Arthur Schnitzlers Traumnovelle und ihre filmische Umsetzung durch Stanley Kubrick


© Stefan Schweizer & Jana Wucharz

1. Einleitung: Impressionismus und Arthur Schnitzler


Es ist schwierig, den österreichischen Schriftsteller Arthur Schnitzler genau einer Epoche zuordnen zu wollen. Meistens spricht dieser Umstand dafür, dass die Interpretamente besonders interessant und analyseträchtig sind, was, dies dürfte die andauernde wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Beschäftigung mit dem österreichischen Schriftsteller zu Genüge belegen, auch auf Schnitzler zutrifft.

Die im Realismus zu ihrer vollen Blüte gelangende bürgerliche Kultur zerfällt im Impressionismus. Dies hängt vor allem mit dem Untergang des Liberalismus im Wien des fin de siècle zusammen. Dabei gibt es zwei vorherrschende Traditionsstränge zu identifizieren. Zum einen die Aufrechterhaltung des habsburgischen Mythos, wobei die Österreichische Krone als legitime Erbin des Römischen Reiches (genauer: heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen) angesehen wird. Merkmale dieser Traditionsrichtung sind Übernationalität und die Befreiung der Stände und des Volkes. Zum anderen ist die österreichische Tradition des Liberalismus zu nennen. Diese versteht sich als heroisches Zeitalter im Kampf gegen den barocken Absolutismus und Adel (auch Heilige Allianz). Der Liberalismus erfährt 1848 eine entscheidende Niederlage. Ab 1866 wird der Liberalismus durch die Börse, das Parlament, das Rathaus, die Oper und Universität repräsentiert. Es herrscht ein aufgeklärtes Beamtentum und Bürger und Gewerbe besitzen absolute Niederlassungsfreiheit. Die geschwächte Krone war gezwungen mit dem Liberalismus ein Bündnis einzugehen, auf der anderen Seite wurde aber auch ein Bündnis mit Deutschland eingegangen. Dabei kam der "Bildungskulturimperialismus" rassistischer und völkischer Prägung zum Vorschein. Es ging um die Durchsetzung der deutschen Kultur gegenüber den slawischen Völkern. Der Liberalismus scheiterte zwar nicht zuletzt an den eher nationalistisch orientierten Kräften, aber seine Institutionen bleiben, was zum Neoabsolutismus mit instabilen parlamentarischen Verhältnissen führt.

Die skizzierte Linie führt zu zwei Strömungen: einmal dem christlichen, sozialistischen, deutsch-ausgerichteten, katholischen, kaisertreuen und antisemitischen Kleinbürgertum als eigentlicher Volksbewegung, zum anderen zur jüdisch-säkularen Aufklärung mit Zweifeln an politischer Wirkungsmächtigkeit sowie dem Erfolg im gesellschaftlich-sozialen Leben. Da die Vätergeneration im Liberalismus sozusagen einen Übermachtsstatus besaß, weil sie schon alles erreicht hatten, wandten sich die Söhne von dem ökonomisch-liberalen Liberalismusdenken ab. Dies trifft auch z.T. auf das Verhältnis von Schnitzler zu seinem Vater zu. Des weiteren herrschte innerhalb der Söhne-Generation des Liberalismus ein Kampf gegen die rein rationale Komponente des Liberalismus, was sich in den Themengebieten der Sexualität und des Rausches handfest manifestiert. Eine Möglichkeit die politisch und sozial abgängigen Aufstiegs- und Wirkungsmöglichkeiten zu kompensieren bot die Kunst. Nicht zuletzt deshalb erfolgte die Hinwendung zum kulturell-schöpferischen Komplex, so auch bei Arthur Schnitzler.

In Schnitzler vereinigten sich der moralisch-wissenschaftliche und ästhetisch-künstlerische Strang exemplarisch. Schnitzler selber rang mit dem väterlichem Erbe sittlicher Werte und der Anerkennung des Instinktlebens. Das gesellschaftliche Chaos sich bekämpfender Wertvorstellungen kombinierte sich mit dem Pendant der anthropologischen Konstante eines Wertvakuums.

