Warum ist die amerikanische Kultur so populär?


© Berndt Ostendorf
Amerika Institut München

Warum sind die Helden der amerikanischen populären Kultur so mythogen, warum ist ihre umgangssprachliche Lässigkeit so verführerisch, warum verdrängen ihre Genres so schnell traditionelle bzw. lokale Gattungen, warum finden ihre rituellen Regelverletzungen eine so enthusiastische Nachahmung? Jack Langs Vorwurf des Kulturimperialismus mag zwar auf die Stoßrichtung der amerikanischen Wirtschaftspolitik zutreffen, kann dennoch kaum erklären, warum Jugendliche in Sibirien ihre Baseballmützen umdrehen oder deutsche Türken zur Identitätsstabilisierung in Kreuzberg mit offenen Schnürsenkeln und hängenden Hosen den break dance der schwarzen Bloods von Los Angeles kopieren. Hinter dem Vorwurf des Imperialismus verbirgt sich eine altlinke Abwehrhaltung, die wegen ihrer Zwanghaftigkeit erhebliche ideologische Unlust produziert. Nicht zuletzt weil sie die weltweiten Nutzer der amerikanischen populären Kultur als bloße Manövriermasse der amerikanischer Wirtschaftinteressen abwertet und ihnen den letzten Rest an Selbstbestimmung abspricht. Selbst Jack Lang sah das schließlich ein und verpaßte Sylvester Stallone, der unter Franzosen sehr beliebt ist, einen Verdienstorden der französischen Republik.

Man muß den Erfolg der amerikanischen populären Kultur zuerst in den USA erklären und die Perfektion ihrer Anmache bei amerikanischen Kunden verstehen, um so ihren Welterfolg plausibler machen zu können. Dabei sollte man gleich die Frage mitbeantworten, warum dieser Erfolg so früh wirksam wurde. Denn letzterer ist nicht erst seit den sechziger Jahren unserer Nachkriegszeit verbürgt, sondern er hat bereits im neunzehnten Jahrhundert, als die USA noch keine Weltmacht waren und als kultureller Zwerg galten, mit P.T. Barnum, der Minstrel Show, dem Ragtime und Buffalo Bill’s Original Wild West eingesetzt. Und die Anfälligkeit für amerikanische Unterhaltung ist keineswegs nur bei den Entrechteten oder Kulturlosen zu diagnostizieren: der wilhelminische Hof tanzte mit Begeisterung Ragtime und Cakewalk, die Wittelsbacher pflasterten die Brust Buffalo Bill Codys mit bayerischen Orden, das englische Königshaus konnte nicht genug von der Minstrel Show kriegen, und die haute bourgeoisie Frankreichs lag Josephine Baker zu Füßen, allein schon wegen des besseren Blicks auf ihre galvanische Darbietung. Um den Erfolg dieser, aus europäisch-bürgerlicher Sicht “minderwertigen” Kultur zu erklären, muß man früh beginnen und anthropologisch tief schürfen.

Die Semantik der Schlüsselbegriffe "populär" und "Kultur" weist uns den Weg zu einer ersten Antwort. Die politische Ordnung der jungen amerikanischen Republik basierte auf einem "populären Mandat," der "populären Souveränität" seiner Bürger, die sich in freier Wahl eine "populäre Regierung" wählten. Das politische Selbstverständnis der Amerikaner gab dem Adjektiv "populär" eine durchweg positive Konnotation, ganz im Gegenteil zu England. Dr. Johnson hatte dort in seinem einflußreichen Wörterbuch von 1755 den Begriff "populär" mit dem Mob, der Prostitution oder Epidemien in Verbindung gebracht. Noah Webster, der Dr. Johnson als lexikographische Autorität ernst nahm, zitierte ihn in seinem Wörterbuch von 1828 wörtlich; doch beim Kopieren stockte dem Amerikaner die republikanische Feder. Dieser Wortsinn möge zwar für das "King's English" zutreffen, nicht aber für die junge Republik, meinte er; denn in den USA umfasse der Begriff die spezielle Leistung der amerikanischen Revolutionäre, nämlich das Erreichen der politischen Selbstbestimmung und damit die Bestätigung der Würde und der Weisheit des einfachen Mannes. Und letztere Bezeichnung, so Webster mit bedeutsamem Blick in Richtung Dr. Johnson, sei keinesfalls klassenspezifisch zu verstehen und umfasse daher Teile der gebildeten Kreise. Hinter dieser semantischen Revolution wird eine bedeutende historische Sprungfeder der amerikanischen populären Kultur sichtbar.

Auch der Begriff "Kultur," den in Europa eine evolutionäre Herleitung und eine hierarchische Schichtung kennzeichnet, erhielt in der jungen Republik einen neuen Bedeutungsschub. Bei uns wird Kultur als permanenter Auftrag und als Wirken von Bildung verstanden, aber auch mit Goethe als erworbener Besitzstand reklamiert; auf jeden Fall implizierte dieser Begriff die hierarchische Wertung des erreichten Stands „aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ und eines nationalen Heimvorteils, gerade auch als Abgrenzung gegen die Kulturlosigkeit und das Banausentums der Anderen. Die amerikanische Anthropologie arbeitete ihren Kulturbegriff an den Problemen vor Ort ab und es setzte sich Ende des neunzehnten Jahrhunderts ein pluralistisches Verständnis durch, wonach jeder individuelle Bürger Kultur besitzt; denn damit bezeichnete man jene "pragmatische Verhaltensnormen" (Bronislav Malinowski), die den Lebensraum mit der kulturellen Praxis aller Subjekte füllen. Träger der Kultur ist zunächst der Bürger; aber alle Menschen, auch die Indianer und Schwarzen besitzen „ihre“ Kulturen und benutzten sie als Ressource. Kurzum, wenn man die populäre Souveränität des einzelnen Bürgers als soziopolitische Spannfeder für die Bedeutung der Kultur als seine Ressource begreift, wird deutlicher, warum ihr Erfolg nicht in der Anziehungskraft einzelner Elemente, sondern im Gesamtdesign der liberalen amerikanischen Utopie liegt.

