DIE REPUBLIK DER SPRACHEN BEI FRITZ MAUTHNER: SPRACHE UND NATIONALISMUS


© Elisabeth Leinfellner
Sprachwissenschaftliches Institut der Universität Wien

1. Einführung


Das Wien und mit ihm das Österreich der Jahrhundertwende sind zu einer Utopie im ursprünglichen Sinne des Wortes geworden, zu einem raum- und zeitlosen Mythos, einem Pandämonium mit mythischen Versatzstücken: dem guten alten Kaiser, der täglich seinen Tafelspitz isst - so schon bei Josef Roth; dem weisen Ratgeber - Freud; der dämonischen Verführerin - Alma Mahler-Werfel; dem hauslosen Kaffehausliteraten - Altenberg; dem leutseligen Bürgermeister, der nur ein kleines bisserl antisemitisch ist - Lueger; und dem exilierten und in Österreich erst nach seinem Tod langsam bekanntgewordenen und schließlich in einer Apotheose verklärten Denker - Ludwig Wittgenstein. Als Anzeichen für die Mythisierung von z. B. Alma Mahler-Werfel vgl. - unter vielen anderen Beispielen - die Überschrift "Kultstück für Alma" (über die Aufführung von Kreneks Oper "Orpheus"; Die Presse, 25-26. August 1990: 6), eine Überschrift, die nur unter den Bedingungen der Mythenbildung verständlich ist; oder vgl. die Collage "Die second-hand Muse" in der Literaturzeitschrift "Sterz" (Nr. 52-53, 1991).

2. Der deutschsprachige Jude in Böhmen: Mauthner


Der Sprachphilosoph, Schriftsteller und Journalist Fritz Mauthner ist nie Teil dieses Mythos geworden, obwohl auch er in vieler Weise einen Typus verkörperte, den des deutschsprachigen Juden im Böhmen des alten Österreich. Mauthner ist 1848 in Horschitz in der Nähe von Königgrätz geboren. In Prag ist er in die Schule gegangen; dort hat er auch studiert (vgl. seine Autobiographie "Prager Jugendjahre" (1969 [1918]). Sein Vater gehörte dem jüdischen Großbürgertum, das gleichzeitig zu den deutschen Honoratioren gezählt wurde, an. Wie viele der Kinder dieses Großbürgertums, so wurde auch Mauthner politisch ein Anhänger "großdeutscher" Ideen, mit einer zunächst vehementen Ablehnung des tschechischen Patriotismus (vgl. PJ: Kap. 13; Erinnerungen; Ahasver; Thunecke 1986; für eine historische Schilderung auch Kisch 1947), aber auch einer Abneigung gegen das traditionelle Judentum. Mauthner wurde Atheist; er trat aus der jüdischen Religionsgemeinschaft aus, aber in keine andere ein. (Die "Deutsche Biographie" rechnet ihn dennoch - "paradigmatisch" könnte man sagen - unter die r. k.-Konvertiten.)

Zwei von Mauthners Romanen, "Der letzte Deutsche von Blatna" und "Die böhmische Handschrift" - letzterer greift das Motiv der Königinhofer Handschrift auf - bezeugen eine politisch extrem pro-deutsche Haltung. Aber in "Muttersprache und Vaterland" stellt Mauthner die Geschichte der Königinhofer Handschrift und insbesonders die Rolle Masaryks bei der Aufdeckung der Fälschung sehr positiv dar (MuV: 46f). In den "Prager Jugendjahren" findet sich auch Verständnis für den Verfasser Hanka selbst (PJ: 127ff). Mauthner nennt die Handschrift sogar ein "tschechisches Literaturkleinod", wenn auch ein "gefälschtes" (PJ: 33f).

Mauthners Sammlung von sentimentalen Erzählungen über einen kleinen Buben aus der Slowakai, "Vom armen Franischko" (1917 [1880]; 1895 in Fortsetzungen in der "Arbeiterzeitung", Wien), ist keineswegs nationalistisch. Mauthner bemüht sich hier, ein getreues - auch sprachlich getreues - Bild zu zeichnen.

Diese politisch pro-deutsche Haltung hat den Juden Böhmens keineswegs genützt, sodass sie sich zum Schluss zwischen zwei Sesseln befanden (vgl. allgemein Stern 1988; für die "schöne" Literatur vgl. Robertson 1989). Schon der Germanist Sauer z. B. - 1907 wurde er Rektor der deutschen Universität in Prag - vertrat einen extremen Standpunkt des “Deutschtums” in Böhmen und befürwortete die Ausgliederung der jüdischen - und gewöhnlich deutsch schreibenden - Schriftsteller des Landes (vgl. Greß 1971: 136).

Mauthner war später keineswegs ein chauvinistischer Eiferer, je älter er wurde, desto weniger. Er hat seinen jugendlichen Chauvinismus ausdrücklich bedauert (PJ: 128; Ketzer: 41). In seiner Schrift "Muttersprache und Vaterland" macht Mauthner sich über den, wie er sagt, "Aberglauben" lustig, dass am deutschen Wesen die Welt genesen solle (MuV: 57). Als Journalist und Kritiker war Mauthner Liberaler im besten Sinne: Er ist für Ibsen und für Schnitzlers "Reigen", aber auch für Anzengruber eingetreten, als dies noch keineswegs die landläufige Ansicht war.

3. Begründung des Themas


Aus der Fülle der Themen seines Werkes wollen wir nun eines, die These von der Gleichwertigkeit aller Sprachen, vor dem Hintergrund seiner - und unserer - Zeit beleuchten. Was ist an diesem Thema interessant?

