Malte Olschewski:

Sehr geehrte Weltöffentlichkeit!

© Malte Olschewski

Eine Sprachanalyse des Briefes von Natascha Kampusch: Jemand führte ihr die Feder

Fünf Tage nachdem sich die 18jährige Natascha Kampusch aus achtjähriger Gefangenschaft befreit hatte, verlas der Wiener Psychiater Max Friedrich während einer Pressekonferenz einen Brief, den das Mädchen an die Medien gerichtet hatte. Le style c'est l' homme! (Der Stil ist der Mensch). Das hatte schon die französische Akademie im 18. Jahrhundert erkannt. Über die Sprache und über den Stil lassen sich Erkenntnisse über den Verfasser gewinnen. Eine dementsprechende Analyse des Briefes ergibt eindeutig, daß das Schreiben eine Gemeinschaftsproduktion des Entführungsopfers und seiner Betreuer sein muß. Diese Kooperation könnte in bester Absicht geschehen sein. Durch den ganzen Text läuft ein Appell an die Medien, Anstand und das richtige Augenmass zu bewahren. Offenbar hat der Wettlauf um die Biographie Nataschas schon begonnen. Verschiedene Medien dürften mit hohen Beträgen winken. Wer bekommt das erste Interview mit Natascha? Wer darf mit ihr das Verließ besichtigen, in dem sie acht Jahre zugebracht hat? Wer darf mit ihr an das Grab des durch Selbstmord geendeten Entführers treten? Die Diskussion, was die Medien tun oder nicht tun dürfen, wird durch den Wiener Entführungsfall mit zunehmener Heftigkeit geführt. Hier stossen zwei Prinzipien aufeinander. Immer mehr Medien suchen mit sensationellen Enthüllungen aus dem Privatbereich gegen die Konkurrenz zu punkten. Auf der anderen Seite hat der Gesetzgeber den Schutz der Privatsphäre relativ genau festgelegt. Der Brief der 18jährigen verdeutlicht diese Problematik. Das Schreiben beginnt laut ORF-Tonmitschnitt folgendermassen:

Sehr geehrte Journalisten, Reporter, sehr geehrte Weltöffentlichkeit!

Ich bin mir durchaus bewusst, welch starken Eindruck die Ereignisse der letzten Tage auf Sie alle gemacht haben müssen. Ich kann mir gut vorstellen, wie schockiert und beängstigend der Gedanke ist, dass so etwas überhaupt möglich ist. Ich bin mir ferner bewusst, dass Sie mir eine gewisse Neugier entgegenbringen und natürlich nähere Details über meine Umstände wissen wollen, in denen ich lebte. Ich möchte Ihnen im Voraus jedoch versichern, dass ich keinerlei Fragen über intime oder persönliche Details beantworten will und werde. Ich werde persönliche Grenzüberschreitungen, von wem auch immer voyeuristisch Grenzen überschritten werden, ahnden. Wer das versucht, kann sich auf etwas gefasst machen. Ich wuchs heran zu einer jungen Dame mit Interesse an Bildung und auch an menschlichen Bedürfnissen.

Bei Lesen des Textes muß man sich immer daran erinnern, dass Natascha im Alter von zehn Jahren entführt wurde. Sie ist keine gute Schülerin gewesen. Das beweist auch die Tatsache, dass sie auf dem Weg zu einer vor Schulbeginn angesetzten Förderstunde in ein Auto gezerrt worden ist. In den acht Jahren ihrer Gefangenenschaft durfte sie zeitweise Fernsehen und Radio hören, was nur begrenzt zu einer höheren Allgemeinbildung beitragen kann. Ihr Entführer Wolfgang Priklopil hat sie zwar mit Büchern versorgt. Ob der arbeitslose, ehemalige Elektro-Lehrling das richtige Lesematerial ausgewählt hat, ist zu bezweifeln. Ebenso kann Natascha von Unterhaltungen mit ihrem psychisch abnormen Entführer nur sehr wenig profitiert haben. Die Anrede Sehr geehrte Weltöffentlichkeit! ist kindlich kurios und dürfte daher von Natascha stammen. Bei ihrem Ausflug in die Welt der politischen Korrektheit dürfte ein Ghostwriter die Feder geführt haben, da sich sich Natascha mehrmals verschiedener Dinge bewußt wird. Da kann leicht ein grammatikalischer Fehler geschehen: Ich kann mir gut vorstellen, wie schockiert (anstelle richtig: schockierend) und beängstigend.....
Die 18jährige sieht sich nun im Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit. Sie will Fragen über intime Details nicht zulassen und sogar ahnden:
Ich werde persönliche Grenzüberschreitungen, von wem auch immer voyeuristisch Grenzen überschritten werden, ahnden.
Der falsch gebaute Satz ist typisches Beamtendeutsch der Wiener Machart: Zweimal das Wort Grenze mit einem nachhängenden, heute kaum mehr verwendeten Verb. Wer das versucht....
Dieser Satz klingt echt und ist eine Drohung, die einer jungen Dame mit Interesse an Bildung so gar nicht entspricht. Einmal der Ghostwriter, dann wieder Natascha im Original, könnte man meinen.

