederzuschreiben, dass ich das Geschriebene vollständig in mich einbeziehen könnte. Das ist kein künstlerisches Verlangen.
Ob dieses Verlangen gestillt wird oder nicht, ob es überhaupt gestillt werden kann, das steht, wenn irgendwo, in den Sternen, vielleicht in einer gesuchten Anordnung der Rätselschrift des eigenen Selbst, und etwas anderes als die Kunst wäre deren Fluchtpunkt und Lösung. Dass dieses Verlangen nicht gestillt wird, ist jedenfalls ein Gefühl, das sich beinahe ununterbrochen aufdrängt. Die bangen Zustände bleiben von den Schriftzeichen getrennt, sind, wenn sie Zeichen sind, unleserlich, und man muss sein Verlangen bezähmen und sich zumeist - da die Behauptung der Identität von Zeichen und Zustand so verstiegen scheint - damit zufriedengeben, wenigstens auf ihrem Zusammenhang zu beharren.
Als Gewähr oder vielleicht Ersatz für diese so ersehnte Wahrheit oder Wirklichkeit verlangt Kafka möglichst ergreifenden Rapport zwischen Sprache und dem anderen. Die Sprache soll ihm ein Medium werden, auch im magischen Sinn dieses Wortes.
Selbst dieses Verlangen ist eigentlich nicht künstlerisch, wenigstens nicht in dem blutigernsten Sinn, mit dem das Spiel mit Worten hier als ein Spiel mit Zuständen getrieben werden soll. Das Spiel, dessen Preis vielleicht Kopf und Kragen ist, dessen Gewinn aber dafür eine Wahrheit sein soll, die zugleich ihre eigene Wirklichkeit herstellt, besteht für Kafka deshalb auch in dem Versuch, seine Kunst von seinen Zuständen abhängig zu machen und seine Zustände von seiner Kunst.
Zustände wiederum, deren Flüchtigkeit die klassifikatorisehen Mechanismen des Selbst, also auch die Sprache, so leicht leerlaufen lassen, scheinen dann leichter klassifizierbar zu sein, wenn man sie als Umstände behaupten kann, welche das Schreiben auf absehbare Weise auslösen und steuern. - Kafka hat nicht nur Vorstellungen darüber, welche Umstände oder Zustände ihn am Schreiben hindern, unter welchen Umständen oder Zuständen er schreiben kann, er hat sogar Vorstellungen davon, unter welchen Umständen oder Zuständen er besser oder schlechter hätte schreiben können. Er hätte nicht etwa nur faulende Äpfel in der Lade, die ihn auf undurchschaubare Weise auf Ideen bringen sollen, sondern jene faulenden Äpfel hätten auch auf erkennbare Weise zum Sinn des Geschriebenen zu gehören, ähnlich wie die eigene Magerkeit oder die eigene Lungenkrankheit dazu gehört.
Und so mag es sowohl mit Kafkas Zuständen zusammenhängen als auch mit seinen Sätzen, mit deren spezifischer Grammatik, dass er häufig daran glaubt, es sei für die Qualität seines Schreibens wichtig, ob er schreibend seine eigene Genialität dabei auch erlebt; ob es ihm möglich ist, in einem Zug oder in möglichst wenigen Zügen niederzuschreiben. Häufig meint er, dass er um so besser schreibt, je mehr er von seinem Schreiben ergriffen ist. Von der Kühle, dem sich selbst anonymen Vorwärtstasten, jenem mit dem Rücken zu sich selbst stehenden Arbeiten, auf dem so viele gerade der besten Schriftsteller beharren, scheint er wenig wissen zu wollen. Er legt wenig Wert auf sein Können, auf diese arbeitsteilende Fähigkeit, die den Schriftsteller zu jemandem macht, dessen Vergnügen oder Erleichterung auch darin besteht, sich durch die Arbeit von sich selbst zu entfernen.
Wenig ist in Kafka von der objektivistischen Ausrichtung auf das Werk, wie sie etwa Flaubert von sich verlangt hat oder auch Joyce. Diese Dichter stellen sich ihre Aufgabe als etwas Objektives vor, und wenn man angesichts ihrer Werke von Heroismus sprechen kann, dann deshalb, weil sie auf ihr eigenes Erleben, auf ihre eigenen Zustände zugunsten einer produktiven Entfremdung verzichten. Sie beanspruchen gar nicht, sich wissentlich auf ihre Zustände zu beziehen, sondern haben vielleicht Erinnerungen, aber hauptsächlich haben sie Materialien, aus welchen sie etwas herstellen. Selbst bei Proust, der sich erinnernd in sich selbst zu versenken sucht, ist das so. Seine unwillkürliche Erinnerung ist eine Technik (und beileibe nicht die einzige), um einen Roman zu schreiben.