2. Text-Kontext-Analysen des neuen literatur- und kulturwissenschaftlichen Paradigmas


Neue Ansätze der Literaturwissenschaft verstehen sich als kulturwissenschaftlich und zugleich historisch orientiert und firmieren unter den Stichworten der anthropologischen Li-teraturwissenschaft und des Text-Kontext-Ansatzes. Auf die Notwendigkeit einer solchen Vorgehensweise hat jüngst Sandra Pott im Zusammenhang mit Johann Wolfgang Goethes Wanderjahre hingewiesen. Die Wanderjahre gelten demnach als Wissenschaftsroman, in welchem Medizin und Literatur gleichermaßen thematisiert werden. Innerhalb der hier vorliegenden Aufgabenstellung gibt es eine besondere Form der Kontextanalyse. Es wird nicht, wie gängiger Weise üblich, untersucht, welche vertexteten, wissenschaftlichen Kontexte Schnitzlers Werk, hier die "Traumnovelle", beeinflusst haben. Eine solche Vorgehensweise stellt einen anderen Ansatzpunkt dar. Sie empfiehlt sich beispielsweise bei der Analyse von Texten der Romantik. Dort gilt es dann beispielsweise diejenigen Kontexte zu identifizieren, welche z.B. E.T.A. Hoffmann, aber auch andere wichtige Autoren der Romantik, als Beispiele seien nur Joseph von Eichendorff, Clemens Brentano und Achim von Armin genannt, in ihrem Produzieren der literarischen Texte beeinflusst haben. Bisher scheinen diese vertexteten und in unserem Falle wissenschaftlichen Kontexte nicht genügend gewürdigt und in die Analyse einbezogen geworden zu sein. Aus diesen Gründen sollten bei der Romantik große Teile der romantischen Literatur beeinflussenden Kontexte, welche mit dem Schlagwort der Anthropologie der Romantik bzw. romantischen Anthropologie umschrieben sind, rekonstruiert und analysiert werden. 1) Eine Annäherung von Literaturgeschichte und Wissenschaftsgeschichte, Poesie und Wissen dürfte also im heutigen literaturwissenschaftlichen Betrieb selbstverständlich sein. Kulturwissenschaftlich inspirierte Literaturwissenschaft könnte dann eine der Philologie verpflichtete Literaturwissenschaft bedeuten, die methodisch kontrolliert auf externe Wissenskontexte greift und eine Erweiterung des traditionellen Textkorpus anstrebt. Damit ist ein historischer und quellenorientierter Ansatz erforderlich, welcher eine Schließung der zeitgenössischen Sinnlücken als Frage-Antwort-Rekonstruktion vornimmt. Der Ort dieses Ansatzes ist das Archiv, die Vorgehensweise hermeneutisch. Die Hauptarbeit besteht demnach im literaturwissenschaftlichen Quellenstudium. Das dergestalt skizzierte Ziel ist folglich nicht die große Erzählung, sondern eine gehobenen wissenschaftstheoretischen Anforderungen entsprechende und wissenschaftshistorische Konstellationen gebührend berücksichtigende historisch-kontextuelle Rekonstruktion mittlerer Reichweite.

In vorliegendem Fall wird hingegen der literarische Text Arthur Schnitzlers als der Kontext des Texts betrachtet. Der eigentliche Text benutzt ein anderes Medium als das der Literatur, nämlich den Film. Der Text ist in diesem Fall Stanley Kubricks Verfilmung von Schnitzlers Kontext, die "Traumnovelle". Insofern untersucht der vorliegende Aufsatz auch Text-Kontext-Relationen: Es wird die Interdependenz von Text "Eyes wide shut" und Kontext "Traumnovelle" untersucht.

3. Problemstellung


Die "Traumnovelle" gehört sicher zu den rätselhaftesten Werken Arthur Schnitzlers. Die Ereignisse der Handlung brechen mit solcher Macht in die beschauliche Welt der Protagonisten Fridolin und Albertine ein, dass selbst der Leser nicht mehr weiß, ob er sich gerade in der Wirklichkeit oder in einem Traum befindet.