Eine weiteres Vorverständnis steht einer Antwort unserer Frage im Wege. Zu allen Zeiten, so lautet in Europa ein linker Theoriekonsens, wurde die populäre Kultur von den Schwachen, Marginalisierten und Machtlosen der Welt eingesetzt, um mittels kultureller Differenz Freiheitsräume und Freiheitsmomente gegenüber der politischen und wirtschaftlichen Herrschaft abzugrenzen. Auch dieses Modell, etwa von Pierre Bourdieu oder der Birmingham School propagiert, führt bei unkritischer Anwendung auf die USA zu Fehlurteilen. Denn in der populären Demokratie der USA gehörte das Recht auf freie Meinungsäußerung und damit die Artikulation von Dissens zur Gründungideologie, wobei das Adjektiv "frei" natürlich einer historisch lokalen Auslegung unterlag. Die dialektische Beziehung zwischen Kultur und Macht ist aus diesen Gründen für die USA besonders widersprüchlich und kompliziert. Sicher beginnt auch in den USA so manche populärkulturelle Energie, wie etwa der Rock’n Roll, in subversiver Absicht, aber sie wird schnell domestiziert und ihrer politischen Durchschlagkraft beraubt. Nicht umsonst klagten Vertreter der Birmingham Schule über die Depolitisierung der populären Kultur und ihrer Theorien in den USA. Und nicht zufällig hat Herbert Marcuse sein Verständnis von der repressiven Toleranz am Beispiel der amerikanischen Kultur entwickelt. Der Zungenschlag in Marcuses Terminus suggeriert zwar eine bewußte und manipulierte Herrschaft, was er nicht gemeint hatte, aber er trifft die erstaunliche Begabung des amerikanischen Liberalismus, die regelverletzende, subversive Energie der populären Kulturen zu domestizieren und zwecks Stabilisierung des Systems über den wirtschaftlichen Erfolg einzugemeinden. Die amerikanische Utopie hat früh gelernt, Dissens positiv und in Profit umzusetzten; sie begann schließlich auf der Basis einer emanzipatorisch motivierten Differenz gegenüber Europa. Jedoch: Wie häufig auch Marcuse wegen seiner repressiven Toleranz oder Adorno für sein Fehlurteil über den Jazz von der poststrukturalistischen Kohorte geohrfeigt wurden, ihre Vorstellung von der Immanenz des amerikanischen Systems und der aus ihr entstandenen eindimensionalen Logik der Kulturindustrie wurde bis dato nicht von der Wirklichkeit falsifiziert oder theoretisch aus den Angeln gehoben. Doch wenn wir Adornos Urteil akzeptieren, erhöht sich unsere Not, eine Antwort auf unsere Kernfrage zu finden: warum ist die populäre Kultur trotz der so offensichtlichen kulturindustriellen Vereinnahmung weltweit so erfolgreich? Der Erfolg erklärt sich aus dem Gesamtdesign, daß auch die Absicht, Profit zu machen, über den Transmissionsriemen einer Dienstleistung daherkommt und die Befriedigung des pursuit of happiness eines vage definierten universellen Kunden zum Ziel hat. Zweitens ist die Immanenz, mit der sich die Logik des amerikanischen Liberalismus einigelt, nur aufzubrechen, wenn man wie Gore Vidal das ganze System in Frage stellt. Und das ist bekannterweise gefährlich weil „Un-American.“

Die Funktionsfähigkeit und Stabilität des Systems sollten wir also zunächst erklären. Was konstituiert jenes in sich schlüssige pragmatische Normensystem der amerikanischen Kultur? Hierzu möchte ich einige sedimentierte Schichten des sogenannten amerikanischen “Glaubensbekenntnisses” (Gunnar Myrdal) freilegen und ihren prägenden Einfluß auf die populäre Kultur skizzieren. Ich identifiziere bewußt vereinfachend zunächst vier Gründungsschichten: 1) die Schicht des "rule of law," 2) der "beloved moral community", 3) des Liberalismus der Bürgerrechte und des Marktes, 4) des Populismus und der Tradition des "common man." Ich halte an einigen englischen Begriffen fest, da ihre Übersetzung in eine deutsche Begrifflichkeit zur Fehlinterpretation führen muß. Das deutsche Mißverständnis des Kommunitarismus (“community” ist nicht identisch mit “Gemeinschaft”) mag als abschreckendes Beispiel dienen.

Die älteste Schicht des amerikanischen Glaubensbekenntnisses wird von der Tradition des rule of law und habeas corpus eingenommen, die aus der angelsächsichen Erbmasse der Whigs stammen. Die amerikanischen Revolutionäre warfen dem britischen König justament den Bruch der "altehrwürdigen englischen Rechte" vor, und diese königliche Untat wurde das Fundament ihrer Sezession. Dieser Glaube an den rule of law hat Amerika sechs Mal soviele Juristen wie Frankreich und dreimal soviele wie Deutschland beschert. Jedes Jahr entlassen die Universitäten Amerikas mehr Anwälte als alle lebenden Juristen Japans zusammengenommen. Der nationale Glaube an den juristischen Prozeduralismus wurzelt tief und hat die Ikonographie und Erzählstrukturen der populären Kultur vielfach geprägt. So liegen die Rolle des Gerichts als Handlungsort und der juristischen Logik für den Handlungszusammenhang des Westerns auf der Hand. Die Choreographie des Western spielt sich an der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis, zwischen Legalität und Illegalität ab, und sein naturrechtlicher Ethos stützt das Recht des Einzelnen, "schlechtes" Gesetz zu brechen und "gutes" Gesetz in die eigene Hand zu nehmen. Die Lynchjustiz markiert die Schattenseiten eines solchen fundamentalen Rechtsanspruchs freier Bürger --unter den irrtümlichen Vorgaben des Rassismus. Sheriffs und Anwälte sind populäre Heldenfiguren, wie auch die populären Präsidenten Lincoln und Jackson ihre politische Karriere als Juristen begonnen hatten. Das amerikanische Fernsehen und Hollywood produzieren unzählige Sitcoms, Dokudramen und Filme, deren erzählerische Energie sich aus Gerichtsverhandlungen speist. Die rege Anteilnahme der Öffentlichkeit am O. J. Simpson Fall oder die öffentliche Debatte über legale Haarspaltereien in Monicagate sprechen für sich. Und CNN, den Finger am Puls der Nation, richtete nach Monicagate ein tägliches Programm "The Burden of Proof" ein, wo es einzig und allein um prozedurale Fragen geht. Noch eins fällt auf. Wie kann man erklären, daß viele amerikanische Bürger nicht nur ihre obersten Verfassungrichter mit Namen kennen, sondern auch am Vorgang ihrer Nominierung und Bestätigung durch den Senat aktiv teilnehmen? Und schließlich werden Schlüsselängste der Nation wie die Furcht vor Aids oft juristisch durchkonjugiert, so etwa im Film Philadelphia.

Die zweite Schicht des säkularen Glaubensbekenntnisses wird von der Idee der beloved moral community eingenommen. Diese Tradition wuchs aus dem Mayflower Vertrag von 1620, in dem gleichgesinnte Dissidenten einen Vertrag zu einem freiwilligen Zusammenschluß formulierten. John Winthrop prägte das Wort von der beloved community, das Martin Luther King während der Bürgerrechtsbewegung mit neuem Leben füllte, und besiegelte ein "invested interest" an einem "civil body politic.” Das moralische Gemeinwesen basiert auf dem aktiven Bürgersinn seiner Mitglieder, denen eine öffentliche stewardship abverlangt wird. Diese protestantisch-individuelle Verantwortlichkeit gibt dem juristischen Prozeduralismus seine öffentliche Leidenschaft, Weber sprach von der innerweltlichen Askese. Nur seine Fusion mit der Idee der moralischen Gemeinschaft, die der besonderen Fürsorge bedarf, kann den fundamentalistischen Eifer eines Kenneth Starr in der Lewinsky Affaire erklären oder den Rigorismus der religiösen Rechten, die gar Mord und Totschlag zur Abwendung der “teuflischen” Abtreibung einsetzten würde.

In der populären Kultur, etwa im Film, lassen sich die Spuren dieser Tradition leicht ausmachen. Es gibt viele Filme, in denen ein moralisch motivierter Bürger aufbricht, um die gefährdete Gemeinschaft vor Unbill zu schützen: Ich nenne lediglich Mr. Deed goes to Town, Mr. Smith goes to Washington, The Grapes of Wrath oder ethnisch-regional etwa Belizaire the Cajun, oder noch eine Ebene simpler, Zorro, der Lone Ranger und Shane. Alle Protagonisten stellen ein charakterliches Destillat der kommunitaristischen Sehnsucht dar. Auch Abraham Lincoln wurde als die Inkarnation eines solchen Erlösers gefeiert (“a house divided cannot stand”), und seine zivilreligiöse Apotheose in der populären Ikonographie war nur eine Frage der Zeit.

