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Moskau - ein russisches Abenteuer
Rußland - Birke und Bär


© by Helmut Eisendle

Will man eine Stadt erleben, sollte man die Details beachten. Nichts ist einzuwenden gegen die Verallgemeinerungen der Reiseführer, wenn man nur sie vor Augen hat. Und doch sind es die Einzelheiten, die das Gesicht einer Stadt prägen. Wenn man also mit einer vorgefertigten Ansicht über eine Stadt beginnt, und sich nicht von Neugierde führen läßt, ist man am falschen Ende, und man bewegt sich von der Stadt weg, bevor man sie betreten hat.
Der Anlaß nach Moskau zu fliegen war die Einladung zu einem russisch-österreichischen Literaturdialog act 99, veranstaltet von der Galerie Maerz in Linz und ihrem Präsidenten, dem Maler Ewald Walser. Eine Veranstaltung mit russischen Autoren und Künstlern im Adalbert Stifterhaus im Juli 1999 ist dieser Einladung nach Moskau vorangegangen. Liesl Ujvary, Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Russischen, die Autoren Christian Loidl, Robert Stähr und als Gast die australische Dichterin Lidija Simkutë und von russischer Seite Lev S. Rubinstejn, Sergej M. Gandlevskij und Dimitrij A. Prigov waren die Teilnehmer.
Der Düsenjet der Aeroflot landet. Scheremetjewo ist der Moskauer Flughafen, wo sich vor zehn Jahren die Wolgadeutschen in die Luft erhoben haben, um in die Heimat ihrer Väter zurück zukehren. Eine Zarin holte ihre Vorfahren vor zweihundert Jahren an die Wolga, ein Diktator evakuierte sie nach Kasachstan, Kirgisien und Sibirien. Und die Enkel kehrten zurück. Wir werden erwartet und fahren mit einem alten Bedford-Bus in die Stadt.
Robert Stähr und ich werden im Zentrum bei der Kunstwissenschafterin und Autorin Lena Semjonova untergebracht, eine hübsche, blonde Moskauerin, die sich für uns als ideale Fremdenführerin herausstellen sollte, indem sie die lange und auch grausame Geschichte dieser Stadt in unzähligen Geschichten und Anekdoten aufzulösen verstand.
Birke und Bär sind die Totems Rußlands. Beim Anflug nach Moskau sieht man riesige Wälder mit hellen, glänzenden Flecken - Birkenwäldchen. Diesem Baum ist es gegeben in ganz Rußland zu wachsen, vom Wind gebeugt, vom Frost erschüttert, von der Hitze geprägt. Die Birke spiegelt die russische Mystik des Weißen wieder, mit gesprenkelt, zittrigem Blattwerk wie eingetaucht in eine silbrige Farbe, ganz so als tanzten in ihren Kronen winzige Spiegel.

Sergeij Jessenin

/ So grüner Locken Zierde, so mädchenhaft der Leib. Was schaust du, schmale Birke, hinunter in den Teich ? Wovon raunt dir der Wind zu ? Was wispert dir im Sand ? Oder, aufs Laubhaar, wünscht du den Mond herab als Kamm. Ach, sag mir das Geheime, das du im Holz verbirgst, ich liebe deiner Weise Wehklingen vor dem Herbst. Die Birke gab zur Antwort: Oh, neugieriger Freund, nachts als die Sterne brannten, hat hier ein Hirt geweint.

Der Bär hingegen, dieses drollige Pelztier, das die Kinder lieben, ist das andere Totem dieses Landes. Jede Vergleich zum russischen Menschen ist so richtig wie falsch; die überlieferte Bodenhaftigkeit, ein wildes Tier, das mit wildem Brüllen aus seiner Höhle kommt und alles unter sich zermalmt, seine Vorliebe für das Süße, seine Angewohnheit, den Winter zu verschlafen. Schläfrigkeit und Urkraft. Ein Faulpelz und ein Leckermaul. Ich werde mich hüten Vergleiche zu stellen. Vielleicht entspricht die Birke dem Weiblichen, den stolzen Frauengestalten der russischen Literatur und der Bär der Kraft und Bodenständigkeit.

