Die Bruecke von Pusil Ha


© Hermann J. Hendrich 2009

Lange Erfahrung hat mir gezeigt, dass ich zwei interne Zustände besitze, erlebe, in dem einen Zustand, in den Situationen, in denen ich auf hohen Leitern stehen muss oder von einer großen Höhe in einen Abgrund blicken möchte, kann ich mir ein ruhiges Hinabblicken oder ein sicheres Gefühl beim Stehen auf einer sehr hohen Leiter ermöglichen, in dem anderen herrscht eine totale Unsicherheit gepaart mit Angstgefühlen. Wenn ich auf einen hohen Berg ging oder kletterte war mir eigentlich vom ersten Schritt an schon bewusst, in welchem der beiden Zustände ich mich befand, und so wusste ich, dass ich beim Erreichen des jeweiligen Gipfels oder der siebenten oder achten Stufe einer Leiter entsprechend vorsichtig zu sein hatte oder in irgendeiner Form von Kühnheit den rechten Schuh auf einen Felsen setzen konnte, der über dem Steilabfall gerade noch erreichbar war. Konnte ich manchmal im Sturm ganz ruhig auf so einem Felsen oder gar einer Schneewächte stehen und die 500 oder 600 m tieferen Gletscher oder Almen betrachten, musste ich in dem anderen Zustand mich schon beim Wechseln einer Glühbirne auf der dritten Stufe einer sicheren Leiter irgendwie absichern, mit einer Hand den Lauf der Leiter umklammernd kaum den Kopf nach oben wenden konnte und mit unsicherer Handbewegung die kaputte Glühbirne zu ergreifen versuchen.

Ähnlich stelle ich mir das Wirken von Grenzen vor, durchlässigeren oder eisernen, wenn ich beim Vorbeugen und Beachten der Lage meines Körperschwerpunktes innerhalb meiner hoffentlich sicheren Standfläche den Kopf durch die unsichtbare Fläche schiebe, entlang deren der Aufwind mir die Stirn kühlt, oder beim letzten versuchten Schritt eine Art Halt verspüre, und keinesfalls mehr in die Tiefe schauen will. Kann ich, will ich diese Grenze vorschieben, noch einen Schritt ausführen?

Seit Jahrzehnten geht mir der Satz von Oswald Wiener nicht aus dem Kopf: "die elemente sind die grenzen des betrachteten ausschnitts." Die Beziehungen der drei Begriffe in diesem Satz sind vieldeutig, enthält der Ausschnitt Elemente, die tatsächlich eine Grenze bilden können? Sind die Ränder des Ausschnitts schon die Grenzen, oder gibt es eben solche gar nicht, und wir müssen irgendeinen Algorithmus angeben, der eben eine Anzahl der Elemente des 'betrachteten' Ausschnitts zu Grenzelementen bestimmt?

Vielleicht sollten wir eher an den Begriff einer Abgrenzung denken, an unsere kulturmäßig oder willkürlich bestimmten begrifflichen oder vorstellungsmäßigen Einteilung von Bereichen, wie es zum Beispiel in der Architektur gegeben ist, wenn man von öffentlichen Plätzen, Zwischenräumen, Raumgefügen, etc. etc. redet. Was könnten dort die Elemente sein, und bietet uns Bill Hillier dazu Aufklärung über unsere einge-fahrenen Vorstellungen?

Ich habe schon versucht, in meiner ‚an stelle einer einleitung' in "raum, anschaulich" Grenzen der räum-ichen Erfassung durch die Sinneswahrnehmung anzugeben, wie wir Räume bei Ausschalten unseres Sehsinns für unsere Vorstellung entdecken und dann beschreiben könnten. Freilich führen solche Überlegungen zu einer gewissen Priorität der körperlichen Bewegung, sei es laufend, gehend oder kriechend, in der Eingliederung der Erfassung räumlicher Gegebenheiten und deren Grenzen: seien sie Abgründe, Wände oder Leere. Die Begrenzungen in uns selbst sollen auch nicht unterschlagen werden, Ermüdung, Gefühl einer Vergeblichkeit des Vorhabens, Angst, übertriebene Vorsicht und was jede/jeder andere hier einsetzen möchte. Dabei denke ich nicht daran, wie man diese Grenzen erreichen oder gar bemerken könnte, sondern wie wir schon vor dem Erreichen der Zäune und Mauern einknicken und uns ins nächste Cafe setzen.