Der Lebensraum: Mein Raum war hinreichend eingerichtet. Es ist mein Raum gewesen. Und nicht für die Öffentlichkeit zum Herzeigen bestimmt. Der Lebensalltag: Dieser fand geregelt statt, meist ein gemeinsames Frühstück - er hat ja meist nicht gearbeitet -, Hausarbeit, lesen, fernsehen, reden, kochen. Das war es, jahrelang. Alles mit Angst vor der Einsamkeit verbunden. Zur Beziehung: Er war nicht mein Gebieter. Ich war gleich stark, aber - symbolisch gesprochen - er hat mich auf Händen getragen und mit den Füßen getreten. Er hat sich aber - und das hat er und ich gewusst - mit der Falschen angelegt. Er hat die Entführung alleine gemacht, alles war schon vorbereitet. Gemeinsam hat er dann mit mir den Raum hergerichtet, der nicht nur 1,60 Meter hoch war. Ich hab übrigens nach der Flucht nicht geweint. Es war kein Grund zur Trauer. In meinen Augen wäre sein Tod nicht nötig gewesen. Es wäre sicherlich eine Strafe nicht der Weltuntergang gewesen. Er war ein Teil meines Lebens. Deswegen trauere ich in einer gewissen Weise um ihn. Es stimmt natürlich, dass meine Jugend anders als die manch anderer ist, aber im Prinzip hab ich nicht das Gefühl, dass mir etwas entgangen ist. Ich hab mir so manches erspart, nicht mit Rauchen und Trinken zu beginnen und keine schlechten Freunde gehabt zu haben.

Natascha kommt nun auf die Lebensumstände während der acht Jahre zu sprechen. Sie betont zweimal, es sei mein Raum gewesen. Das entspricht dem Nest-Syndrom und dem positiven Gefühl, das viele Gefangene nach langer Haft für ihre Zelle oder ihr Verließ empfinden. Natascha unterstreicht den geregelten Alltag, der bis auf das Gefangensein tatsächlich dem Alltag vielen Frauen zu gleichen schien. Vielsagend ist die Angst vor der Einsamkeit. Denn was würde geschehen, wenn ihr Entführer als rasanter BMW-Fahrer einen Unfall haben würde? Sie würde wohl in ihrem Verließ verhungern müssen. Ihr Entführer, schrieben die Medien, wollte, daß sie ihn mit Gebieter anzusprechen habe. Er sei aber nicht ihr Gebieter gewesen, schreibt Natascha nun. Sie sei gleich stark gewesen. Man kann sich vorstellen, wie in den acht Jahren um Details der Herrschaft gerungen wurde. Er ordnet ihr das an, sie tut es nicht. Er befiehlt ihr etwas anderes, sie tut es nur zur Hälfte. Es war Haßliebe auf beiden Seiten, für die Nataschas beamteter Ghostwriter sogar ein stimmiges Bild findet: Auf Händen getragen und mit den Füssen getreten.
Dann wieder ein Satz, der von Natascha stammen dürfte: Sie hat in dem Verließ viele kleine Siege davon getragen, weil sie eben mehr Zeit hatte und die Geduld des Entführers begrenzt war. Daher hat er es sich mit der Falschen angelegt. Natascha stellt nun einiges richtig. Es sind die ersten Entgegnungen auf Medienberichte: Er habe die Entfühung alleine gemacht... Sie habe nicht geweint...Der Raum sei höher als 1,60 gewesen....Und dann kommt der indirekt erhobene Zeigefinder der Pädagogen: Sie habe sich so manches erspart: Rauchen! Trinken! Schlechte Freunde! Auffallend ist, daß ihre getrennt lebenden Eltern mit keinem Wort erwähnt werden. Ihrem Vater hat das Mädchen geschrieben, dass man später noch alle Zeit der Welt haben werde. Es muss aber Gründe dafür geben, dass die Behörden Natascha vorerst von Vater und Mutter fernhalten.