3.1. Der erste Grund ist ein historischer und gleichzeitig politischer: Unsere gegenwärtigen Gesetzgebungen sehen vor, dass sprachliche Minderheiten bestimmte sprachliche Rechte haben. Das Sprachenproblem war, wie bekannt, eines der Hauptprobleme des alten Österreich im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Mauthner war (1920) der Auffassung, dass anstelle der Religion als der "staatenbildenden" Kraft nunmehr die Idee der Nation, verkörpert am besten durch die nationale Sprache, getreten sei (MuV: 28). Mit dieser Ansicht steht er keinesfalls alleine da; sie wird heute noch z. B. von Stourzh (1985) als Signum der Zeit nach 1848 angesehen (vgl. für Hintergründe Eötvös 1851; Burger 1991: 14; Sieghart 1932: 403-411). Die neueren Kriege müssten daher als Sprachenkriege bezeichnet werden, sagt Mauthner, auch wenn sie vordergründig als etwas anderes erscheinen (MuV: 29, 60). Man braucht sich nur an die Rolle etwa des Gälischen oder des Baskischen bei den verschiedenen "Befreiungskämpfen" erinnern. Ein Blick in die Zeitung belehrt uns, dass das Sprachenproblem noch längst nicht gelöst ist und weiterhin zumindestens zum Hintergrund feindlicher oder politischer Auseinandersetzungen gehört.

Dass man sprachlichen Minderheiten sprachliche Rechte zugesteht, setzt voraus, dass wir nicht nur als Personen vor dem Gesetz gleich sind, sondern auch, dass alle in Frage kommenden Sprachen als gleichwertig betrachtet werden, zumindestens ideell. Dass es im Praktischen oft nicht klappt, steht auf einem andern Blatt.

Zu Mauthner Lebzeiten war der Sprachenstreit in voller Blüte, der in seinen nationalistischen Implikationen sicherlich ein Vorbote, wenn nicht eine der Ursachen, des Zerfalls des Habsburgerreiches war. Mauthner jedenfalls glaubte daran, dass das alte Österreich am Widerstreit zwischen Staat und Nation, wobei die Nation als das Insgesamt der Sprecher einer Sprache aufgefasst wird, zugrunde ging (MuV: 53). Im Rahmen dieser Auseinandersetzung wurden nicht nur territoriale Argumente verwendet, sondern durchaus auch solche, die die Sprache der anderen jeweils als barbarisch hinstellten (vgl. Burger 1991: 16). Mauthner hat sich zum Sprachenstreit auch öffentlich geäußert: In der "Neuen Freien Presse" vom 25. 12. 1913 antwortete er auf eine Rundfrage über den Ausgleich in Böhmen. Er wiederholt dort eine Hauptthese der "Beiträge zu einer Kritik der Sprache" (KI-III), nämlich dass die Sprache ein elendes Erkenntniswerkzeug, aber ein ausgezeichnetes Werkzeug der Poesie sei. Und die Poesie der Muttersprache sei ein Pfeiler der Liebe zur Heimat. Anderswo stellt er geradewegs die Liebe zur Muttersprache als die einzige zulässige Form des Patriotismus dar (MuV: 9, 12, 24; für ein persönliches Dokument, das diese Verquickung von "Muttersprache und Vaterland" beleuchtet siehe Troller 1991: 98ff und passim). Gleichzeitig aber sei es ein Aberglaube, dass die Liebe zur Muttersprache mit dem Hass auf andere Sprachen gepaart sein müsse (vgl. MuV: 24). Mauthner drückt dann im weiteren die Hoffnung aus, dass für Böhmen eine Schweizer Lösung gefunden werden könne und schließt mit den Worten: "Nur wenn ich ein Fürst oder ein Pfaffe wäre, könnte ich gegen den Ausgleich sein."

Mauthners sprachphilosophische Ansichten können, wie wir noch sehen werden, als Grundlage einer liberalen Sprachenpolitik dienen, was man von der damals anerkannten Linguistik keineswegs durch die Bank behaupten kann.

3.2. Der zweite Grund für dieses Thema ist ein philosophischer: Es ist ein implizites Postulat der klassischen Analytischen Philosophie - Mauthner ist einer ihrer Vorläufer - dass alle natürlichen Sprachen gleichwertig sind. Der Wiener Kreis und der Wittgenstein des "Tractatus Logico-Philosophicus" hingegen hatten die natürliche Sprache als etwas angesehen, das es zu verbessern gilt, z.B. über die logische Analyse. Oder man zieht der natürlichen Sprache die wissenschaftliche Sprache vor. Mises' "Kleines Lehrhbuch des Positivismus" von 1938 stellt dies deutlich dar. Mises' Buch ist übrigens ein Paradebeispiel für den gängigen sorglosen Umgang mit Mauthners Philosophie: Vorne (Mises 1990: 93ff, 105) weist er Mauthners Sprachkritik mit dem Hinweis, sie sei bloß etymologisch, zurück. Im folgenden entwickelt er dann weitgehend dieselben Gedanken wie Mauthner. Schließlich sagt er in einer Fußnote, zur Beinflussung der Philosophie durch die Syntax finde man reiches Material bei Mauthner (Mises 1990: 513, Fußn. 30).

Der Auffassung der natürlichen Sprache, wie wir sie beim Wiener Kreis und dem frühen Wittgenstein mehr oder minder explizit vorfinden, entspricht die Auffassung, dass es bessere und schlechtere natürliche Sprachen gibt, d. h. solche, die dem propagierten Ideal näher kommen, und solche, die ihm ferner stehen, solche, die man weniger, und solche die man mehr verbessern muss.

Oder man lässt - mit dem Wittgenstein der "Philosophischen Untersuchungen" - in der Sprache alles so, wie es ist. Daraus folgt - oder dies setzt voraus - dass alle Sprachen gleichwertig sind: gleich gut - oder gleich schlecht, wenn man, wie Mauthner, der Sprache jeden erkenntnistheoretischen Wert abspricht und sie auf die Poesie verweist.