Kafkas Schreiben soll dagegen eine Technik sein, ihn selbst hervorzubringen. Er ist nichts, wenn er nicht schreibt. Aber er schreibt auch nichts, ausser wenn er sich selbst schreibt, und diese Vorstellung ist auf seinem Niveau von Literatur ganz ungewöhnlich. - Keiner der genannten Schriftsteller hätte wohl mit dieser Tagebucheintragung Kafkas übereingestimmt: "Die besondere Art meiner Inspiration, in der ich glücklichster und unglücklichster jetzt um zwei Uhr nachts schlafen gehe [... ] ist die, dass ich alles kann, nicht nur auf eine bestimmte Arbeit hin. Wenn ich wahllos einen Satz hinschreibe, zum Beispiel:,Er schaute aus dem Fenster', so ist er schon vollkommen."
Bei den meisten Schriftstellern ist die Vorstellung, den Zustand der Genialität während der Produktion erleben zu sollen, ein Zeichen mangelnder Reflexion oder auch eines romantisch naiven Selbstumgangs. Es gibt vielleicht keinen anderen Künstler auf Kafkas Niveau, der eine Art Rausch, eine Art hypnotischer Hellsichtigkeit so häufig zur Bedingung und zum Ziel seiner Arbeit gemacht hat. Und man muss sich darüber wundern, dass diese Haltung, ob auferlegt oder anerzogen, seine Kunst nicht zerstört hat. Es ist verblüffend, dass ein Heroismus, der anderen längst nur mehr als Karikatur wirklichen Dichtens möglich ist (als archaisierendes Besessenes und geisterbeschwörendes Schamanistisches oder als armselige Flucht in angeblich authentische Selbsttherapie oder -darstellung), hier tatsächlich stattfindet oder sich wenigstens als Ausstrahlung in Kafkas Schriften fühlen lässt.
"Meine Kraft reicht zu keinem Satz mehr aus. Ja, wenn es sich um Worte handeln würde, wenn es genügte, ein Wort hinzusetzen und man sich wegwenden könnte im ruhigen Bewusstsein, dieses Wort ganz mit sich erfüllt zu haben."
Kafka ist einer der wenigen, der den Wunsch ein Wort ganz mit sich zu erfüllen, äussern kann, ohne lächerlich oder schamlos zu wirken.
Es geht um die Wahrheit. Und wenn Erkenntnis von Wahrheit und Ergriffensein einander ausschliessen (was keine unplausible Annahme wäre), andererseits aber eine Wahrheit, welche nicht ergreift, nicht die Wahrheit sein kann, um die es einem Wahrheitssuchenden wie Kafka geht, dann wären die Bedingungen der Kafkaschen Wahrheitssuche wiederum paradox. Ergriffensein könnte Wahrheit unmöglich machen und die Wahrheit Ergriffensein.
Die Interpretation der Zustände oder Umstände und auch ihr Wert für das Schreiben oder, auch umgekehrt, die Interpretation der Schrift in ihrem Wert für die Zustände oder Umstände bleibt aber vielspältig und wird häufig als zwiespältig begriffen: Dass dieses oder jenes so sehr schadet, gerade das kann nützen. Dass dieses oder jenes so sehr nützt, gerade das kann schaden, geradeso wie für Kafka eine wirkliche Hoffnung aus wirklicher Hoffnungslosigkeit stammen kann, eine wirkliche Verzweiflung aus wirklichem Glück. Und die lähmende Unfähigkeit zu schreiben, die Kafka so häufig befällt, wäre dann gerade die Voraussetzung für die von Zeit zu Zeit stattfindenden rauschhaften Niederschriften. Wenn man genial oder allmächtig sein will, muss man es auch ertragen, ganz beschränkt oder ohnmächtig zu sein. Wenigstens in der Literatur soll das so sein, denn die Literatur ist ja eine Methode, das ganze Wesen aufzubrauchen und nicht etwa nur entweder seine klugen oder seine dummen Teile oder entweder seine glücklichen oder seine unglücklichen. Kafkas wiederkehrende Selbstverkleinerungen und Selbstvergrösserungen, seine manischen Züge mögen auch ein Versuch sein, eine solche Dialektik hervorzurufen: Die Letzten werden die Ersten sein, aber die Ersten sind auch die Letzten. Dem entsprechend scheinen völlige Verzweiflung und tollkühner Optimismus direkt auseinander hervorzugehen.