Die dritte Gründungsmythe verbindet Elemente der schottischen und französischen Aufklärung für ein zweipoliges Projekt. Die amerikanische Version des Liberalismus kennzeichnet eine entschiedene Parteinahme für Bürgerrechte, die dann in einer laissez faire wirtschaftlichen Ordnung verwirklicht werden können. Der eine Pol dieser Utopie drängt zu einer immer stärkeren Autonomie und Selbstverwirklichung des Individuums, der andere ermöglicht und betreibt eine Expansion der Warenwelt und ihrer unendlichen Sehnsuchtsstruktur. Diese Koppelung einer individuellen Bürgerrechtsmoral mit einem amoralischen Markt setzt die Gesellschaft unter Spannung. Hieraus lassen sich in der populären Kultur die vielen Initiations- oder Aufbruchsgeschichten und die Suche nach Autonomie und individueller Selbstverwirklichung einerseits und die frühe Evolution eines Konsumethos und eines populären Massenpublikums mit seiner mächtigen Kulturindustrie andererseits erklären. Im klassischen amerikanischen Liberalismus sind alle Rechte individuell verankert. Aus der Gleichheit vor dem Gesetz folgt das Insistieren auf rigorose Chancengleichheit, deren Ausfächerung in ungleiche Ergebnisse dem Spiel eines laissez faire Wirtschaftssystems überlassen wird. Letzteres läßt jeden Mitstreiter seinen verdienten Platz in einer sozialdarwinistisch programmierten Leistungshierarchie finden. "Der Beste soll gewinnen" das war das Motto des klassischen Western "The Virginian", ein Roman, der von Owen Wister, dem Freund von Teddy Roosevelt und Henry James, verfaßt wurde und dessen Ideologie in unzählichen Serien verlängert und vom Publikum tagtäglich ratifiziert wurde.

Weil das Individuum in dieser permantenten Prüfungssituation steht, gilt ihm eine besondere Fürsorge. Um sich wahrlich bewähren zu können, sollte es daher von unnötigen Fesseln und Einschränkungen etablierter oder fremdbestimmter Gewalt beschützt werden. Dies ist die duale Intention des ersten Zusatzes zur Verfassung: er garantiert die freie und individuelle Ausübung der Religion nach dem Motto "jeder soll auf seine Fasson selig werden" und verbietet eine Etablierung religiöser Macht jenseits des Zivilgewalt des Staates. Nicht nur auf Religion läßt sich dieses doppelte Freiheitsmodell anwenden, sondern auch auf andere Bindungen, etwa auf die ethnische Zugehörigkeit. Denn sie hat die amerikanische Grundeinstellung zur zur Gesellschaft als einer Arena des Wettbewerbs, in die man seine kulturelle Begabung als Ressource einbringt, vorbereitet. Die freie Ausübung ethnischer Eigenarten und der Einsatz ethnischer Kultur als persönliche Ressource soll jedem gestattet sein, aber Amerika reagiert allergisch auf jegliche langfristige Festschreibung ethnischer Macht, wie die neuerliche Einschränkung der affirmative action beweist.

In der Literatur und im Film gibt es viele Geschichten von Individuen, die auf sich alleingestellt ihren Weg im wirtschaftlichen Kräftefeld suchen. Obwohl man landesüblich den Markt "frei" nennt, spricht der Volksmund eher von der Wildnis und dem Dschungel. Horatio Alger, Huckleberry Finn, Sister Carrie, Scarlet O'Hara - die Liste jener Charakterprofile ist lang, die sich im Dschungel der Wirtschaft behaupten müssen, und sich ebenso gegen Zufall, Korruption, Humbug und Betrügerei wappnen sollten, als welche W.C.Fields und Groucho Marx die Nebeneffekte des liberalen Glaubensbekenntnis identifizieren. Es ist kein Zufall, daß der Sozialdarwinismus zwar von einem Engländer formuliert, aber von den Amerikanern als philosophische Anleitung und Lebenshilfe für das Individuums adoptiert wurde. Er verbindet die auseinanderstrebenden Pole des Liberalismus, denn er naturalisiert die soziale Ungleichheit, solange diese das Ergebnis eines freien Wettbewerbs bei Chancengleichheit darstellt. Er erklärt auch den für Europäer verblüffenden Mangel an Sozialneid in den USA. Fantasien persönlicher Rechtserwartung, Suche nach Autonomie und Befreiung von sozialen Zwängen, Wettbewerb als Prüfung und Auslese - dies sind die Themen der populären Literatur bis in die libertären Exzesse der Science Fiction.

Die vierte Schicht des nationalen Imaginären ist der Populismus, der in der jungen Republik als Reaktion auf sich festigende Besitzstände und neue Hierarchien entstand. Seitdem wirkt der Populismus des “einfachen Mannes” als populäres oppositionelles Ostinato gegenüber jeglicher Form der Machtkonzentration fort, eine Grundeinstellung, die von Rechts wie von Links beansprucht wird und eine transidiologische Konstante des amerikanischen Glaubensbekenntnisses darstellt. Das tiefe Mißtrauen gegen die "kulturelle" Elite, gegen jene also, die mit Kultur "Staat" machen wollen, entstand in der Präsidentschaft Andrew Jacksons. Von diesem Vorbehalt war jedoch dank der sozialdarwinistischen Legitimation (in der Logik des Liberalismus) die Geldelite ausgenommen; denn im freien Wettbewerb Geld zu machen, hatte durchweg positive Konnotationen. "What's wrong with making a lot of money" meinte ein schwarzer Arbeiter auf meine Kritik am neuen Reichtum seit Reagan. Diese Grundeinstellung läßt jede kollektive, staatlich verordnete, sozialdemokratische Solidarität im Keime ersticken.

Gemäß Federalist 10 war es die geheime Logik der "checks and balances", mit deren Hilfe das amerikanische politische System auf Kurs gehalten wird, die Leidenschaften und Exzesse der Macht zu "checken" und eine neuen Balance der Interessen herbeizuführen. Jedes der drei Organe, Exekutive, Legislative, Judikative hält die anderen beiden durch Prüfung (check) im Gleichgewicht (balance). Der Selbstregelungsmechanismus der öffentlichen Diskurswelten, aus denen sich die amerikanische populäre Kultur ebenso wie die politische Öffentlichkeit nährt, funktioniert ähnlich. Jede dieser erwähnten Basismythen Amerikas hat seine Fürsprecher, Interessengruppen, Zeitungen, Vereine und Lobbies in Washington. Ihr Chor füllt die Öffentlichkeit mit Streit um die rechte Interpretation der Verfassung. Diese pluralistische Diskurswelt ist gekennzeichnet vom Promise of Disharmony, so der Titel des besseren innenpolitischen Buches von Samuel Huntington. Diese Erwartungshaltung, die also mit Dissens rechnet, führt zu einem permanenten Krisengefühl, da jede der Basismythen in ständiger Gefahr ist, von den anderen im freien Wettbewerb verdrängt und ausgebootet zu werden. Vier Grundängste beflügeln diese Jeremiaden, die in Zeitschriften mit typischen Namen wie The New Republic, The Nation, Commentary, The Public Interest ausgetragen werden. Die Angst vor dem Zusammenbruch eines Grundkonses hat Bücher wie The Disuniting of America von Arthur Schlesinger oder Todd Gitlins The Twilight of Common Dreams auf den Plan gerufen. Die Furcht vom Pfad der moral community abzuweichen kennzeichnet Christopher Laschs The Culture of Narcissism oder Robert Bellahs Habits of the Heart. Die Furcht vor dem Niedergang hat uns Alan Blooms The Closing of the American Mind und Paul Kennedys The Rise and Fall of Great Powers beschert. Schließlich hat die Angst, finanziell durch die Japaner in Hollywood oder demographisch durch die Mexikaner im Südwesten überfremdet zu werden, immer wieder die populäre Fantasie beflügelt und ruft entsprechende Artikel und Bücher auf den Plan. Trotz weitgehender Unlesbarkeit landen sie, weil sie den nationalen Zentralnerv treffen, auf der Bestsellerliste.