Mauthner hat im übrigen explizit ausgedrückt, dass er von Sprachverbesserungen, sei es mit puristischer oder mit erkenntnistheoretische Motivation, nichts hält (MuV: 12ff; KII: 201, 141, 153, 165ff).

Im Gefolge des späten Wittgenstein sieht die klassische Analytische Philosophie ihre Aufgabe in einer Klärung der Sprache, nicht in ihrer Verbesserung. Diese Aufgabe wurde - und wird - so ernst genommen, dass Bochenski einmal spöttisch bemerkte, viele Analytische Philosphen verstünden ihre Analysen als Beiträge zum "Oxford Dictionary" (Bochenski 1984: 22). Auch nach Mauthner könnte man, in Abwandlung des Hegelschen Wortes, dass die Weltgeschichte das Weltgericht sei, sagen, dass die Sprachgeschichte die Sprachkritik sei - denn Sprachkritik ist vorurteilslose Sprachgeschichte (AIV: 216; KI: 301), oder:

“Die Geschichte ist die wahre Kritik jedes Worts.” (WBI: xiii)

4. Die eigene Sprache ist die beste!


Die Vorstellung, dass die eigene Sprache die beste sei, ja, dass nur derjenige ein Mensch - oder zumindestens der bessere Mensch - sei, der gerade sie spricht, die muss sehr alt sein, wahrscheinlich so alt, wie die Ansicht, dass nur das eigene Volk als Menschheit anzusehen sei. Als Zeugen zitiert Mauthner dazu z. B. den Linguisten Otto Schrader: Jedes Volk hat das Recht, seine Sprache für die schönste und beste zu halten (KII: 624). Jede Zeit hält ihre eigene Sprache für den Ausdruck der Wahrheit, sagt Mauthner (AII: 26f).

Als nun die Sprachwissenschaft insbesondere in Deutschland Ende des 18. und im frühen 19. Jahrhundert begann, endlich größere Forschritte über die Sprachlehre der Antike und der Stoa hinaus zu machen, fand man einen Weg, diese Wertschätzung für die eigene Sprache, die man in eine Reihe mit dem Griechischen, Lateinischen und Sanskrit stellen wollte, und die man gegen die angeblich ärmlicheren und weniger wertvollen Sprachen anderer Völker außerhalb des indoeuropäischen Sprachbereiches abgrenzen wollte, gewissermaßen wissenschaftlich zu untermauern, und zwar in Verbindung mit der Wertschätzung des Nationalvolkes. Je höher die Kultur, desto höher sei die Sprache einzuschätzen (KII: 301) - das ist das Credo. Man verknüpfte ein morphologisches Prinzip, d. h. ein Prinzip, das aus dem Studium des Aufbaues der Struktur der `Worte' (als Morpheme und Morphemkomplexe), gewonnen wurde, mit der Vorstellung der Sprache als harmonischem Organismus (so sehr stark bei Bopp (1791-1867); vgl. Arens 1969: I/219ff), letzteres ein Gedanke, der nicht nur in der Sprachwissenschaft, sondern auch in der Politik eine Menge Unheil angerichtet hat, und der obendrein, wie wir heute wissen, nicht einmal in der Biologie stimmt: Biologische Organismen sind keineswegs harmonisch (so schon Mauthner: KII: 278).

5. Sprachklassifizierungen und ihre Folgen.


Friedrich Schlegel (1772-1829) hatte alle Sprachen in zwei Klassen eingeteilt: in flektierende und in isolierende, d. h. in Sprachen, die z. B. Tempus (Imperfekt, Perfekt, ...) oder Numerus (Singular, Plural, ...) durch Veränderungen an einem Wortstamm oder im Wortstamm selbst anzeigen, und solche, die die Bedeutungsänderungen durch extra Worte anzeigen, etwa wie im Deutschen, wenn wir zwischen "ist gekommen" und "war gekommen" unterscheiden (Arens 1969: I/164). Schon hier wird die Flexion, die also z. B.kommen von kam und bitten von bat unterscheidet, als "organisch" bezeichnet, als ganz besonders organisch natürlich, weil es sich um Änderungen im "Wurzelvokal" handelt - und "organisch" bedeutet hier das Gegenteil von "additiv", nämlich so etwas wie: ‘organisch inkorporiert’. Auch die herabsetzende Redweise von den "unfruchtbaren Wurzeln" wird bereits eingeführt, d. h. von Wurzeln, die keiner flektierenden Veränderung unterliegen (Arens 1969: I/163). Diese Zweiteilung in flektierende und isolierende Sprachen wird dann bei August Wilhelm Schlegel (1767-1845) in eine Dreiteilung umformuliert, in: (i) Sprachen ohne grammatische Struktur, isolierende Sprachen, d. h. solche, die nur so schlechte "unfruchtbare Wurzeln" sind; (ii) Sprachen mit Affixen, d. h. mit einer Strukturierung hauptsächlich durch Nachsilben, die noch deutlich erkennbare Bedeutung haben; (iii) flektierende Sprachen, welche wiederum analytisch und synthetisch sein können. Analytische entstehen aus synthetischen. Ein Beispiel für diesen Übergang: Während im Lateinischen das Personalpronomen im Verb inkorporiert ist, (amo ist es im Deutschen ein eigenes Wort ich liebe; vgl. Arens 1969: I/189). Natürlich könnte man hier behaupten, solche Sprachen würden dann eben isolierende mit flektierenden Zügen mischen. Aber dies hätte, wie wir gleich sehen werden, peinliche Folgen für die Wertschätzung der deutschen Sprache.