Ganz sicher können wir nie sein, ob die von uns wahrgenommene oder auferlegte Grenze im Bereich der dieser gegenüberliegenden Seite als ebensolche Absperrung oder unüberbrückbaren Abgrund wahr-genommen wird. Wir fühlen uns vielleicht sicher in unserem abgegrenzten Bereich und verstehen diesen als etwas, was uns Innen gehört, und das Draussenliegende ist das unbekannte und fremde. Ich erinnere mich an einen alten Science Fiction Film, dessen Titel ich vergessen habe, aber dessen Story darin bestand, dass Kolonisten in einem fernen Planeten in ihrem kleinen Environment um das gelandete Transportraumschiff einen elektronischen Zaun nächtens errichten mussten, um die angreifenden und mordenden Ungeheuer, die eigentlich nur ihrer ängstlichen Fantasie entsprangen, von der Vernichtung der Besatzung fernzuhalten. Dazu gehört auch die Vorstellung meiner Kindheit, dass ich keines meiner Glieder - Arme, Hände, Füße - außerhalb des Bettgerüstes hängen lasen oder gar hinschieben darf, nur innerhalb dieses eichenen Rechteckes war ich sicher. Sah ich doch die bemützten Zwerge unter dem Bett hervorkriechen oder aus dem Hintergrund des Zimmers anwieseln. Aber diese Grenze hielt sie doch von mir fern. All diese Grenzen machen mich mit keinen Auswegen, Überbrückungen oder anderen Übergängen bekannt, sie sind irgendwie nicht nur für Gedanken unpassierbar. Diese Beendigungen eines Bereiches, diese Säume einer Bewegungsebene kennen Übergänge nicht. Es sei denn, wir geraten im Zuge unserer Explorationen an unbestimmte Ebenen, deren Ausdehnung wir nicht so rasch erfassen können. Dann ist der Versuch erklärbar, dass jemand über den in der Ferne dunsterzeugenden Fluss, über den kaktusbewachsenen sandigen Hang hinauf, über die weiße Schneewächte hinweg den Übergang sucht, die Brücke über das gerade nicht begehbare. So standen wir vor dieser Brücke vor dem Hügel mit Maya Ruinen, Pusil Ha genannt, und wollten den Übergang nicht wagen.


Foto: Anna M. Hohmann-Vogrin © 2008

Unsere Maya-Führer lachten, welch einfacher Übergang im Schatten über den darunter dahinziehenden kühlenden Fluss verglichen mit dem erhitzenden Aufstieg auf den gegenüberliegenden Hügel durch feuchtheißen Dschungel weglos. Und in der geringen Erwartung, dort oben noch irgendeine Art von Architektur sehen zu können, überwachsene Mauern vielleicht, blieben wir mit den herangeschleppten Kameras und Geräten stehen. Wir ließen den Fluss die Grenze sein. Und seinen Übergang unbeschritten. Mit einem Übergang verbinde ich den Wechsel aus einem Bereich in einen anderen, womit dann auch eine andere Deutung für den Begriff Grenze eingebracht werden muss: die Demar-kationslinie zwischen zwei oder mehreren Bereichen, die nicht mehr das Innen und Außen trennt, sondern wie eine Haut den einen Körper, die eine Zelle umschließt, um sie von der nächsten zu trennen. Dann gibt es auch Übergänge, um von einem zum anderen Bereich über die Grenze zu wechseln, aus einem Zustand in den anderen mit einer emotionalen oder Gedankenbrücke zu gelangen. Aber: Übergänge gibt es nur zwischen einander ähnlichen Bereichen.

Zwischen Leben und Tod gibt es keinen Übergang.

Anna M. Hohmann-Vogrin verstarb am 28. August 2009

Medienbaustein


·^·