Roter Platz - Kreml - GUM - die Basiliuskathedrale

Der Kreml, die Zwingburg und das Symbol ehemals sowjetischer und russischer Kultur und Politik, ist die Machtzentrale Moskaus.
Jelzin hat hier seinen Sitz, die Duma, das Parlament beschließt hier, was in diesem Land geschieht. Begrenzt wird der Kreml einerseits vom Roten Platz mit dem Lenin-Mausoleum, im Südosten durch die Moskwa, dem Fluß, der schlangengleich Moskau durchfließt. Das mit Toren, Türmen und einer zwei Kilometer langen Festungsmauer umgebene Areal besitzt neben den prächtigen Palästen, Kathedralen, Museen, die staatliche Rüstkammer, auch die Regierungsgebäude, die dem Touristen nicht zugänglich sind. Trotzdem, allein für die Vielfalt an Kultur, Architektur und Einblick in die Geschichte dieses Landes bräuchte man mehrere Tage.
Boris Pilnjak, russischer Avantgardist der Zwanzigerjahre, behauptet in seinem Collageroman: Das nackte Jahr, daß am Stadttor des Kreml folgender Spruch zu lesen war: Rette, o, Herr, diese Stadt und seine Menschen und segne den Eintritt durch dieses Tor.
Man kann das als Zeugnis über die alte, von der Oktoberrevolution stark beeinflußte russische Kultur betrachten. Zu dieser Zeit hat Sergeij Jessenin folgende Kantante für den Chor des Proletkult verfaßt:

Seid sorglos, ihr lieben Toten. Unerschütterlich kämpft unser Heer. Hört die Grußworte seiner Boten an die Kremlmauer schlagen und schwer. Eure Saat, sie ist aufgesprossen im entferntesten Kontinent. Schlaft sorglos, ihr toten Genossen. Die Schrift an der Kremlmauer brennt.

Seit dieser Zeit, in der noch das kämpferische Moment gegen das Zarentum im Vordergrund stand, sind achtzig Jahre vergangen, in denen Moskau, der Kreml und Rußland Kriege führen mußten, Diktatoren Leid verursachten, Lenin, Stalin, Chruschtschow, Breschnjew das Land beherrschten und Gorbatschow Perestroika und Glasnost auslöste, ohne zu wissen, welche Probleme Jelzin heute zu bewältigen hat.
Anfang des sechzehnten Jahrhunderts schrieb der Gesandte des deutschen Kaisers folgenden Bericht:

Die Burg könnte ihrer Größe wegen ein Städtchen genannt werden, denn darin sind nicht allein die weit gebauten, prächtigen Häuser der Fürsten, sondern auch der Metropolit, ebenso des Großfürsten Brüder, vornehmste Räte und sehr viele andere haben große Holzhäuser dort, dazu sind viele Kirchen darin.

Am Roten Platz in unmittelbarer Nähe des Kreml steht die Basiliuskathedrale. Iwan der Schreckliche ließ die Kathedrale unter dem Namen Mariä-Schutz-Kathedrale als Denkmal für die Eroberung Kasans von den Baumeistern Postnik und Barma erbauen. In einer Legende wird erzählt, daß Iwan der Schreckliche die Baumeister blenden ließ. Nachdem die beiden aber nach dem Tod Iwan des Schrecklichen die Kapelle des Basilius hinzugefügt haben, kann man an der Wahrheit der Legende zweifeln. Nach Basilius - einem Narren in Christo - wird die Kirche heute benannt. Basilius wird von den Moskovitern geliebt und verehrt, vor allem weil er ohne Angst im Glauben an seinen Herrn die Terrorherrschaft Iwan des Schrecklichen anprangerte.
Die Kathedrale besteht aus elf Kapellen in zwei Stockwerken übereinander, die in verblüffender Art und Weise zu einem Ganzen zusammengefügt sind und durch die verschieden geformten Zwiebeltürme ihre äußere Form und Schönheit erhält. Der höchste Turm der Kathedrale stellt das Grab des Gottesnarren Basilius dar.
Obwohl mehrere Jahrhunderte dazwischen liegen, erinnert die Kathedrale an die Sagrada Familia von Antonio Gaudi in Barcelona. Besonders sehenswert sind die Fresken im zentralen Turm, die Ikonen in den Übergängen und Galerien. Unter dem Glockenturm befindet sich eine Ausstellung über die Bautechnik im sechzehnten Jahrhundert, in der man in Stichen, Skizzen, Plänen und Zeichnungen einen Einblick in die Geschichte der Basilius-Kathedrale erhalten kann.
Der Rote Platz mit dem Lenin-Mausoleum, dem zentralen Lenin- und historischen Museum und staatlichen Warenhaus GUM, ist ein Hauptanziehungspunkt für Touristen. Der glasüberdachte Riesenbau des Einkaufszentrums beherbergt seit der Renovierung auf drei Etagen rund 200 Geschäfte, die aber vor allem durch westliche Firmen wie Dior, Lafayette, Karstadt, Benetton, Versace, Sony vertreten sind. Aus dem traditionellen russischen Warenhaus wurde eine Schaustellung der westlichen Welt. Es ist besser man geht zu einen der zahlreichen Märkte der Stadt, am Kiewer Bahnhof, der Flohmarkt im Ismajlowskij-Park am östlichen Rand Moskaus oder der Moskauer Tier- und Vogelmarkt in der Ulica Bolschaja Kalitnikowskaja.
Vor dem historischen Museum steht das Standbild von Oberbefehlshaber Georgi Konstantinowitsch Schukow, der den Überfall der Deutschen auf Moskau verhinderte. Stehend im Sattel blickt er auf den Roten Platz.