Schnitzlers "Traumnovelle", an der er seit 1921 geschrieben hat, erscheint erstmals 1926 in einer Berliner Zeitschrift. Sie umreißt eine 36-stündige Zeitspanne eines Wiener Arztehepaares zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die "Traumnovelle" wird einheitlich als Höhepunkt des Spätwerks Arthur Schnitzlers gesehen. Folglich ist die Forschung, die die knapp hundertseitige Novelle analysiert, sehr umfangreich. 2) Diese außergewöhnliche Aufmerksamkeit seitens der Forschung wird der "Traumnovelle" vermutlich entgegengebracht, weil der Text sowohl das sexuelle Begehren als auch die Unterscheidung zwischen Bewusstem und Unbewusstem, Männlichkeit und Weiblichkeit gleichzeitig hervorhebt und zu beseitigen versucht. Unter dieser Betrachtung wurde auch Stanley Kubricks filmische Umsetzung "Eyes Wide Shut" von 1999 kontrovers diskutiert. Er verlagerte Schnitzlers Stoff in das New York der achtziger Jahre. 3)

Wie schafft es Schnitzler eine Verbindung zwischen der Traumwelt und der Wirklichkeit zu ziehen? Was mag Kubrick an Schnitzlers Gegenstand gereizt haben und inwieweit decken sich Schnitzlers literarische Erzähl- und Gestaltungsstrategien mit den filmischen Umsetzungen?

Um eine Antwort auf diese Fragen zu bekommen, wird zunächst der Inhalt der "Traumnovelle" knapp dargestellt und auf den Gattungsbegriff Novelle bzw. "Doppelnovelle" eingegangen. Im Verlauf des Essays soll dann die Beziehung zwischen Arthur Schnitzler und Sigmund Freud erläutert werden, um in diesem Rahmen auf Traum und Wirklichkeit in der "Traumnovelle" eingehen zu können. Im Anschluss wird die Kritik an einer freudianischen Deutung aufgeführt. Weiter werden eine Darstellung der Filmversion und ein anschließender Vergleich zwischen "Eyes Wide Shut" und der "Traumnovelle" folgen.

4. Inhalt


Die Grundzüge der Novelle sind schnell erzählt: Die sexuelle Ambivalenz einer glücklichen Ehe und die Verwischung der Bedeutung sexueller Träume und hypothetischer Gele-genheiten mit der Wirklichkeit sollen dargestellt werden. 4) Zu diesem Zweck wählt Arthur Schnitzler als Schauplatz das gutbürgerliche Familienleben eines Wiener Arztehepaares um die Jahrhundertwende. Das Leben der beiden Protagonisten Fridolin und Albertine beginnt sich zu verändern, als sie sich nach dem Besuch eines Karnevalballs anfangs spielerisch herausfordernd gestehen, sich auch zu anderen Personen erotisch hingezogen gefühlt zu haben. Während eines Urlaubs in Dänemark erlebten Beide derartige Momente ohne Folgen. 5) Offensichtlich betreiben Fridolin und Albertine bewusste Tiefenfor-schung, indem sie sich frühere Situationen in Erinnerung rufen, die für beide reizvolle Versuchungen darstellten. Albertine erzählt von einem Dänen, der sie durch bloßen Blickkontakt derart in seinen Bann zieht, dass sie ihre gesamte Zukunft mit Fridolin für ihn aufs Spiel gesetzt hätte. Fridolin hat ein ähnliches Erlebnis mit einem jungen Mädchen am Strand. Beide haben in dem Gespräch feststellen müssen, dass sie Geheimnisse voreinander haben. Im Laufe der Handlung müssen sie diese zunächst selbst aufspüren und dann einander mitteilen. Die vermeintliche Harmonie in der Beziehung ist allerdings zunächst gestört. 6) Für Fridolin sind die Geständnisse Auslöser für eine Aneinanderreihung eigenartiger Erlebnisse. Mit Marianne, der Tochter eines verstorbenen Patienten, der Prostituierten Mizzi und einer kleinen Pierrette in einer Maskenleihanstalt kommt es zu traumhaft wirkenden und nie vollendeten Liebeserlebnissen. Später lässt sich Fridolin auf ein privates Maskenfest einschleusen. Dort wird er Zeuge eine Orgie, bei der alle Frauen zwar maskiert aber nackt sind. Als er auffliegt, verbürgte sich eine Unbekannte mit ihrem Leben für ihn. Zurück in der ehelichen Wohnung berichtet ihm Albertine von einem erotischen Traum: Beherrscht von nie zuvor gekannter Lust, betrügt sie ihren Mann mit mehreren Sexualpartnern, während er gefoltert und schließlich sogar gekreuzigt wird. Am darauf folgenden Tag besucht Fridolin die Orte seiner nächtlichen Begegnungen ein zweites Mal. Schließlich landet er in einem Seziersaal, in dem er die Leiche der unbekannten Frau entdeckt. Sie ist an einer Morphiumvergiftung gestorben. Ungewiss bleibt, ob es Selbstmord oder ein von fremder Hand zugefügter Tod gewesen ist. Zuhause trifft Fridolin wieder auf Albertine, der er endlich von seinen rätselhaften Erlebnissen der vergangen Stunden berichten kann. Auf Basis dieses neuen gegenseitigen Vertrauens kommen beide sich wieder "traumlos nah". 7)