Diese Einteilung diente nämlich August Wilhelm Schlegel als Grundlage einer Wertskala für Sprachen. Isolierende Sprachen, wie das Chinesische, seien auf einer anderen - nach ihm natürlich niedrigeren - Stufe der intellektuellen Entwicklung und müssten der Entfaltung der geistigen Fähigkeiten große Hindernisse bieten (Arens 1969: I/188). Sprachen des Typus (ii), also mit Affixen (d. i. Suffixen oder auch Präfixen), könnten gewisse Vorzüge haben. Aber die flektierenden Sprachen nähmen - wie ist es anders zu erwarten - die erste Stelle ein. Sie seien organisch. Mit Hilfe einer relativ kleinen Anzahl von "Silben" - heute würden wir sagen "Morphemen" - kann eine ungeheure Zahl von Worten modifiziert werden, z. B. durch Flexion oder durch Ableitung: So z.B. kann man aus aus einem Verb malen mit Hilfe der Ableitungsmorpheme -er und -erin die Substantive Maler und Malerin bilden; es handelt sich hier also um typisch organisches Wachstum. (Es ist übrigens ein amüsanter Gedanke, dass die Formale Logik und die Mathematik, als Sprachen betrachtet, isolierend sind.)

Diese Vorstellung von der Sprache als Organismus ist in der deutschen Linguistik des 19. Jh. mit der des Volks oder der Nation als Organismus gekoppelt, so deutlich bei Humboldt (Arens 1969: I/171-174, I/179-181).

Wir machen nun einen großen Sprung ins 20. Jahrhundert um das Fortwirken dieser Schlegelschen und Humboldtschen Ideen zu zeigen. Ein Einwand gegen diese Wertordnung als Grundlage der Wertschätzung der indoeuropäischen Sprachen wäre natürlich das Englische, das - ohne Vorurteil betrachtet - eine Tendenz zur Isolierung zeigt. Dies kann man entweder nicht zur Kenntnis nehmen - oder man kann es politisch ausnützen. Die politische deutsche Haltung gegenüber England war, wie bekannt, zumindestens seit dem ersten Weltkrieg oft mehr als nur ambivalent. Setzt man sich darüber hinweg, dass Englisch eine indoeuropäische Sprache ist, dann taugte die Schlegelsche Einteilung unter dem Nationalsozialismus zur Diffamierung auch der englischen Sprache, in unserem Beispiel gleich im Verein mit der französischen: 1939 schreibt Erich Jung, ein Vertreter der Kontinuitätsthese (d. h. der These, dass die meisten kulturellen Güter, z. B. die christlichen Symbole, auf ältere germanische zurückgingen) in "Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit", dass sich die englische Sprache vielfach

“durch die sprachlich verfranschten Normannen, von 1066, und durch den fortschreitenden Monosyllabismus und sonstige Vereinfachung von ihrer germanischen Grundlage entfernt hat.” (Jung 1939: 504)

Und nun machen wir noch einen Sprung, ins Jahr 1976. Da findet sich ein Interview mit Heidegger, in dem dieser den romanischen Sprachen die philosophische Kraft abspricht (Der Spiegel, Nr. 23, 1976). Zuvor hatte Heidegger schon gesagt, dass man nur im Deutschen und im Griechischen philosophieren könne. Den Beweis für diesen philosophischen Sprachchauvinismus ist uns Heidegger allerdings schuldig geblieben.

Trotzdem blüht der Sprachchauvinismus fröhlich weiter: In Deutschland warf man dem israelischen Autor David Grossmann vor, sein Roman sei von minderer Qualität, weil das Hebräische keine Literatursprache sei (Profil, Nr. 16, 1991: 117), ein Vorwurf, der in verschiedenen Variationen immer wieder auftaucht (vgl. Ben-Chorin 1986: 170f). Nicht mehr Antisemitismus, sondern Antizionismus, nicht mehr primitive Sprache gegen hochentwickelte, sondern Nicht-Literatursprache gegen Literatursprache!

6. Theoretische Untermauerung der These, dass alle Sprachen gleichwertig sind.


Es sollen folgende Punkte bei Mauthner diskutiert werden: (6.1) `Die' Sprache gibt es nicht; (6.2) Morphologische Klassifikationen sind für den Wert oder Unwert einer Sprache irrelevant; (6.3) Die Sprache ist weder ein Organismus, noch ein Kunstwerk, noch ein Kalkül; (6.4) Jede Sprache ist perfekt.

6.1. ‘Die' Sprache gibt es nicht - Wertschätzung der Dialekte.
Ein interessantes Argument gegen eine Wertskala der Sprachen fließt aus Mauthners sprachphilosophischen Ansichten: Probleme, die zwischen Sprachen existieren, existieren bereits innerhalb einer einzigen Sprache (KII: 155), ja, zwischen den individuellen Sprechern. Z. B.: Die Individualsprachen, die Idiolekte, also die individuellen `Sprachen', kännen nicht völlig ineinander übersetzt werden können. Andererseits werden bei Mauthner die Dialekte als die eigentlichen, als die lebenden Sprachformen angesehen. Die Schriftsprache hat zwei ganz andere Aspekte: Erstens fungiert sie fast wie eine künstliche, aber gesprochene, Sprache nach Art etwa des von Mauthner strikt abgelehnten Esperanto (KIII: 199). (ii) Als "Schriftsprache" im eigentlichen Sinne, d.h. als Sprache, die nur mehr auf dem Papier existiert, gleicht sie einer toten Sprache oder der chinesischen Schrift (KIII: 200f).

6.2. Mauthner über morphologische Klassifikation.
Mauthner hat die morphologische Klassifikation der Sprachen à la Schlegel diskutiert. Wie zu erwarten, kritisiert er den eingeschränkten linguistischen Blick seiner Zeit, wo man bloß zwei Sprachgruppen genau erforscht hatte, die indoeuropäische und die semitische - Mauthner sagt explizit "indoeuropäisch", nicht "indogermanisch" (KII: 279) - und dass man daher zunächst keineswegs von allgemein gültigen Klassifikationen sprechen könne (KII: 274).