Jossif Brodski

Auf Schukows Tod

Ich seh die Kolonnen erschrockener Jungen, Lafette und Sarg, die Kruppe des Pferds. Der Wind überträgt mir nicht den dumpfen Trauermarsch russischen Militärs. Ordensgeputzt liegt der Führer des Heers: ins Totenreich zieht der feurige Schukow... Lang schon führt Schukow seine Brigaden nicht mehr in die Zonen der Schlacht. Schlaf ! Im Album der russischen Taten fehlts nicht an Seiten, da der man gedacht, die kühn sich in fremde Hauptstädte wagten, doch klamm betraten die eigene Stadt.

Literatur - Kunst - Architektur

Literatur hat in Rußland eine lange Geschichte. Vom Wirbelwind der Oktoberrevolutuion getragen bis zu den russischen Blumen des Bösen wie Viktor Jerofejew seine Anthologie Tigerliebe, Russische Erzähler am Ende des 20. Jahrhunderts, nennt. Die Schriftsteller und Dichter mußten um ihres Überlebens willen viele Kompromisse sowohl mit ihrem Gewissen als auch mit ihrer Poesie eingehen. Die einen paßten sich an, die anderen verkauften sich, was weder die einen noch die anderen vor dem russischen Roulette des Terrors rettete. Andere wiederum brachten sich zu Tode oder schwiegen.
Der babylonische Turm der russischen Literatur ist nicht aus Elfenbein, sondern aus den Knochen der Schriftsteller und Dichter Rußlands, meint Viktor Jerofejew. Nicht zuletzt war es das Diktat eines sozialen Auftrages, der der Literatur weniger treues als vielmehr blindes Dienen nach den Maßgaben einer Generallinie abverlangte, deren Zickzackkurs wie eine Verhöhnung wirkte. Ähnlich ging es den bildenden Künstlern.
Die Lesung der Veranstaltung act 99 fand im russischen Kulturzentrum in einem Altstadtviertel des Zentrums statt, das sich im Innenbogen der Moskva bei der Metrostation Novokuzneckaja befindet.

Lew Rubinstein

Der sechsflügelige Seraph

1. Auch Engel sind nicht alle gleich.
2. Das ist mir eine Familie ! 3. Ein ernstes Gespräch. 4. Ein ernstes Gespräch (Fortsetzung). 5. Ja oder nein ? 6. Georgi Nasarytsch. 7. Sorgen sind nie unbegründet. 8. Je länger der Abschied, desto bitterer die Tränen. 9. Unvorhergesehene Umstände. 10. In Moskau. 11. Was für eine Begegnung ! 12. Mit leichten Fingern wie ein Traum... 13. Ein Versuch kann nicht schaden. 14. Sie sind ja auch kein Puschkin. etc.

Lev Rubinstein hat eine eigene auf einem Kontrapunkt basierende fragmentarische Art des Schreibens entwickelt. Die Fragmente oder Satzstücke des Alltagslebens setzen sich gegeneinander ab, von der lakonischen Aussage bis zum Kalauer. Seine Palette der Satzkonstruktionen reicht von Bezügen auf russische Geschichte und Literatur bis zu autobiographischen Sentenzen. Ein humoristischer Effekt wird durch die Wiedererkennbarkeit fragmentarischer Aussagen erzeugt. Nichtsdestoweniger wird dem Hörer und Leser etwas von der Atmosphäre des Moskauer Alltags vermittelt. Tschernucha die Schwarzmalerei der russischen Existenz wird eher als Belustigung verstanden, ein literarischer Kunstgriff, als bewährte Möglichkeit mit extremen Situationen zu spielen.

