Tatort - Der Serienerfolg


Warum der Tatort so erfolgreich ist.
Eine fernsehdramaturgische Analyse

© Malte Olschewski

Anmerkung der Redaktion: 1995 habe ich mich anlaesslich der Buchmesse mit meinem Kollegen Helmut Eisendle in Frankfurt/Main umgetan. Helmut kannte die deutsche Verlagsszene einiges besser als ich. So besuchten wir eine Dame, die nahe des Bankenviertels in einer nobel aussehenden Wohnstrasse lebte. Die Dame arbeitete fuer den Filmverlag der Autoren, der in Folge zum sich besonders fortschrittlich gebaerdenden Verlag der Autoren gegruendet worden war. Ich dachte zuerst, dass waere noch ein Relikt der 68-er Jahre. Weit gefehlt, die Dame erzaehlte uns, dass der Verlag sein florierendes Geschaeft mit Drehbuechern sonder Zahl fuer die deutschen TV-Abendkrimis diverser Anstalter betreibt, bzw. zumindest damals betrieben hat.

Im Mai wird die 700. Folge der Kriminalserie Tatort gesendet. Seit nunmehr 37 Jahren haben jeweils am Sonntag in der ARD gezählte 73 Kommissare Übeltäter gejagt und in den meisten Fällen auch verhaftet.Die Idee war, dass jedes Landesstudio zuzüglich der Schweiz und Österreich die einzelnen Folgen zu gestalten hatte. Es ist dies ein absoluter Rekord in der TV-Serienwelt, in der unablässig um neue Formate und um die Aufmerksamkeit der Zuseher gerungen wird. Der dauerhafte Tatort gibt auf den ersten Blick Rätsel auf, die sich aber auflösen, wenn man hier die Gesetze der Fernseh- und Filmdramaturgie anwendet. In keiner anderen Serie werden diese Regeln so genau eingehalten wie im Tatort.

Diese Gesetzmässigkeiten sind erstmals vom Wiener Experten Erich Dvorak formuliert worden. Bindung des Zuschauers geschieht durch genaue Dramaturgie. Und so manche Sendung könnte sich länger behaupten, würde sie nicht so eklatant diese Gesetze missachten. Laut Dvorak lösen jede Bewegung, jeder Figur und sogar jeder Bildschnitt beim Zuschauer unbewusste Reaktionen aus. Es ist ein Unterschied, wenn eine Figur nach rechts oder nach links abgeht. Zu einer grünen Wiese passt als Musik am besten eine bestimmte Tonart. In jedem Bild gibt es halbrechts erhöht ein Aufmerksamkeitszentrum. Blickwinkel von unten wirkt immer negativ. Ein Schwenk der Kamera muss von mindesten zwei Sekunden Stand ausgehen und ebenso lang enden. Die Blende ist ein Element der Zeit. Bildschnitte wirken stärker, wenn sie im Takt des menschlichen Herzschlages geschehen. Im Aufbau der Handlung ist eine Struktur einzuhalten: Symbolhafter Einstieg, affektiver Höhepunkt, Exposition, Erzählstrecke, dramatischer Gipfel, Umkehr und Ausstieg als offener oder endgültiger Schluss. Jedes dieser Gesetze kann gebrochen und missachtet werden, wenn das in wahrnehmbarer Absicht und als deutlicher Kunstgriff geschieht. Je genauer der Regisseur diese Gesetze einhält, um so eher wird ihm eine Bindung des Publikums gelingen. Der Tatort hält sich im wesentlichen an diese Vorgaben. Der Einstieg mit dem laufenden Mann und der akustischen Parallele zum Martinshorn des Polizeieinsatzes mag veraltet erscheinen, bleibt aber wegen seiner starken Signalwirkung unverzichtbar. Der bald folgende affektive Höhepunkt ist der Köder. Das interessiert mich! Das schau ich mir an! Das könnte auch mich angehen! Die Kriminalhandlung wird meist in allgemeine, gesellschaftliche Probleme wie etwa Ausländer, Drogen, Jugendbanden, Umwelt, Neonazis usw. eingebettet.
Das heisst: Der Tatort ist vor meiner eigenen Haustür. Der Tatort ist deutlich länger als vergleichbare Serien, da die Exposition und die Entwicklung der Charaktere ihre Zeit fordern. Daraus entwickelt sich dann das Motiv des Täters, das logisch und einsehbar begründet wird. Hier wird Wert auf nachvollziehbare Schritte beider Seiten gelegt. Ermittler und Täter fahren auf parallelen Schienen.