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Vielleicht ist es auf den Anspruch Kafkas, eine Sprache zu schaffen, in der man mit Haut und Haaren verschwinden können muss, zurückzuführen, dass seine Sprache auf äussert subtile Weise das, wovon sie spricht, herstellt, Gestalt werden lässt.

Kafkas Sätze beanspruchen so etwas wie die Projektion aller Sinne auf die Sprache, und nicht nur derjenigen, welche die Sprache selbst anspricht; also eben nicht nur die Projektionen von Gesichts- oder Gehörsinn, sondern auch von Tast-, Geruchs- oder Geschmackssinn. Kafka selbst beschwört, in sein Tagebuch notierend, diese totale Projektion des eigenen Körpers in den der Sprache herauf: "Kälte und Hitze wechselt in mir mit dem wechselnden Wort innerhalb des Satzes, ich träume melodischen Aufschwung und Fall, ich lese Sätze Goethes, als liefe ich mit ganzem Körper die Betonungen ab."
Es gibt aber eine seltsame Asymmetrie, die verhindert, dass man Sätze willkürlich hinschreiben und in ihnen einfach verschwinden kann. Sie zeigt, dass man manchmal auch dankbar dafür sein muss, dass das sprachliche Denken Grenzen hat: "Mir immer unbegreiflich, dass es jedem fast, der schreiben kann, möglich ist, im Schmerz den Schmerz zu objektivieren, so dass ich zum Beispiel im Unglück, vielleicht noch mit dem brennenden Unglückskopf mich setzen und jemandem schriftlich mitteilen kann: ich bin unglücklich. Ja, ich kann noch darüber hinausgehen und in verschiedenen Schnörkeln je nach Begabung, die mit dem Unglück nichts zu tun zu haben scheint, darüber einfach oder antithetisch oder mit ganzen Orchestern von Assoziationen phantasieren. Und es ist gar nicht Lüge und stillt den Schmerz nicht, ist einfach gnadenweiser Überschuss der Kräfte in einem Augenblick, in dem der Schmerz doch sichtbar alle meine Kräfte bis zum Boden meines Wesens, den er aufkratzt, verbraucht hat. Was für ein Überschuss ist es also?"
Wäre dieser Überschuss der Kräfte Lüge, wenn er den Schmerz stillen würde, oder ist er gerade deshalb Lüge, weil der Schmerz, derjenige, der Schmerzen hat, nicht in jenem Überschuss verschwindet? Kafka neigt zu beiden Ansichten gleichermassen. Und der skeptische Kafka hat sich wohl gesagt, dass Überschuss der Kräfte nichts als ein Euphemismus ist, geeignet, den entscheidenden Mangel der Sprache, des sprachlichen Denkens zu verdecken; ein Mangel, der darin besteht, dass Zeichen und die Zustände, die jene Zeichen bezeichnen sollen, einander nicht notwendig wechselseitig hervorbringen. Wenn es einige sprachliche Formen gibt, von denen man bemerkt, dass sie nichts bedeuten, dann könnte es ja auch so sein, dass alle sprachlichen Formen nur scheinbar mit den Gegenständen zu tun haben.

Und dann wäre jener Traum Kafkas, in der Sprache zu verschwinden, seinen ganzen Leib auszuschreiben, nicht verwirklichbar, wäre blauer Dunst, Begleiterscheinung der grammatikalischen Maschinerie.
Will man aber daran glauben, dass einen gerade dieses Wort, dieser Satz, jene Erzählung vollkommen enthält, dann stellt man an das Schreiben den Anspruch, Aspekt einer geheimnisvollen Transsubstantiation zu sein. Jedes Wort, jeder Satz, könnte der letzte sein, sollte der letzte sein können, derjenige, der einen aufbraucht. Von dieser Tendenz Kafkas her ist seine Forderung zu sehen, dass jedes Wort, jeder Satz und auch jede Behauptung die Verpflichtung enthält, sich ihr mit äusserster Intensität zu unterwerfen. Eine Behauptung wird so zu einer ungeheuren, vielleicht unlösbaren Aufgabe, die darin bestünde, sich so zu sich selbst zu verhalten, dass man all die Voraussetzungen und Implikationen der eigenen Existenz in die der Behauptung verwandelt. Gelingt das nicht, dann folgt unweigerlich eine andere Behauptung, vielleicht die Antithese zur ersten. Sie wird dann zum Beweis dafür, dass man seiner Pflicht oder auch Neigung zur Wahrheit nicht nachgekommen ist. Wie soll man sich selbst, seinem Schreiben noch trauen können, wenn es sich in Antithesen verzweigt, also nicht in eine Lösung mündet ?

Aus Franz Josef Czernin
Sechs tote Dichter
Sonderzahl , Wien.

mit freundlicher Genehmigung des Autors


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