Gerade dieser Art von Wirklichkeitserfassung ist typisch für die zeitgenössische russische Literatur und setzt sich damit mit Ironie von den Größen der russischen Literatur ab.

Meine Lesung beginne ich mit folgender Behauptung: In jedem U-Bahnwaggon steht auf den Schiebetüren: nicht anlehnen, wobei sich das Nicht - also Nje - in der kyrillischen Schrift als HE herausstellt, das meinen Initialen entspricht.
Ich kann also behaupten, daß Moskau mich liebt, nachdem im Zweiminutenabstand die Anfangsbuchstaben meines Namens vorübersausen.

Gesetze

Nein. Gesetze erzeugen keine Gerechtigkeit, sie sind nur das, was man für gerecht hält. Gesetze sind wie Spinnweben, da die kleinen Fliegen und Mücken in ihnen hängen bleiben, die Wespen und Hornissen aber davon kommen. Das Gesetz garantiert zwar die Mittagspause, nicht aber das Mittagessen. Aber wie hält man sich an etwas, das man nur kennt, wenn man es bricht

Unsere Lesungen werden mit Wohlwollen und Applaus aufgenommen.
Am nächsten Tag, dessen sommerliche Hitze durch kurze Regengüsse unterbrochen wird, zeigt uns Lena Semjonova die Stadt. Ich kenne nur die finnische Seenplatte, jetzt weiß ich, daß es auch eine Moskauer Seenplatte gibt, sage ich, während ich nach einem Gewitter durch eine tiefe, endlos scheinende Lache wate. Es gibt zwei Dinge, die in Moskaus nicht so recht funktionieren, antwortet Lena, die Toiletten, die Kanalisation und die notwendigen Reparaturen der Straßen. Warum nicht ? Wir haben eine seltsame Art von Revanche.
Sie zeigt uns das schönste Haus Moskaus. Es ist die Paschkow-Villa; hinter der Staatsbibliothek gelegen, beherbergt sie den Grundstock der Lenin-Bibliothek.
Ja, erzählt Frau Semjonova, Paschkow war ein verrückter Spieler. Eines Tages war es so weit und es schien, daß er Haus und Hof verspielt hatte. Als er es seiner Frau gestand, meinte diese mit einem Lächeln: Setz doch mich ein. Entweder du verlierst alles oder gewinnst. Und Paschkow hat gewonnen.
In der Nähe des Patriarchenteich-Platzes, der mit seiner umrundenden Allee an Paris erinnert, zeigt sie uns das Haus in der Sedowayastraße 302, in dem Michail Bulgakow seinen Roman Der Meister und Margarita geschrieben hat. Bulgakows Werke waren unter Stalin verboten und Meister und Margarita ist erst 26 Jahre nach seinem Tod im Jahr 1966 veröffentlicht worden.

Michail Bulgakow

1. Sprechen Sie nie mit einem Unbekannten

An einem heißen Frühlingsabend erschienen bei Sonnenuntergang auf dem Patriarchenteichboulevard zwei Männer. Der erste war niemand anders als Michail Alexandrowitsch Berlioz, Redakteur einer dickleibigen Kunstzeitschrift und Vorsitzender einber der größten Moskauer Literatenassoziationen, abgekürzt Massolit; sein junger Begleiter war der Lyriker Iwan Nikolajewitsch Ponyrew, der unter dem Pseudonym Besdomny schrieb... In einer Stunde, in der wohl keiner mehr die drückende Luft atm,en mochte und die Sonne, nachdem sie Moskau durchgeglüht hatte, im trockenen Dunst irgendwo hinterm Sadowoje-Ring wegsackte, kam niemand unter die Linden, saß niemand auf den Bänken, und die Allee war leer.