Die gängige Einteilung in einsilbige versus zweisilbige, resp. isolierende, flektierende und agglutinierende Sprachen, hält er für nicht brauchbar. Die Vorstellung, dass einsilbige Sprachen, wie das Chinesische, älter und damit primitiver seien, hält er - mit dem Hinweis auf das Englische und den Charakter von Bildungen wie gottgleich, göttlich im Deutschen, die agglutinierend sind - für absurd (KII: 281ff). Im Gegenteil, unter gewissen Umständen seien das Deutsche und das Englische dem Chinesischen näher als den flektierenden semitischen Sprachen. Zusammenfassend: Keine Sprache verkörpert irgend einen dieser Typen auf reine Weise:

“Man ist nämlich gewohnt, außer im Sanskrit, im Griechischen und Latein die vollendeten Muster organischer flektierender Sprachen anzustaunen, die modernen Sprachen jedoch als die Fortbildungen der antiken anzusehen, ohne zu beachten, dass sie in morphologischer Beziehung mehr und mehr einer ganz anderen Klasse sich genähert haben.” (KII: 285)

Es sei chauvinistisch, zu glauben, dass es einen "arischen" - Mauthner verwendet dieses Wort gewöhnlich negativ oder ironisch (vgl. eta WI: xv, xx; KIII: 7) - Volksstamm gibt, von dem dann unsere flektierenden Sprachen und insbesondere das Deutsche ursprünglich abstammen sollen:

“es gibt heute bereits neben den lokaleren Chauvinismen noch einen neuen arischen Chauvinismus, der es als Schande empfindet, von nicht-arischen Völkern Sachen oder Worte enlehnt zu haben.” (WI: xxiii)

Und überhaupt hätten Kultursprachen seit anderthalb Jahrtausenden die Tendenz, agglutinierend und isolierend zu werden (KII: 285).

Aber ebensowenig hat der Kosmopolitismus recht, denn er führt zum Unding einer universalen philosophischen Grammatik und einer universalen Sprache (WI: xv). Aber eine universale Sprache sei nicht möglich; Esperanto könne nicht als Sprache betrachtet werden.

Schon bevor die eigentliche Kontinuitätsthese, wie sie so gerne von den nationalsozialistischen Philologen und Volkskundlern vertreten wurde, klar formuliert wurde (vgl. oben), zu der auch die Auffassung gehört, dass jedes Märchen ein verblasster germanischer Mythos sei, sagt Mauthner, mit Reinhold Köhler, über die These, dass viele der schönsten Märchen von anderen Völkern übernommen worden sind:

“Es ist dem Chauvinismus gar gesund, zu erfahren, dass die tiefsinnigsten und nationalsten Geschichten eher eingeheimatet als heimisch sind.” (WI: xliii, und ff)
Die These, dass die deutsche Sprache die älteste dokumentierte und daher die edelste sei, ist von Grimm 1819 vertreten worden (in "Deutsche [= Germanische] Grammatik"; Arens 1969: I/196). Steinthal, Humboldts Schüler, deutete zwar 1850 die Gleichwertigkeit der Sprachen - jedes Weltbild hat die Sprache, die es braucht - an. Gleichzeitig führte er aber die alte Schlegelsche Klassifizierung und ihre Bewertung ein (Arens 1969: I/219f). Dass alle Sprachen gleichwertig sind, hat unter den frühen Linguisten Pott (1802-1887) angenommen (vgl. Borst 1957-1963: III,2/1685).

6.3. Die Sprache ist kein Organismus, kein Kunstwerk, kein Kalkül.
Aus der Betrachtung des Sprachmaterials mit seiner Unzahl von Entlehnungen, Fremdworten, Lehnübersetzungen usw., und gewappnet mit den Erkenntnissen der Anthropologie und Medizin (Virchow) kam Mauthner zu dem Entschluss, dass eine der Voraussetzungen des linguistischen Organismus-Gedankens, nämlich dass es so etwas wie reine Rassen und reine Sprachen gäbe - denn was wäre ein biologischer Organismus, der sich wie ein Fabeltier aus Elementen verschiedener Spezies zusammensetzt -, einfach falsch sei: Es gibt keine reine Rasse, keine reine Sprache, alle Sprachen sind Mischsprachen (KII: 653; MuV: 15f). Mauthner hat dies viele Male explizit ausgedrückt, so etwa

“Ich lehre seit mehr als zehn Jahren, im Gegensatz zu der dogmatischen Sprachwissenschaft, dass Entlehnung in der Geschichte jeder Sprache eine entscheidende Rolle spielt; ich zerstöre damit den Glauben an die Eigenheit, die Persönlichkeit der Muttersprache.” (Sache: 386).

Die Sprachwissenschaft habe, um die These vom Stammbaum und der Reinheit der Sprachen aufrecht zu erhalten, stets verschwiegen, welche ungeheuren Mengen von Enlehnungen und Nachahmungen von einer Sprache zur nächsten stattgefunden haben, sagt Mauthner (WI: xix). Die Linguistik des 19. Jh. wusste natürlich, dass es Entlehnungen u. ä. gibt. Die Linguistik schob solche Phänomene aber beiseite, indem sie, wie Humboldt, sagte, alles "Fremde" werde sofort in den sprachlichen Organismus assimiliert (Arens 1969: I/172), was einfach falsch ist. Z. B. gibt es im Deutschen in altbekannten Entlehnungen wie Journal einen stimmhaften sch-Laut, der nicht in das System der deutschen Sprache assimiliert ist; und doch werden wir Journal heute als einen Teil der deutschen Sprache ansehen. Ebenso hat das Hethitische eine indoeuropäische Grammatik und einen größtenteils nicht-indoeuropäischen Wortschatz - wie, um Himmelswillen, soll da Assimilation in diesem romantischen Sinne überhaupt möglich sein? Man kann, nach Mauthner, nicht recht sagen, dass das Englische das Französische assimiliert habe. Denn Assimilation setzt doch die Vorstellung voraus, dass etwas größeres etwas kleineres in sich systematisch aufnimmt (vgl. WI: lx, xciv; MuV: 12ff). Die Sprache ist also kein Organismus: Wer unsere Sprachen für organisch und daher wertvoller als andere halte, bete bloß alte Ansichten nach (KII: 285). Und überdies ist das Gerede von der Sprache als Organismus nur eine Metapher: Was sollte hier die biologische Zeugung sein? Daher kann es einen Stammbaum der Sprachen gar nicht geben. Die Sprache ist aber auch kein Kunstwerk und kein Kalkül (KI: 26f).
Wenn es aber keine reine Sprache gibt, dann sind die allermeisten Bemühungen der patriotischen Sprachpuristen einfach unsinnig (WI: lxiff; MuV: 15f), eine Erkenntnis, zu der man sich in der heutigen Sprachpflege noch immer nicht ganz durchgerungen hat.