Diese vier Säulen waren bereits transideologischer Bestandteil des amerikanischen Glaubensbekenntnis, als die populäre Kultur sich seit 1830 als Unterhaltungsindustrie formierte. Die Genese der populären Kultur fällt historisch mit der Reformbewegungen des frühen 19ten Jahrhunderts zusammen, die hinwiederum von der zweiten religiösen Erweckungsbewegung (1800-1830) inspiriert und beschleunigt wurde. Dort wurden ganz bestimmte Strategien der Erweckung und der persönlichen Mobilisierung zur Anwerbung neuer Gläubiger entwickelt, Formen der Inszenierung, die später für die Kultur wichtig werden sollten. Diese Erweckungen unterstützten zudem den einen Pol des liberalen Projekts, die individuelle Selbstverwirklichung, und zwar durch die Möglichkeit der Verbesserung durch Wiedergeburt. Diese “born-again Erfahrungen” stellten ausgeklügelte emotionale Rituale der Selbstfindung dar, die unter reger und lauter Beteiligung des Publikums abliefen. Seit dieser Zeit sind alle amerikanischen öffentlichen Rituale und Aufführungspraktiken laut und karnevalesk und mit einem Nachgeschmack von Wiedergeburt ausgestattet: von Einbürgerungsveranstaltungen über Parteikonvente bis zu Rockkonzerten. Alle Energien dieser Erweckungen haben in erster Linie nur eine Person im Visier: den potentiellen Kunden. Überrascht es noch, wenn das Publikum des frühen populären Theaters von der Kritik durchweg "der Souverän" genannt wurde. Der entstehende populäre Kulturmarkt, der entsprechende Impresarios wie P.T. Barnum auf den Plan rief, wurde stabilisert von der sozialisierten Tyrannei der Erwartung eines hungrigen Publikums, das aus autonomen Kunden bestand. Dieses Ernstnehmen des einzelnen Kunden in der Masse bereitete früher als in Europa die Akzeptanz eines Konsumethos in der Kulturproduktion vor. Das zweite Awakening half dabei, bestimmte populärkulturelle Erwartungshaltungen zu stabilisieren. Die Bereitstellung eines direkten persönlichen Zugangs zu Gott hatte eine De-Hierarchisierung der Machtverhältnisse - zumindest als Möglichkeit - in Aussicht stellte und hatte auch die Individualisierung der persönlichen Entscheidung aufgewertet. Denn jetzt wurden die Priester nicht vom religiösen Establishment, sondern von den Mitgliedern der Gemeinden ausgesucht und der Glaube an das universelle Apostolat wertete jeden Menschen - auch Schwarze und Frauen - als "berufbar" auf. Selbst wenn diese Emanzipationserfahrungen anfangs nur in den neuen populären, durchaus noch marginalen Sekten galten, konnten sie leicht als Modelle für politische und kulturelle Ziele genutzt werden. Dieser moralisch stabilisierte, populistische Reformgeist hat der amerikanischen populären Kultur einen frühen Heimvorteil gegenüber der eigenen hohen Kultur gegeben.

Pragmatische Reformgläubigkeit und instrumentelle Vernunft prägten die junge Republik und beide beflügelten die populäre Kultur: nicht nur haben sie uns eine typisch amerikanische Gattung von Selbsthilfebüchern und Reformliteratur beschert, sondern die Fähigkeit, Reformprojekte auf die öffentliche Agenda zu setzen und freiwillige Selbsthilfe zu mobilisieren, das war bald das Geheimnis politischen Erfolgs, ob in der Temperenzlerbewegung, der Frauenemanzipation oder Antisklavereidebatte. Eine Problemlösungsfantasie und -bereitschaft kennzeichnen die amerikanische Öffentlichkeit seither, und zahllose Erlöserfiguren bevölkerten die populäre Fantasie von Shane über Rambo bis zum Terminator, der Kalifornien aus der Krise führen soll.

Als sich die amerikanische populäre Kultur bereits in ihrer formativen Entwicklung befand, war die europäische Kultur weiterhin hierarchisch geschichtet. Die feudale Tradition, die Stände, das Handwerk, soziale und wirtschaftliche Klassen, die Intelligenz, das Volkstum, regionale Traditionen und immer wieder der Staat produzierten und rezipierten arbeitsteilig und getrennt ihre partikularen Kulturbereiche. In Amerika jedoch legitimierte sich Kultur populistisch und, mit Blick auf den Kunden, individualistisch zugleich. Die Gleichheit vor dem Gesetz, die Chancengleichheit, die individuelle Wahl und populäre Chance, all diese Entwicklungen tendierten zu einer immer stärkeren Individualisierung der Lebensentwürfe (das Fremdwort “lifestyle” spricht für sich ) und zur autonomen Selbstverwirklichung, allerdings in Konsumgemeinschaften, die bald von der Industrie entdeckt wurde.

Während das europäische Produktionssystem das handwerklich solide Unikat pflegte, basierte nach Umberto Eco und David Hounshell das amerikanische auf zwei neuen Prinzipien: der Serialität und der Austauschbarkeit der Teile. Dieses System wurde zunächst in den Waffenschmieden der Nation entwickelt, später auf die industrielle Produktion von Massenartikeln wie Nähmaschinen und Fahrrädern übertragen. Noch schneller wurde es jedoch von der populären Kultur übernommen. So bestand die Minstrel Show (1830ff) aus drei Teilen, die austauschbar waren, und die späteren Vaudeville-Programme setzten sich aus einer Serie von Einzelnummern zusammen. Die Shows konnten bei entsprechender Nachfrage in Serie produziert werden, und so reisten oft parallele Teams unter einem Namen durch die Lande. Dieses Konstruktionsprinzip erlaubte zweierlei: erstens konnten Teile, die sich beim Publikum als unpopulär erwiesen, leicht ausgetauscht werden, und zweitens konnten die Shows auf regionale Sensibilitäten und Vorlieben Rücksicht nehmen. Vor Ankunft solcher Minstrel Shows reisten „scouts“ vor Ort, die in Kneipen und bei den Friseurs die lokalen „Geschichten“ sammelten, um diese in die Präsentation einzubauen. In den späten zwanziger Jahren unterhielt Paul Whiteman drei bis vier komplette Orchester, die unter dem Logo "Paul Whiteman Orchestra" an vielen Orten mit regional spezifischen Programmen gleichzeitig auftreten konnten. Taylorismus und Fordismus waren in der populären Kultur bereits vertraut, als ihre Prinzipien Eingang in die industrielle Produktion fanden, ja selbst postfordistische Prinzipien (small batch production; on time delivery) waren bereits bekannt. Der Nebeneffekt der Professionalisierung ist hierbei besonders wichtig: Die Logik der Produktion in austauschbaren Segmenten erlaubte eine Optimierung individueller Anteile. So konnte in den Ziegfeld Follies ein W.C.Fields seine kurzen Jongleurnummern oder Bert Williams seinem song "Nobody" eine Perfektion angedeihen lassen, die konkurrenzlos blieb. Dieses System verbesserte auch die Standards der Jongleurdarbietungen, trug also insgesamt zur Perfektion der Darbietungsstile und der dramaturgischen Techniken bei. Serielle Produktion und Austauschbarkeit der Teile gaben dem amerikanischen System eine inhärente Logik der Produktivitätsverbesserung und stellte gleichzeitig die Basis für eine Massenproduktion bereit; beide innovativen Elemente fehlten in Europa.