Das ist der erste Satz in Meister und Margarita.
Wir schlendern weiter durch die Stadt, vorüber am Gorki-, Alexander Blok-, und Puschkin-Haus, bleiben bei der wunderschönen Jugendstil-Villa in der Reabuschinskistraße stehen. Erbaut von den Stadtarchitekten Wrubel und Schechtel fällt die Villa neben den großen neoklassizistischen Häusern besonders auf. Endlich landen wir am Maneschnaya Ploschtschad, am Manegeplatz. Die Manege selbst früher einmal Hofreitschule des Zaren, in der angeblich Leo Tolstoi Radfahren gelernt haben soll, später die Garage für den Kreml, ist heute ein Ausstellungszentrum, in dem gerade die 21. Moskauer Filmfestspiele stattfinden. Am späten Nachmittag machen wir eine Dampferfahrt auf der Moskwa, vorüber am Gorki-Park, wo vor allem an einer riesigen Schaukel die Aufschrift Traum-Schiff auffällt, vorbei an einer mit klassizistischen Lusthäusern versehenen parkähnlich Grünanlage, die mich an die Pfaueninsel in Berlin erinnert. Wir verlassen das Schiff an der Borodinksiy-Brücke, in der Nähe des Kiewer Bahnhofes, von dem alle Zügen in den Westen fahren.

Den Abend verbringen wir am Rande der Stadt in einer Künstlerkolonie, ein altes Holzhaus - fast eine Villa Kunterbund - umgeben von einem großen Garten.
Es ist ein Fest von junge Studenten, die gerade die Aufnahmeprüfung in die Akademie der Künste geschafft haben. Es wird gegrillt, getrunken, geredet. Plötzlich beginnt es zu regnen und wir gehen ins Haus. Die Kolonie wurde in den Dreißigerjahren gegründet, hatte zahlreiche Gäste und wird von Ehepaar Fenjonov, selbst Künstler, verwaltet. Während Frau Fenjonova uns das Atelier zeigt, voll mit Bildern, Plastiken, Zeichnungen, beginnt ihr Mann auf der Gitarre zu spielen und mit tiefer Stimme zu singen. Lena Semjonova singt mit und ich spüre, welche Bedeutung Kultur in dieser Stadt hat.
Kultur ist der Polster, auf dem wir ruhen, ob Malerei, Bildhauerei, Literatur, Musik. Und was ist mit der Politik, frage ich. Die Politik hat der Kultur zu dienen, ist die Antwort, ob hier oder anderswo.

Alexander S. Puschkin

Doch endlich winkt das Ziel: im Schimmer der weißen Mauern leuchtend nah, in goldner Kreuzeskuppeln Flimmer liegt groß und herrlich Moskau da ! Ach, wie ich doch vor Freude bebte, als dies betürmte, glanzbelebte, buntfarbne Stadtbild imposant auf einmal wieder vor mir stand

Metro - Arbat - Puschkin-Museum - Jungfrauenkloster

Heute ist der letzte Tag, morgen fliegen wir nach Wien zurück. Die Zeit läuft uns davon. Fünf Tage reichen nicht, alles zu sehen, was man sehen will oder die russische Kultur und Moskau zu verstehen. Wir steigen in der Puschkinskaya in die Metro. Der Bau der Moskauer Metro wurde in den Dreißigerjahren begonnen und immer wieder erweitert. Stalin wollte die Bahnhöfe als Paläste für`s Volk sehen.
Und tatsächlich sind es Paläste und unzählige Galerien zugleich, eine Chronik der russischen Geschichte, dargestellt durch eine Vielzahl von Künstlern. Fünfzehn Rubel kostet ein Ticket für fünf Fahrten in ein unterirdisches Museum mit drei Stockwerken in die Tiefe. In der Station Majakowskaya wird in über dreißig Fresken und Bildern die Eroberung des Weltraums vermittelt; am Ploschtschad Rewolyuzii - die nächste Station zum Roten Platz - ist die Oktoberrevolution das Thema; ein knieender Pionier mit Gewehr, die Besatzung des Panzerkreuzers Aurora, Helden der Nation. Die Metrostationen der Bahnhöfe sind besonders prächtig. Wie auch die anderen Stationen sind sie Dichtern, Politikern und Städten gewidmet: Puschkinskaya, Turgenewskaya, Kropotkinskaya, Sewastopolskaya, Smolenskaya und so weiter. Bei der Station Arbatskaya steigen wir aus Arbat ist eine Straße mit viel Geschichte.

Wassili Kasakow

Die Wahrheit vom Arbat

Um Wahrheit chambriert man bei den Behörden, Sowjetorganen im Parteiapparat, beim Rundfunk, der Presse, den Auslandsjournalen... Doch ich, ich suche sie auf dem Arbat...