6.4. Jede Sprache ist perfekt.
Mauthner hat zwar hie und da selbst Sprachen bewertet und entwertet, und zwar unabhängig von seiner generellen erkenntnistheoretischen Sprachskepsis. So hat er die Sprache seiner Zeit einmal als altersschwach, als eine Sumpfblüte auf dem Moder der Vergangenheit dargestellt, das Latein als alt und krank, die italienische Volkssprache vor Dante als roh (MuV: 12). In der Rezension eines französischen Buches über Deutschland schreibt er:

“Wer die Schönheiten der gealterten französischen Sprache so vollständig und so achtungsvoll aufzählt und wer dann die Reize der jüngeren deutschen Sprache so ahnungsvoll zu fassen sucht, der liebt die deutsche Sprache und Literatur.”
(Franzose: 824)

Leibniz sprach das "schlimme Deutsch seiner Zeit" (MuV: 14); Deutsch lief in seiner Geschichte Gefahr, zu einer "hässlichen und ekelhaften Mischsprache" zu werden (MuV: 14). Gleich danach aber wird die positive Seite der Sprachmischung hervorgekehrt (MuV: 15).

Solche Bemerkungen sind aber eher erratische Blöcke im Werk Mauthners. Viel charakteristischer ist seine Widerlegung der Bewertung von Sprachen auf Grund ihrer morphologischen Struktur: Die Vorstellung, dass man auf der mechanischen Einteilung der Sprachen in isolierende, agglutinierende und flektierende eine Wertskala der Sprachen aufbauen könnte, hält Mauthner demgemäß für absurd. Chinesen und Ungarn könnten ihr fertiges Weltbild - fertig zum Unterschied vom unfertigen Weltbild des Kindes - vollkommen ausreichend in ihren Sprachen ausdrücken, ebenso wie wir in unseren angeblich höherstehenden flektierenden Sprachen (KII: 292).

Die Verachtung flexionsloser Sprachen sei ein "indoeuropäischer Hochmut", "verwandt mit dem griechischen Begriff barbarisch" (KII: 301):

“Wir können es nicht ablehnen, den chinesischen Sprachbau mit dem unsrigen zu vergleichen, wohl aber müssen wir es ablehnen, in den Formen unseres Sprachbaus einen Maßstab oder gar einen Wertmesser zu sehen für die Formen entlegener Sprachen." (KII: 329).

Die chinesische Grammatik ist von der indoeuropäischen so verschieden, dass europäischer Hochmut wohl behaupten könnte, es hätten die Chinesen gar keine Grammatik." (KII: 324; vgl. KII: 325ff)

Aber es ist eben nur Hochmut (Mauthner weist hier übrigens auf die Rolle des Kontextes bei der Dekodierung des Chinesischen, aber eben auch des Deutschen, hin (KII: 326)). Das betrifft auch die Phoneme, also die Laute im System einer Sprache:

“Offenbar müsste man es aber eine semitisch-arische Beschränktheit nennen, die Laute [die Schnalzlaute, die "Töne" des Chinesischen] sogenannter wilder Völkerschaften deshalb nicht zu den artikulierten Sprachlauten zu rechnen, weil sie wesentlich anders artikuliert werden als die unseren.” (KII: 383)

Dies betreffe auch das Verhältnis Mensch-Tier (KII: 383; K III: 252f). Dazu kommt zusätzlich, dass man, wie Mauthner des langen und breiten ausführt, nicht-indoeuropäische Sprachen kennt, deren Bau ebenso komplex ist, wie der der indoeuropäischen. Mauthner führt hier explizit z. B. die Bantusprachen, das Hottentot, das Algonkin und das Lappländische an (KII: 305f).

7.Alle Sprachen sind also gleichwertig,


denn sie alle genügen gleichermaßen ihren Zwecken oder - nach Mauthners Erkenntnistheorie - genügen ihnen gleichermaßen nicht. Vom reinen Sprachgebrauch her gesehen, d. h. ohne erkenntnistheoretische Ziele, sind Sprache und Sprachgebrauch immer richtig (KII: 154f), anders ausgedrückt: Jeder spricht richtig, wie immer er auch spricht, oder niemand (KII: 165). Nur eine tote, also für alle Zeiten fixierte Sprache, kann man im schulmeisterlichen Sinne richtig sprechen, etwa Ciceros Latein (KII: 125f, 339). Derartige Thesen sind erst viel später wieder mit solcher Schärfe und mit denselben Argumenten ausgesprochen worden, im letzten Kapitel, Kap. 14, eines berühmten und einflussreichen Buches von Robert A. Hall (1960), das in seiner ersten Auflage, 1950, den charakteristischen Titel "Leave Your Language Alone" trug (Hall 1960; vgl. auch Kap. 1 und 2).