Nach dem Versuch, die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Systems der amerikanischen populären Kultur zu beschreiben, kommen wir nun zu den Szenarien und Schlüsselthemen, die sich im Laufe der Zeit unter den besonderen räumlichen und historischen Bedingungen Amerikas entwickelt haben. Bischof Berkeley hat mit seiner berühmten welthistorischen Mythe der „translatio imperii“, daß das Imperium nach Westen fortschreitet, in und über Amerika populäre Fantasien des Raums in Gang gesetzt, die bis heute wirksam geblieben sind. Die amerikanische Variante dieser Mythe ist die aus allen Schulbüchern bekannte "Frontier Thesis." Die Vorstellung einer nach Westen fortschreitenden Grenze, welche die bis dato geschaffene Zivilisation von der offenen Wildnis abgrenzt, paßt ins Selbstbild einer zum Progress verpflichteten Gesellschaft. Es handelt sich hier um einen manichäisch besetzten moralischen Raum, in dem sogenannte “killer-oppositions” gedeihen. Die manichäische kodierte Grenze ist für das Individuum eine Herausforderung und Prüfung zugleich. Die Beliebtheit beider Worte im öffentlichen Diskurs der Amerikaner spricht für sich. Das Ritual des Westerns stellt handgreiflich dar, wie die Gewinner sich von den Verlierern mittels der Fertigkeit im Schießen absetzen. Der Historiker Frederick Turner gewann daraus die Vorstellung einer nationalen moralischen Anstalt und eines Sozialventils. Aus dieser persönlich kodierten Herausforderung entfaltete sich auch die Vorstellung der Manifest Destiny, die wiederum ins Welthistorische hinein- und als Hintergrundannahme der Außenpolitik weiterwirkt. Die Franzosen sprechen von einer paysage moralisé - und sicher läßt sich mit diesem Bild so manche außenpolitische Entscheidung der Amerikaner besser verorten. Ein manichäisches Kräftefeld ist der ideale Raum für das amerikanische Melodram, das die wohl wichtigste und populärste Erzählform, Gattung und Gefühlsstruktur Amerikas darstellt. Es ist sicher die dominante Erzählform des amerikanischen Fernsehens, selbst in den Nachrichten. Melodramatisches Erzählen wird natürlich von killer oppositions, also von einem binären Weltbild unter Strom gesetzt, einer Welt mit eindeutigen moralischen Entscheidungen zwischen Gut und Böse, Zivilisation und Barbarei, Sünde und Gnade. Die amerikanische populäre Kultur setzt bevorzugt diese moralischen Extreme als Spannungsfeder ihrer Erzählungen ein. Sie dienen der Stimmungsvereinfachung und Stimmungsintensivierung in einer komplexen Welt. Und beide Strategien füttern den Patriotismus. Man kann auf Stoßstangen den Rat lesen: America, love it or leave it. So wird die amerikanische Öffentlichkeit, wie Samuel Huntington richtig sagt, von polarisierten, leidenschaftlichen Glaubensschüben mobilisiert, wenn es um Krieg, Partiotismus, aber auch Alkohol, Rauchen, Abtreibung oder, jüngst, um das Sexualverhalten von Präsidenten geht, und die Medien, die in ganz ähnlichen Darstellungsstrukturen befangen sind, helfen kräftig mit. Die manichäische Versuchung reduziert immer wieder komplexe Problematiken auf ein binäres moralisches Modell, und wenn dies nicht geht, versucht ein Staatsanwalt wie Kenneth Starr die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß es nur diese Optionen geben sollte. Diese moralische Dramaturgie ist der fruchtbare Boden für jene Rachefantasien, die man täglich in Filmen vorgeführt bekommen kann, von The Searchers, über Rambo II bis hin zum Terminator.

Dieses vereinfachte moralische Universum, das aus der angelsächsisch-kolonialen Erbmasse stammt, wurde jedoch immer wieder pluralisiert durch den Kontrapunkt ethnischer Fragmentierung, die mit der massenhaften Einwanderung ab 1830 einsetzte. Die multiethnische und multireligiöse Bevölkerung des Kontinents im Laufe des 19. Jahrhunderts - zuerst kamen Iren, Deutsche, Skandinavier, dann später Ostjuden und Sizilianer - führte zu interessanten Konsequenzen. Kulturelle, ethnische und rassische Differenz wurde zwar zunächst nativistisch abgewehrt, aber es fand noch in der Abwehr eine graduelle Aufhebung ethnischer Differenz in einen neuen Mainstream statt. Diese Aufhebung wurde durch diverse Bearbeitungsstrategien möglich: bewußt durch freiwillige Anpassung an die angelsächsische Norm, oder durch Travestie und Komödie, durch gegenseitige Verspottung und Parodie und unbewußt durch Kreolisierung und strukturelle Amnesie. Generell kann man sagen, daß ethnische Gruppen jene Partikularien ihrer mitgebrachten Kultur fallen ließen oder schlichtweg vergaßen, die mit den amerikanischen kulturellen Vorgaben, also jenen oben erwähnten Basismythen, nicht kompatibel waren. Bewußt oder unbewußt kam es so zu einem Abschliff ethnischer Partikularien hin zu einem vermarktbaren gemeinsamen Nenner, der einem transethnischen Publikum entgegenkam.1) Hinzu kam eine Tendenz, die störende und gesellschaftlich disfunktionale Differenz der ethnischen Traditionen durch Exotisierung auf der Bühne und durch Folklorisierung im Alltag ihre Sprengkraft zu nehmen und zu harmonisieren. Heute werden derart gereinigte, ethnische Volksfeste typischerweise von der Handelskammer durchgeführt. Nach Durchlaufen dieser diversen Filter ist eine Sammlung von folklorisierten no-fault cultures entstanden, die nach dem Motto des populären Bestsellers “I'm ok, you're ok” ihre vom ersten Zusatz der Verfassung verbürgte freie Ausübung wahrnehmen: aufs Harmlose reduzierte Ethnizität als uramerikanisches Bürgerrecht.

Die speziellen Ausformungen, die die Urbanisierung und Industrialisierung in den USA prägte, wäre undenkbar ohne diesen ethnischen Beitrag, vor allem wenn wir die Energien des nativistischen Populismus und den bürgerrechtlichen Rahmen der Verfassung heranziehen. Obwohl der innerethnische Konflikt in der Koinzidenz von Ethnizität und (niederer) Klasse programmiert war - in Amerika entstand der Begriff "ethclass" - gab es immer die Hoffnung, zum gesellschaftlichen Status des "universellen Bürgers" aufzusteigen. Gleichzeitig aber wurde die gemeinsame, populäre Kultur Amerikas immer stärker ethnisiert. Als Selznic gefragt wurde, welche Musik er für das uramerikanische Epos Gone with the Wind vorgesehen habe, meinte er verschmitzt, „gute jüdische Musik.“ Denn diese stellte um 1930 in der populären Musik bereits den amerikanischen Standard dar. Unter den großen Songwriters der zwanziger und dreißiger Jahre befindet sich neben Juden und Schwarzen nur ein protestantisch-weißer Angelsachse (Cole Porter) und dieser outete sich als Liebhaber jüdischer und schwarzer Musik.