Die Uliza Arbat wurde in den Achtzigerjahren renoviert und ist die bekannteste Fußgängerzone Moskaus. Unzählige Straßencafés, Buden, Straßenmusiker, Schnellzeichner, viel Jugend, Flaneure, Touristen. Im ersten Stockwerk des Hauses mit der Nummer 53 hat Puschkin, dessen Geburtstag sich zum zweihundertsten Male jährt, während seiner Flitterwochen gewohnt, im Parterre ist das Wohnmuseum des Schriftstellers Andrej Belyi eingerichtet. Wir nehmen im gegenüberliegenden Café Platz. Eine Gruppe von Hare Krishna -Jüngern kommt trommelnd und singend den Arbat herunter, dahinter zwei johlende Betrunkene, vor dem gegenüberliegenden Haus stehen zwei weißhaarige Frauen und bieten gestickte Tischtücher an, ein Künstler zeichnet eine Touristin, eine dicke Frau propagiert über einen Lautsprecher die Staatslotterie, eine Gruppe japanischer Touristen fotografiert und fotografiert und fotografiert, ein Harmonikaspieler bleibt vor uns stehen und spielt, ein anderer bietet uns Matrjoschkas an, bemalte Puppen, in der immer kleiner werdende stecken. Lena Semjonova mahnt zum Aufbruch.
Das Puschkin-Museum. Es gibt zwei; eines für bildende Kunst und das Museum des Dichters mit einer Sammlung von seinen Büchern, Aufzeichnungen, Bildern, persönlichen Dingen.
Wir betreten das Museum für bildende Kunst, schräg hinter uns die riesige, renovierte Erlöser-Kathedrale mit goldenen Zwiebeltürmen. Wir eilen durch die Säle, vorbei ein koptischen Ikonen und Webearbeiten, durch den byzantischen Saal, vorbei an italienischen Skulpturen der Renaissance, an Cezanne, Gauguin, Utrillo, Kandinskij, Matisse, Chagall, Rubens und Breughel, Tintoretto, El Greco, Miró; an Skulpturen von Michelangelo. Nur den Schatz des Priamos, der auch in diesem Museum aufbewahrt ist, haben wir nicht gesehen.
Ich war unzählige Male hier und habe noch nicht alles gesehen, sagt Lena Semjonova lachend und treibt uns an. In der Nähe der Metrostation Kropotkinskaya zeigt sie uns ein Jugendstilhaus mit einer eigenartigen Kuppel. Der Baumeister, erzählt sie, hat sich über die Faulheit und Trunksucht der Arbeiter so geärgert, daß er ihnen mit der Kuppel ein auf den Kopf gestelltes Wodkaglas als Denkmal gesetzt hat.
Weiß wehte die Schnapsfahne aus dem Mund und gefror zu einer Fünfrubelnote, hat Richard Pietraß in einem Aufsatz über Moskau geschrieben.
Das Neue Jungfrauenkloster ist unser letztes Ziel. An der Moskwa in der Nähe der Station Sportivnaya gelegen, erinnert es an ein Märchenschloß des russischen Barock. Es war als Wehrkloster am Rande der Stadt geplant. Die Jungfrauen waren adelige Damen, die entweder verstoßen wurden, wie die erste Frau Peter des Großen Jewdokia Lopuchina oder den Herrschern gefährlich geworden waren. Doch aber haben die fürstlichen Verwandten die Damen zwar isoliert, aber im Wohlstand leben lassen. Beeindruckend die Smolensker Kathedrale, die Ecktürme der Mauer, der Glockenturm. Der angeschlossene Friedhof des Jungfrauenklosters ist die Ruhestätte berühmter Politiker und Dichter. Hier liegen zur ewigen Ruhe Oistrach, Chruschtschow, Gromyko, Molotov, Skrjabin, Schostakowitsch, Tschechow, Majakowskij, Bulgakow und Nadeschda Allilujewa, die erste Frau Stalins.
Wir kehren in einem georgischen Lokal ein; Soljanka, Borschtsch - Fleischsuppe - Schaschlik - Fleischspieß - , bef stroganoff - Obst, türkischen Kaffe, der hier ein russischer ist und Wodka mit Wasser, viel Wodka zum Abschied. Das war der letzte Tag.

Was haben wir gesehen ? Haben wir etwas verstanden ? Was bleibt uns in den Köpfen ? Das ist des Windes zärtlicher peter, schrieb Velimir Chlebnikow. Im Begriff peter verbirgt sich das Wort pet - singen - und das Wort veter - Wind. Das Lied des Windes über Rußland. Haben wir es aus der Ferne gehört ?
Ja, ganz leise und wissen: Na sdorówje, do swidánija, zum Wohle, Auf Wiedersehen, Moskau, ich komme wieder.


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