Botschaft an die Medien: Das einzige, wovor die Presse mich verschonen soll, sind die ewigen Verleumdungen meiner selbst, die Fehlinterpretationen, die Besserwisserei und der mangelnde Respekt mir gegenüber. Gegenwärtig fühle ich mich an meinem Aufenthaltsort wohl, vielleicht ein bisschen bevormundet. Ich hab es aber so beschlossen, nur telefonische Kontakte zu meiner Familie aufnehmen zu wollen. Ich werde selbst bestimmen, wann ich mit Journalisten Kontakt aufnehmen werde.
Zu meiner Flucht: Als ich das Auto im Garten putzen und aussaugen sollte, hat er sich während des Staubsaugerlärms entfernt. Das war meine Gelegenheit, ich ließ den Staubsauger einfach laufen. Übrigens nannte ich ihn nie Gebieter, obwohl er das wollte. Ich denke, er wollte das zwar - so genannt -, meinte es aber nicht wirklich ernst. Ich habe einen Vertrauensanwalt, der Rechtliches mit mir regelt. Die Jugendanwältin Pinterits ist meine Vertraute, mit Dr. Friedrich und Dr. Berger kann ich gut reden. Das Team von Herrn Frühstück (i.e. der Chefermittler) war sehr gut mit mir. Ich lasse sie auch herzlich grüßen, aber ein wenig neugierig waren sie schon. Das ist allerdings ihr Beruf. Intimfragen: Alle wollen immer intime Fragen stellen, die gehen niemanden etwas an. Vielleicht erzähle ich das einmal einer Therapeutin oder dann jemanden, wenn ich das Bedürfnis habe oder aber auch vielleicht niemals. Die Intimität gehört mir alleine. Herr H. (der Freund Priklopils, der ihn kurz vor seinem Selbstmord mit dem Auto mitgenommen hat) - das ist meine Botschaft - soll sich nicht schuldig fühlen. Er kann nichts dafür, es war Wolfgangs eigene Entscheidung, sich vor den Zug zu werfen. Mit der Mutter von Wolfgang verbindet mich Mitgefühl. Ich kann mich in die jetzige Situation hineinfühlen und hineinversetzen. Ich und wir beide denken an ihn. Bedanken möchte ich mich aber auch bei allen Menschen, die an meinem Schicksal so sehr Anteil nehmen. Bitte lasst mich in der nächsten Zeit noch in Ruhe. Dr. Friedrich wird es mit dieser Erklärung erklären. Viele Leute kümmern sich um mich. Lasst mir Zeit, bis ich selbst berichten kann.

Der Schluß des Briefes wird mit einer Botschaft an die Medien eingeleitet, wiewohl das schon in der Anrede zu Beginn erfolgt war. Es dürfte ihr ein besonderes Anliegen sein. Natascha beklagt sich über ewige Verleumdungen... Fehlinterpretationen, Besserwisserei und mangelnden Respekt.
Es hat in den Medien tatsächlich einige solcher Formulierungen gegeben: Der Wolfgang war immer lieb zu mir! Das soll Natascha nach Angaben eines Wiener Boulevardblatts gesagt haben. Die sie begleitende Polizistin sprach im ORF von ihrem Eindruck, wonach das Mädchen mißbraucht worden sei. Auch Nataschas Vater will für die Medien blaue Flecken an ihren Körper festgestellt haben. Für ewige Verleumdungen war indes noch gar keine Zeit. Diese Klagen über Verleumdungen usw. könnten aber ein Hinweis auf den Kampf sein, der unweigerlich hinter den Kulissen um ihre Biographie geführt wird. Schon kurz nach ihrer Flucht waren Personen aufgetaucht, die gegen Spenden Interviews mit Nataschas Familie vermitteln konnten. Doch weiter im Text: Natascha schildert ihre Flucht nur in knappen Worten. Wieder kommt sie auf den Gebieter zu sprechen. Dann dankt sie unvermittelt jenen Personen, die sie betreuen und befragen. Bei einem stolpernden Satzbau geht es nun stark durcheinander, was Nataschas alleinige Autorenschaft vermuten läßt. Sie kommt auch prompt wieder auf ihre Hauptproblem zu sprechen, auf die Fragen nach intimen Beziehungen zum Entführer. Wer sind alle, die immer nur intime Fragen stellen wollen? Gab es schon erste Kontakte zu einer neu erscheinenden Tageszeitung? Wird Natascha den Lockungen von kolportierten 200 000 Euros erliegen, obwohl sie apodiktisch erklärt hat: Meine Intimität gehört mir! Sie will vorerst in Ruhe gelassen werden. Dr. Friedrich wird es mit dieser Erklärung erklären, heißt es in einem rätselhaften oder nur hilflosen Satz gegen Ende ihres Briefes.


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