Diese tägliche Erfahrung einer antagonistischen Akkulturation (George Devereux) wurde selbst eine der Schlüsseltraditionen der populären Kultur. Der Austausch über ethnische Grenzen hinweg, das Thema der kulturellen Vermischung und der ethnisch gemischten Nachbarschaft bis hin zur erhöhten Problematik der interethnischen Heirat, bot Stoff für Sketche auf der Vaudeville Bühne und für endlose Witze in der stand-up comedy. In der Tat diese Konflikte stellen die Energie hinter der überbordenden ethnischen Witzkultur Amerikas dar. Das Bewußtsein ethnischer Marginalität (Nietzsche spricht von den Wunden) und die Ressource des ethnischem Sozialkapitals (heute empowerment genannt) ist der Erfahrung der Einwanderung in einem liberalen Verfassungsrahmen eingeschrieben. Natürlich bietet gerade die Möglichkeit des Wechsels zwischen den kulturellen und ethnischen Optionen tausendfachen Anlaß für Melodram und Komik. Amerika hielt den Einwanderern die Option offen, wie Abraham Cahans Yekl im Film Hester Street meint, ein echter Yankee zu werden oder ein orthodoxer Jude zu bleiben mit vielen Kompromissen dazwischen. Rollentausch zwischen einer angelsächsischen und den ethnischen Identitäten produzierte manchen komischen Effekt. Die Grenze zwischen ethnischen und rassischen Gruppierungen mit ihren vielen Möglichkeiten der Fragmentierung, Fusion, des Passieren und Überschreitens ist für die populäre Kultur Amerikas konstitutiv geworden. Auch gender crossing (Tootsie) gehört in diesen durch Grenzen und Grenzüberschreitungen definierten Rahmen. Wie steht es aber mit Rasse und Rassismus?

Im Jahr 1970 fragte der schwarze Autor Ralph Ellison in einem Essay für Time Magazine "Wie die amerikanische Kultur wohl ohne die Schwarzen aussähe" und er kam zu einem ernüchternden Fazit. Wie auch Carl Gustav Jung schon 1930 bemerkte, waren afroamerikanische Performanzregeln, vor allem kinetische und rhythmische Elemente, in das Repertoire und die Darbietungstechnik der amerikanischen Kultur eingedrungen und dies, obwohl Schwarze durch Sklaverei und Rassismus gesellschaftlich und politisch ausgeschlossen waren. Nun ist es nichts Neues, daß Unterdrücker die Kultur der Unterdrückten zwar ablehnen, aber immer auch kopieren und schließlich mit einem Akt des symbolischen Lastenausgleichs nobilitieren - wie etwa die Chöre der vernichteten Kosaken offzieller Kulturexport der Sovietunion wurde. Warum aber hat gerade die schwarze Kultur, vor allem ihre religiöse und säkulare Musik, eine derartige Energie und einen kopierbaren Einfluß entwickelt? Das mag mit jener historischen Erfahrung zusammenhängen, die Orlando Patteron als den "sozialen Tod durch Sklaverei” kennzeichnete. Der rigorose Ausschluß von der Politik, Gesellschaft und Wirtschaft erhöhte den Stellenwert der schwarzen Kultur als Kompensation und Ressource für eine Identitätswahrung. Diese existentielle Not hat den kreolischen Kulturen der neuen Welt ihre Eindringlichkeit gegeben. Wenn schon frühe Beobachter meinten, Schwarze sängen, als ob ihr Leben davon abhinge, war das gut beobachtet. Im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung erhielt ihre Kultur eine weitere bürgerrechtliche Legitimation, die sie für alle marginalen und unterdrückten Gruppen der Welt attraktiv machte. Weitere Aspekte dieser Kultur waren für die populäre Kulturpraxis zentral: sie stellt Performanz über den Text, zieht damit Mündlichkeit der Schriftlichkeit vor, und fordert eine aktive Teilhabe im Gegensatz zur passiven Rezeption. Die Performativität unterstützt auch eine Synergie zwischen Musik und Musiker, zwischen Tänzer und Tanz, zwischen Rhythmus und Körper. Man kann diese Synergie bis heute im ring shout, bei den mardi Gras Indians, beim Jazzfuneral oder in jeder rocking church körperlich mitempfinden. Diese Energien waren bereits über vielfältige Kanäle, etwa die Minstrel Show oder den Jazz, in die Performanz der populären Kultur eingedrungen, aber erst mit Elvis Presley, Aretha Franklin, den Rolling Stones und Ray Charles wurde sie der populären Kultur vollends eingemeindet. Afroamerikanische Performanz hat zudem einen transformativen Aspekt: sie versucht eine neue Vergemeinschaftung, eine neues "feeling" zu kreieren, entweder durch Besessenheit und Ekstase oder durch Kreation einer ad hoc Gemeinschaft, Sehnsüchte, die heute in die rave oder Love Parade Veranstaltungen eingegangen sind.2) Dieses Muster paßt sich bestens in die Dynamik religiöser Wiedergeburt ein, die seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert populäre Inszenierungsformen bestimmt. Der rhythmische und harmonische Sinn der afroamerikanischen Musik hat zudem, was Kundenfreundlichkeit angeht, der europäischen Musikalität einiges voraus: die Dominanz von perkussiven Elementen in Musik und Tanz, komplizierte Polymeter, die off-beat Phrasierung, ein überlappender call-and-response, der propulsive Swing und deflationistische Down beat, nicht zu vergessen die Blue Notes sind oft kommentiert worden. All das jedoch prägt sowohl die religiöse als auch säkulare Musik. Daher hat durch den Einfluß der Afroamerikaner ein weiterer Schub sowohl in der Säkularisierung der religiösen, als in der sakralen Aufladung der profanen Musik stattgefunden (James Brown). Am offensichtlichsten wurde die Sakralisierung der Bürgerrechtspolitik in “We Shall Overcome,” einer umgetexteten Kirchenhymne, realisiert.

An diesem Punkt wird ein tragendes, synergetisches Element der schwarze Kultur wichtig, das schwierig zu vermitteln ist. Schwarze sprechen vom "signifying". Dies ist die narrative Form einer lyrisch-spöttischen, aber auch erotischen Anmache mit Hilfe parodistisch-ironischer Stilelemente. Das signifying stammt aus dem gleichen Kulturrepertoire wie das Call and Response, denn sie ist nichts anderes als eine umfassende Strategie der Nachahmung. Damit zielt sie auf eine spontane Vergemeinschaftung, etwa durch das Eingehen auf den Anderen, wenn etwa ein Sänger einen anderen Sänger nachahmend übertrifft. In gleicher Weise ist ein Grundzug des afroamerikanischen Tanzes zu verstehen, der von einer mimetisch-spöttischen Intention geprägt ist. Es ist hinlänglich bekannt, daß viele afrikanische Tanzstile die Körpersprache von Tieren kopieren: the monkey, the funky chicken, the buzzard lope, the fish und sogar der vom schwarzen Bandleader James Reese Europe erfundene foxtrot.

Die schwarze Kultur brachte die Eigenarten der Postmoderne als Morgengabe in die amerikanische Kultur ein: denn sie liebt die Intertextualität und Imitation, vor allem als Parodie und Travestie, sie bevorzugt Hybridität und Kreolisierung, und überall präsent ist das “signifying tease”, nicht als Reaktion auf die Moderne, sondern als Grundstimmung. Aus jenen Elementen, die für Schwarze zentraler Inhalt ihrer Kultur darstellten, bastelten sich die College Studenten ihre Gegenkultur der sechziger Jahre zusammen. All diese Charakteristika erscheinen am deutlichsten und gebündelt im Prinzip der Improvisation auf der Basis einer mimetischen bricolage.

Ethnische und vor allem afroamerikanische Inszenierungsformen wurden über einen langen Zeitraum hinweg von der populären Kultur absorbiert, bearbeitet und für eine multiethnisches Publikum erfahrbar gemacht. Diese Prüfstation panethnischer Akzeptanz hat diese Eigenarten und Fähigkeiten der amerikanischen populären Kultur so attraktiv für marginalisierte und unterdrückte Gruppen in der ganzen Welt gemacht. Nicht nur ghanesische Asylanten in München, sondern tungusische Jugendliche in Sibierien und deutsch-türkische Jugendliche in Kreuzberg übermehmen diese spielerischen afroamerikanischen rituellen Gesten der Grenzüberschreitung und damit das Echo eines Pathos existentieller Not.