Daher auch das Lob der Mundart (wie z. B. bei Grimm) und die negative Beurteilung der verschriftlichten Sprache im Vergleich zur Mundart (KIII: 199ff). Die Mundart wird als die eigentliche Muttersprache im Vergleich zur Schriftsprache gesehen (MuV: 9, 28f; vgl. MuV: 12, 48 für Modifikationen). Nun sind diese Wertskalen für Sprachen einmal da: ihren Ursprung sieht Mauthner in einem fehlgeleiteten Moralisieren, dem dann das Mäntelchen der Nützlichkeit oder des Ästhetischen umgehängt wird. Aber Schönheit und Nützlichkeit sind höchst subjektiv (KII: 304f) - ich füge hinzu, dass nach Mauthner weder die Ethik, noch die Ästhetik Wissenschaften sind (KIII: 300).

Es passt zu unserem Bild von Mauthner als einem zu einem gewissen Grade prototypischen "deutschsprechenden Juden in Böhmen", dass er als einzige Sprache das Jiddische als wirklich minderwertig empfunden hat: Er spricht vom "Mauscheldeutsch" Salomon Maimons (KIII: 605), der Trödeljuden, aber auch der besser gestellten Kaufleute (PJ: 30). Und

“Der Jude wird erst dann Volldeutscher, wenn ihm Mauschelausdrücke zu einer fremden Sprache geworden sind, oder wenn er sie nicht mehr versteht.” (KI: 541; vgl. auch PJ: 31, 106f; Weiler 1963; allgemein Althaus 1986)

8. Muttersprache und Vaterland.


Es zeugt von Konsequenz, wenn Mauthner sagt, dass die Liebe zur Muttersprache bei einem Sprachkritiker inkonsequent sei (KIII: 226); aber die Sprache, deren Wesen Erinnerung ist, ist daher auch Erinnerung an die glückliche Zeit der Kindheit (KIII: 227), ein Gedanke, der auch bei dem von Mauthner hochgeschätzten Gottfried Keller vorkommt (Borst 1957-1963: III,2/1737).

Die Wahrheit liegt in der Mitte, wie in "Muttersprache und Vaterland" ausgesprochen wird: Der einzige vertretbare Patriotismus ist die Liebe zur Muttersprache, die aber nicht in chauvinistischen Hass gegen andere Sprachen ausarten darf. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in Mauthners nationalistischem Roman "Der letzte Deutsche von Blatna" zwar einerseits der tschechische Nationalstolz inklusive der tschechischen Nationaltracht recht schlecht wegkommt (vgl. auch Robertson 1989: 120f). Andererseits wird das Loblied der tschechischen Sprache gesungen: Die Ansicht, dass die tschechische Sprache nicht wohlklingend sei, sei ein Vorurteil (Blatna: 44). Hier kommen sich politische Meinung einerseits und Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie andererseits in die Haare. Dies zeigt, dass Mauthner in sich sehr viele Widersprüche verkörperte, ist aber auch ein gutes Beispiel gegen die These, dass Wissenschaftler oder Wissenschaftlerinnen Wissenschaft nicht unabhängig von ihren eigenen Werten betreiben können: Die politischen Werte Mauthners stehen in krassem Gegensatz zu seinen wissenschaftlichen Ansichten über die Sprache.

9.Gegenüberstellung

der zu Mauthners Zeiten gängigen "romantischen" linguistischen und sprachphilosophischen Vorstellungen mit seinen eigenen:

"Romantische" Sprachauffassung (R) und Sprachauffassung bei Mauthner (M)

(R/i) Sprachen sind harmonische Organismen, die geboren werden, wachsen, verfallen und sterben.

(M/i') Eine natürliche Sprache ist kein Organismus, sondern ein zufällig "zwischen den Menschen" entstandenes Gebilde, das sich stets an anderen Sprachen bereichert. Sprachen können in tote Sprachen übergehen, aber nur dann, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, d. h. wenn sie ihre pragmatische Einbettung verlieren.

(R/ii) Flektierende Sprachen sind die organischsten, oder der Prototyp der organischen.

(M/ii') Ein Teil des Gegenargumentes entfällt wegen (i'). Dass Sprachen isolierend sind, ist kein Anzeichen ihres Alters oder ihrer Primitivität.

(R/iii) Die Sprache spiegelt die Kultur (so Humboldt 1812 über die baskische Sprache; Arens 1969: I/171ff).

(M/iii') Hier stimmt Mauthner zu: Die Sprache ist die Erinnerung eines ganzen Volkes und/oder Individuums, vorausgesetzt eine pragmatische Einbettung.

(R/iv) Hochentwickelte, i. e. flektierende Sprachen (worunter man dann einschränkend nur die indoeuropäischen Sprachen versteht) zeigen eine hochentwickelte Kultur an.

(M/iv') (Erschlossen aus Mauthners anderweitigen Bemerkungen:) Da es sich beim Studium der Geschichte zeigt, dass nicht immer die indoeuropäischen Völker kulturell führend waren (Mauthner weist z.B. auf die führende kulturelle Rolle der Araber im Mittelalter hin: WI: xxxvii) -, kann bei gleichbleibender Sprache dieses Argument nur falsch sein.

(R/v) Kulturverfall und Sprachverfall gehen Hand in Hand.

(M/v') Beantwortet durch (i') und (iv').

Verwendete Literatur A: Fritz Mauthners Werke
(nach Siglen geordnet)
AI-AIV = Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Bd. I-IV. 1920-23. Stuttgart / Berlin.

Ahasver = Der neue Ahasver, Bd. I-II. 1882 (2. Auflage). Dresden / Leipzig.

Blatna = Der letzte Deutsche von Blatna. O. J. [1913]. Berlin / Wien.