Das Gegenteil davon geschieht in den amerikanischen CSI-Serien, in denen, vielleicht als Spiegelung der US-Gesellschaft, die Motive pervers, nicht nachvollziehbar oder höchst unwahrscheinlich sind. Da der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind, kann der Täter in New York auch wegen eines Juckreizes an der Fussohle andere hinmetzeln. Wahrscheinlich ist das nicht, doch muss jeder Kriminalfilm ein Minimum an Realitätsbezug aufweisen. Bei CSI in New York, Miami oder Las Vegas werden oft werden zwei verschiedene Kriminalfälle in eine Sendung gestopft und nicht genau getrennt. Die Arbeitsteilung zwischen Forensik und Verfolgung bleibt verwischt. Man erspart sich schwierige Zwischenschnitte mit verzerrten Kamerafahrten über das jeweilige Stadtbild. Special Effects zeigen dramaturgisch unnötige Bahnen einer Kugel durch das Körperinnere oder sonstigen Gewebsuntergang. Immer wieder werden von traumhaft schönen Pathologinnen oder von einem zynisch scherzenden Sektionsexperten schaurig zugerichtete Leichen ausgeweidet. Der entstellte Körper des Opfers wird als grausiges Faszinosum eingesetzt.

Der Tatort verzichtet auf die Ausbeutung von Leichen. Er setzt auf Lokalkolorit. Derzeit ermitteln 15 Teams in verschiedenen Städten des deutschen Sprachraums. Der Einsatz der gleichen Ermittler am gleichen Ort fördert das Verlangen des Publikums nach Wiederbegegnung und Rückkehr der Helden als einem Prinzip, das schon den alten Griechen bekannt war. Durch den schwach gefärbten Dialekt der Ermittler kommt es zu Bindung und Neugier der Zu-schauer. Kommissar Ehrlicher in Leipzig sächselt, Herr Bienzle in Stuttgart schwäbelt. Nicht zu stark, denn beide sollen auch in Tirol und in Lübeck verstanden werden. Nicht zu schwach, denn man soll wissen, dass man in Leipzig und Stuttgart das Deutsche ein wenig anders ausspricht. Ermittler und Täter bewegen sich in einem genau eingebrachten Stadtbild. Kommissare in Köln verzehren gern eine Bratwurst mit dem Dom im Hintergrund. Ermittlungsfahrten gehen oft an typischen Denkmälern vorbei. Man verzichtet auch auf billige Effekte, die woanders so qualvoll ausgewalzt werden und bei denen bildhübsche Kommissarinnen prinzipiell nur mit umgeschnallter Pistole aufreten. Dass die Strafverfolger auch nur Menschen sind und ein Privatleben haben, sichert weitere Gefolgschaft. Sie sind keine Ermittlungsroboter wie bei CSI, die in bunt gefärbten Laboren nach der DNA tappen. Es sind Menschen mit Problemen wie Ehe, Scheidung, Wohnung, Krankheit, Beförderung usw. Kommissar Kopper hat einen dicken Bauch, seiner Kollegin Lena fehlt der Sex-Appeal. Beamtin Lindholm hegt das Gemüse im Schrebergarten ebenso genau wie neue Spuren. Die Kommissarin und Witwe vom Bodensee findet einfach keinen neuen Ehemann. Kommissar Kienzle hat abseits der Verbrecherjagd eine künstlerisch bewegte Gattin zu betreuen. Kommissar Ehrlicher kommen Ideen beim Bier in der Kneipe. Einzig- und grossartig ist Jan Josef Liefers als Gerichtsmediziner in Münster mit seinem kulturellem Anspruch.

Im Vergleich zu vergangenen Tatorten scheint heute ein Aspekt zu fehlen. Das manichäische Happyend war früher nicht immer die Regel. Damals wurde viel öfter eine Mitschuld der Gesellschaft angedeutet oder gar festgestellt. Eine Gesetzesübertretung konnte illegal, aber doch moralisch gerechtfertigt sein. Und es kam vor, dass die als selbstverständlich genommene Gleichung aufgehoben wurde, wonach das Böse immer illegal und das Gute legal zu sein hat. Dann und wann hat der irritierte Kommissar den Übeltäter mit einem Wink der Hand entlassen, da er nicht sicher war, was böse und was gut zu sein hat.


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