Die interethnische Prüfstation hat das amerikanische Englisch geprägt, vor allem seine alltagssprachliche Form. Die Informalität und Fluidität des amerikanischen Englisch hat es zur lingua franca einer multiethnischen populären Kultur gemacht. Während in der Geschäftswelt ein vereinfachtes, ausdrucksneutrales Amerikanisch vorherrscht, hält sich die populäre Kultur an das vernakulare, ausdrucksstarke Alltagsenglisch, das durch subkulturelle und multiethnische Metaphorik angereichert wird. Der Populismus hatte bereits den amerikanischen Dia- und Soziolekten jeden Hinweis auf eine Klassenmarkierung genommen, und durch den Filter der interethnischen Ratifizierung hat eine Art Vereinheitlichung einer improvisierenden Fähigkeit des vernacular style stattgefunden, der allen anderen globalen Sprachen davonläuft. Daher werden die global rezipierten Geschichten der populären Kultur - selbst britische - in amerikanischem Englisch erzählt. Natürlich transportiert diese amerikanische Rhetorik auch ein gerüttelt Maß amerikanischer Ideologie: gerade Hollywood gelingt es, Techniken, Stile und Geschmackskulturen global zu vermarkten. Aber nicht nur Geschichten sondern auch Geschichte wird durch solche plots vermittelt. Mehr Amerikaner glauben Oliver Stones JFK als der historischen Forschung. Damit geht Carl Schmitts apokalyptische Prognose in Erfüllung: "Es ist ein Ausdruck echter, politischer Macht, wenn ein großes Volk die Redeweise und sogar die Denkweise anderer Völker, das Vokabularium, die Terminologie und die Begriffe von sich aus bestimmt." Amerika, sagte Alexandre Kojève und Baudrillard sagt es ihm nach, ist die Zukunft, die real gewordene Utopie.

Es gibt weitere Charakteristika des amerikanischen Erzählens, die ihre Popularität erklären hilft. Die libidinösen Spannungsbögen des Erzählens sind kürzer und schlagen extremer aus. Was den traditionellen Formen des Erzählens seine Form gab, der Handlungszusammenhang, wird in kurze Sequenzen, jede mit ihrem eigenen melodramatischen Mikroplot, aufgeteilt. Das Ziel ist es, die Momente der Erwartung, die Anmache und die Sequenz der Sensationen kurzfristig zu erhöhen. Obwohl schon früh entwickelt - nicht von ungefähr war Amerika Weltmeister der Kurzgeschichte - fand diese Strategie im Zeitalter des Fernsehens unter dem Diktat der Fernsehreklame ihre Vollendung. In der politischen Berichterstattung ist der sogenannte "soundbyte" die höchste Stufe dieser narrativen Verdichtung, die man etwas bei Larry King Live im CNN vorfindet. Diese Tyrannei der Erwartung favorisiert jene griffigen politischen Kurzformeln wie sie Huntington (Clash of Civilization) oder Benjamin Barber (Jihad vs. McWorld) geliefert haben - sie sind Funktionen der populären Medienkultur. Neben den Erzählformen werden auch Charaktertypen sorgsam aufgebaut und wiederholt. In jeder Sitcom wird versucht, für möglichst viele potentielle Zielgruppen mindestens eine Identifikationsfigur zu plazieren und mit kurrenten lebensweltlichen Details auszustaffieren. Auch hier gibt es eine Art Professionalisierung von erkennbaren Typen, deren Charakterteile für neue Sitcoms neu zusammengesetzt werden können. Auf den Primat der Serialität im Fernsehen braucht man nicht besonders hinzuweisen.

Die amerikanische Ideologie des autonomen Individuums und der Rechts auf Dissens können eine weitere Eigentümlichkeit amerikanischen Erzählens erklären: die Vielfalt ritualisierter Grenzüberschreitungen. Diese wird als verbürgtes Recht des protestantischen Individuums angesehen, und doch darf diese Grenzüberschreitung nie den Schritt ins "un-amerikanische" Abseits machen. Die Frage, wieweit sich ein Individuum vom Pfad der Tugend entfernen darf, ist Gegenstand zahlloser Geschichten und Debatten - wie zuletzt beim Vorfall in Waco. Und doch hat dieses Recht, die Grenzregion aufzusuchen und seinen eigenen Ort zu finden, überaus populäre Akzeptanz, denn es beinhaltet auch ein Recht auf Transformation und ein Recht, aus dem Krabbenkorb der Normativität herauszukrabbeln, ohne von der Gemeinschaft zurückgehalten zu werden. Die Individualisierung von Lifestyles ist jetzt bereits ein globaler Prozeß; doch Amerika hat alle rituellen Strategien der Regelverletzung - ohne das Haus der Zivilkultur einzureißen - durchkonjugiert. Als Amerikaner geboren zu sein, heißt wiedergeboren zu sein, schreibt Myra Jehlen. Daher wird die Rhetorik der amerikanischen Kultur von einem hohen Grad der persönlichen Tranformation durch persönlich in Gang gesetzte "Wiedergeburt" gekennzeichnet. Man denke an Bob Dylans Verwandlungen vor den entsetzen und begeisterten Augen seiner Fangemeinde. "Aufgepaßt, ich trage heute meine Bob Dylan Maske" pflaumte er sein Publikum an. Amerikanisierung, das heißt also nicht ein Zustand, sondern ein Prozeß der perpetuellen persönlichen Verwandlung - zumindest als verbrieftes Recht. Die Frontier war ein solcher Ort der "Regeneration", der eine moralische Kur, eine Prüfstation darstellte. Aber auch die Frontiers der heutigen Zeit: Rassismus, Sexismus, Imperialismus, Kolonialismus etc. werden als "arenas" konzipiert, in denen solche "improvements" realisiert werden können - oft mit rituellen öffentlichen Bekenntnissen. Kein Wunder das das "outing" in diesem Milieu entstanden ist und man ein solches selbst vom Präsidenten erwartet.

Die populäre Kultur transportiert tiefe aber einfache Sehnsüchte: Freiheit, Autonomie, Mobilität, Erneuerung, freie Ausübung der eigenen Emotionalität, Entlastung von allen sozialen Pflichten und Erwartungen. In diesem Milieu werden ebenso einfache wie stark markierte Tugenden gepflegt: Patriotismus, Einfachheit, Jungfräulichkeit, Reinheit, Häuslichkeit, Ehrlichkeit, die in immer neuen performativen Variationen im Fernsehen aufgelegt werden. Eine Eigenart kommt noch hinzu - auch sie hat historische Gründe: die Instrumentalisierung von Violenz. Nun ist die Republik mit einem Akt der Violenz ins Leben gerufen worden und das Recht der Bürgermilizen (und Bürger), Waffen zu tragen ist daher so gut wie unantastbar, egal wie hoch der gesellschaftliche Preis sein mag. Dieses Recht wird heute typischerweise von Charlton Heston, dem Darsteller von Moses, als nationales Erbe gepflegt. Die Faszination an der Gewalt steht in direktem Verhältnis zur Unantastbarkeit des Individuums. Daher gibt es soviele Rachefantasien, in denen sich ein Individuum, dem Unrecht angetan wurde, auf den Pfad der Rache begibt.