Erinnerungen = Erinnerungen an die deutsche Universität Prag. 1989. In: Berliner Tageblatt, 27. Jahrgang, Nr. 61, 3. Februar: 12.

Franischko = Vom armen Franischko: Kleine Abenteuer eines Kesselflickers. 1917 [1880]. Konstanz.

Franzose = Ein Franzose über Deutschland [Rezension]. 1890. In: Deutschland, 1. Jahrgang, Nr. 51: 823-824. [Die Zeitschrift wurde von Mauthner gegründet und herausgegeben, erschien aber nur kurze Zeit.]

Handschrift = Die böhmische Handschrift. 1916. Konstanz.

KI-KIII = Beiträge zu einer Kritik der Sprache [Nachdruck der dritten vermehrten Auflage von 1923], Bd. I-III. 1982. Frankfurt am Main / Berlin / Wien.

Ketzer = Ketzer und Funken. 1920. In: Blätter für Kunst [Konstanz], 12. Heft, 1920: 41-44.

MuV = Muttersprache und Vaterland. 1920. Leipzig.

PJ = Prager Jugendjahre. 1969 [1918]. Frankfurt am Main.

Sache = In eigener Sache. 1911. In: Die Zukunft, 19. Jg., Bd. 74: 386-387.

Für den Völkerfrieden in Böhmen: Stimmen deutscher Schriftsteller über den Ausgleich. 1913. In: Neue Freie Presse [Wien], 25. Dezember.

WI-WII = Wörterbuch der Philosophie: Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. I-II. 1980. [Abdruck der Ausgabe von 1910-1911]. Zürich.

Verwendete Literatur B: Sekundärliteratur
Alt, A. Tilo, 1986. Die ideologische Komponente der jiddischen Literatur und die Frage der Modernität. In: Albrecht Schöne (Hrsg.), Auseinandersetzungen um jiddische Sprache und Literatur - Jüdische Komponenten in der deutschen Literatur: Die Assimilationskontroverse: 72-80. Tübingen.

Althaus, Hans Peter, 1986. Ansichten vom Jiddischen: Urteile und Vorurteile deutschsprachiger Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. In: Schöne (siehe unter Alt): 63-71.

Arens, Hans, 1969. Sprachwissenschaft: Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. I-II. Frankfurt am Main.

Ben-Chorim, Schalom, 1986. Ohne Titel. In: Hans Jürgen Schultz (Hrsg.), Mein Judentum. München.

Biedermann, Gustav. 1884. Philosophie der Geschichte. Prag / Leipzig.

Bochenski, Joseph M., 1984. Eröffnungsrede zum achten Internationalen Wittgenstein Symposium. In: Wolfgang L. Gombocz (Hrsg.), Religionsphilosophie: Akten des 8. Internationalen Wittgenstein Symposiums: 21-27. Wien.

Borst, Arno, 1957-1963. Der Turmbau von Babel, Bd. I-IV. Stuttgart.

Burger, Hannelore, 1991. Über das Problem der Staatssprache. In: Florian Menz und Ruth Wodak (Hrsg.), Sprache und Politik: 13-19. Klagenfurt.

Eötvös, J. v., 1851. Über die Gleichberechtigung der Nationalitäten in Österreich. Wien.

Greß, Franz, 1971. Germanistik und Politik: Kritische Beiträge zur Geschichte einer nationalen Wissenschaft. Stuttgart / Bad Cannstatt.

Hall, Robert A., 1960. Linguistics and Your Language. Garden City, NY.

Jung, Erich, 1939 (2. Auflage) [1922]. Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit. München / Berlin.

Kisch, Egon Erwin, 1947. Deutsche und Tschechen. In: Egon Erwin Kisch, Marktplatz der Sensationen: 87-96. Wien.

Leinfellner, Elisabeth. 1992. Fritz Mauthner. In: Mario Dascal et al. (Hrsg.), Handbuch der Sprachphilosophie, Teil 2: 495-509. Berlin / New York.

Leinfellner, Elisabeth. 1995. Die böse Sprache: Gerechtfertigte und ungerechtfertigte Sprachkritik. In: Elisabeth Leinfellner und Hubert Schleichert (Hrsg.), Fritz Mauthner: Das Werk eines kritischen Denkers: 57-82. Wien.

Mises, Richard von, 1990 [1939]. Kleines Lehrbuch des Positivismus: Einführung in die empirische Wissenschaftsauffassung, hrsg. von Friedrich Stadler. Frankfurt am Main.

Petr, Pavel, 1986. Ghetto oder Intergration? Zu den Identitätsproblemen der Prager jüdischen Schriftsteller. In: Schöne (siehe unter Alt): 176-181.

Robertson, Ritchie, 1989. National Stereotypes in Prague German Fiction. Colloquia Germanica 22: 116-136.

Sieghart, Rudolf, 1932. Die letzten Jahrzehnte einer Großmacht. Berlin.

Stern, Joseph Peter, 1988. Selbstbeschreibung, Selbstbehauptung: Prag als Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit. Die Presse / Spectrum, 10. / 11. Dezember 1988: i-ii.

Stourzh, G., 1985. Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848-1918. Wien.

Thunecke, Jörg, 1986. Assimilation in der Krise: Die Thematisierung der `Judenfrage' in Fritz Mauthners Roman "Der neue Ahasver". In Schöne (siehe unter Alt): 138-149.

Troller, Georg Stefan, 1991. Selbstbeschreibung. München.

Weiler, Gershon, 1963. Fritz Mauthner: A Study in Jewish Self-rejection. In: Year Book VIII of the Leo Beack Institute of Jews from Germany: 136-148. London.

Ich danke Elizabeth Bredeck, Hubert Schleichert und Hans Veigl für Material zu dieser Arbeit.

Leicht verändert aus: Nautz, Jürgen (Hrsg.). 1993. Die Wiener Moderne: 389-405. Wien: Böhlau.


 
 


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