In einer Welt in der die Entladung von Violenz so locker sitzt, bedarf es des Humors, um gefährliche Situation zu entschärfen. Humor hat daher eine therapeutische Mission. Humor holt Leidenschaften zum Boden der Tatsachen zurück, läßt die Kirche im Dorf. Daher haben sich zur Beilegung ethnischer Konflikte typische humoristische Rituale der antagonistischen Akkulturation entwickelt. Iren, die Schwarze darstellen (Tom Rice), Juden die über und mit Italienern lachen (Chico Marx), Lenny Bruce, der sich über Katholiken hermacht und die Vielzahl interethnischer Witze. Das hat aber auch dazu geführt, daß viele ethnische Gruppen, nachdem sie Ziel des Humors anderer geworden waren, sich das Monopol über ihre Witze wieder angeeignet haben und als bessere und kenntnisreichere Inszenierung ihrer eigenen Lächerlichkeit auf die lukrative öffentliche Bühne gingen. Bei Jay Leno oder Jerry Springer ist das Testen der nationalen Scham- und Peinlichkeitsgrenzen inzwischen zum Selbstzweck geworden.

Wiedergeburt und Revival einerseits, Reformgeist andererseits, diese zweifache Orientierung hat eine widersprüchliche Sehnsucht etabliert, die man als Nostalgie ohne Erinnerung charakterisieren kann. Die Amerikaner lieben den Fortschritt und hassen die Veränderung. Die Wahl Reagans kommentierte Time Magazin mit einer Sondernummer “American Renewal.” Einerseits also Rückkehr zu einem einfacheren, besseren Amerika der "city upon a hill," andererseits aber Fortschritt in eine bessere Zukunft. Dies hat uns die um alles historische Leid gesäuberten Rekonstruktionen von Disneyland oder Colonial Williamsburg beschert. Und doch sehnt man sich immer wieder nach radikalem Neubeginn, denn jede Generation möchte die Stadt auf dem Hügel neu konzipieren so wie jede neugewählte Regierung die Politik neu erfinden möchte. Man kann diese widersprüchliche Sehnsucht an einer amerikanischen Ikone darstellen: Die Dose mit Campbells Tomatensuppe enthielt massenhaft produzierte Einheitssuppe, die allerdings von der Campbell Corporation in den zwanziger Jahren als “home made” verkauft wurde. Ja, in einer Reklameserie wurde diese “neue und verbesserte” Dosensuppe in einem Rahmen plaziert und unter Bemühung von Sir Joshua Reynolds schlichtweg zu einem Kunstwerk erklärt. Andy Warhol, der seine Laufbahn als Reklamemaler begann, mag diese Reklame der eingerahmten Tomatendose noch in Erinnerung gehabt haben, als er sie re-ikonisierte und nun tatsächlich aus der Warenwelt in die Kunst beförderte, allerdings unter Beibehaltung der seriellen Herstellung in seiner “Factory.” Das Prinzip der Nostalgie ohne Erinnerung ist inzwischen selbst eine wichtige Ware der medialen Welt geworden.

Weltweit hat die populäre Fantasie Amerika immer als Eldorado unerfüllter bürgerlicher Wünsche gesehen. Mit einigem Recht, denn die Amerikaner waren die ersten, die den bürgerlichen Komfort für alle erschwinglich machten. Und das Volk dankte es den Erfindern und Produzenten. Schon de Tocqueville hatte bemerkt, daß die Amerika arbeitsserleichternde Waren als eine paradiesische Erlösung vom Joch der (europäisch kodierten) Knechtschaft begrüßten. Materielle Prosperität und die arbeitserleichternde Warenwelt erhielten so eine soteriologische Aura. Auch die Frauenbewegung stand anfangs der Warenwelt höchst positiv gegenüber, weil sie von ihr die Befreiung der Frau aus der partriarchalischen Arbeitsteilung erwarteten. Diese Erwartung ließ populäre Journale wie Ladies Home Journal, McCalls und Cosmopolitan entstehen. Nun waren in der öffentlichen Rhetorik Amerikas immer schon säkulare und religiöse Motive vermischt - dies ist für Europäer besonders schwer zu ertragen. Nicht aber für die USA, vor allem nicht für ihre populäre Warenkultur. Der Reklamefachmann und Gründer von BBDO, Bruce Barton, ging 1924 in seinem Bestseller The Man Nobody Knows so weit, Jesus den besten Reklamefachmann aller Zeiten zu nennen, denn er habe ein tüchtiges Team von zwölf Verkäufern um sich versammelt und sein Produkt, das Christentum, weltweit mit Erfolg vermarktet. Daß sich nicht einmal Protest kirchlicher Führungskreise regte, ist bezeichnend. Daher konnte diese Vermischung von soterioligischen, religiösen, gesellschaftlichen und schließlich sexuellen Metaphorik in der Reklame fröhliche Urständ feiern, vor allem als nach dem Börsenkrach die Profite schmaler wurden und daher die Vorbehalte einer gewissen, antierotischen Selbstzensur weitgehend zusammenbrachen. Befreiung, sofortige Befriedigung, Emanzipation, Satisfaktion, Glück etc. dies sind die Versprechen einer soteriologisch kodierten, immens populären, erotisierten Warenwelt, die vom “tease”, der Anmache, lebt. Daher enthält die verborgene Utopie der populären Kultur immer auch das Versprechen eines persönlichen pursuit of happiness. Inzwischen predigt eine globale Kulturindustrie das Ende der Bescheidenheit und transportiert den Lebenstil von Dallas und Miami Vice bis in die entlegensten Dörfer der Welt.3) Die Amerikaner reagieren inzwischen auf dies Bombardement mit Abstumpfung oder Ironie. Das Versprechen wirkt aber im Export, beschleunigt durch das Nord-Süd Gefälle, und ist besonders verführerisch für Kunden aus Mängelwirtschaften. Nur wird hier ein Problem sichtbar, daß diese amerikanische Besitzstandsutopie sich kaum exportieren läßt, ohne an die globalen ökologischen Grenzen zu stoßen. Als pragmatische Verhaltensnorm projeziert die amerikanische populäre Kultur jene materielle Utopie, die Gegenstand ihrer zivilen Eschatologie ist. Und doch kann diese Utopie kaum global realisiert werden. Der englische Ökologe Peter J. Taylor schreibt: "Auf dem Höhepunkt des Wohlstands im Jahr 1960 verbrauchte die USA mit einem fünfzehntel der Weltbevölkerung ein Drittel der materiallen Ressourcen der Welt. Verständlicherweise kann das keine Basis für Nachahmung sein. In der Tat, würde man einen amerikanischen Lebensstandard weltweit ansetzen, dürfte die Welt nicht mehr als 600 Millionen Menschen enthalten, eine Marge, die bereits 1675 überchritten war, als vom amerikanischen Traum noch nicht die Rede war."4) Aber diese schlechte Nachricht hat jene Jugendlichen in Sibirien noch nicht erreicht, die, unbeeindruckt von den Grenzen des Wachstums, die Magie der umgedrehten Baseball Mütze einsetzen, in der Hoffnung auf ein "neues und besseres" Leben.

1) Die strukturelle Amnesie warf gegenproduktive Traditionen einfach ab. Das wirkte sogar im Detail. Die Deutschen gaben ihre doppelte Brotkultur auf, die Italiener verzichteten auf Pasta al dente - denn das war nicht mehr vermittelbar.
2) Es ist kein Zufall, daß Ecstasy die Droge dieser neuen Sehnsucht ist.
3) Robert Lessmann, “Diktatur der künstlichen Paradiese,” SZ am Wochenende, No. 126, Samstag/Sonntag 5/6. Juni 1999, I.
4) Peter J. Taylor. ”What’s modern about the modern world-system? Introducing ordinary modernity through world hegemony.” Review of International Political Economy, 3:2 (Summer 1996), 260-286.


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