5. Novelle - Begriff, Gattungsgeschichte, und -merkmale


"Novellen (= novella (ital.) Neuigkeit) sind Erzählungen, welche erstens kürzer sind, als ein Roman, keine Nebenhandlungen und nur wenige Hauptfiguren (=Protagonisten) haben, zweitens konzentriert sich die Handlung auf ein plötzliches, krisenhaftes Ereignis, durch welches der Lebensweg des Protagonisten eine schreckliche Wendung erfährt, drittens ist die Struktur der Novelle der des Dramas ähnlich: Exposition - Hinführung zur - Krise - Verzögerung - Lösung/Katastrophe." 8)

So weist Schnitzlers Arbeit die typischen Kennzeichen der novellistischen Form auf. Aufgrund der inhaltlichen Begrenzung und dem daraus resultierenden Verzicht auf alles Unwesentliche kann sich der Grundproblematik eingehen gewidmet werden. So gelingt es Schnitzler den Fokus auf die "persönlichen Konsequenzen, welche sich aus der Forderung nach weitgehendem Triebverzicht in der gesellschaftlichen Institution der Ehe ergeben", durch die Gegenüberstellung von Traum und Wirklichkeit an die Oberfläche der Realität gelangen zu lassen. 9)

5.1 "Doppelnovelle"


Schnitzler plante zunächst der Erzählung den Titel "Doppelnovelle" zu geben, da sie in mehreren Aspekten doppelt ausgelegt ist: Albertines Traum und Fridolins Erlebnisse in der Nacht können als Parallelen betrachtet werden, genauso wie Fridolins Begegnungen selbst. Er besucht Marianne, die Dirne, die Pierrette und die schöne Unbekannte jeweils zweimal. 10)

6. Arthur Schnitzler und Sigmund Freud


Auch wenn sich die Forschung über die genaue Ausprägung der Beziehung zwischen Arthur Schnitzler und Siegmund Freud Schnitzlers im Unklaren ist, besteht doch weitge-hend Einigkeit darüber, dass Freud die "schriftstellerische Leistung seines Kollegen als kongeniale Umsetzung seiner eigenen Theorien angesehen haben durfte," auch wenn ihm eine gewisse Eifersucht Schnitzlers Leistungen gegenüber zugeschrieben werden muss. Die "Traumnovelle" wird als "verblüffende Parallele" zu Sigmund Freuds fast gleichzeitig fertig gestellter "Traumdeutung" gesehen. In ihr wurden seine umfangreichen Traumforschungen erstmals 1900 publiziert. Im Wesentlichen besagt sie, dass der Traum eine "verkleidete Erfüllung eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches" ist. 11) Für Freud ist der Traum somit nur noch ein psychologisches Phänomen. Er eröffnet auch der Dichtung somit neue Möglichkeiten der Traumgestaltung. Schnitzlers Auffassung von Träumen stellt einen Zusammenhang zwischen Psychoanalyse und Dichtung dar. 12) Er stand der Psychoanalyse als Arzt und Seelenforscher nahe.

Der besonders hohe Stellenwert, den Arthur Schnitzler selbst dem Traum zugeschrieben hat, wird besonders daran deutlich, dass er regelmäßig ein Traumtagebuch führte. So war er in der Lage die Gesetze des Träumens zu begreifen und in seine schriftstellerische Arbeit einfließen zu lassen. 13) Die umfangreichen Traumaufzeichnungen, über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren, machen deutlich, dass er sich auch nach Aufgabe des Arztberufes mit dem Traum befasste. Dies befähigte und legitimierte ihn zur Kritik an der orthodoxen Freudschule. 14)

6.1 Zwischen Traum und Wirklichkeit


Die Selbsterkenntnis Albertines und Fridolins vollzieht sich in einem traumähnlichen Zustand, bei Albertine tatsächlich im Schlaf, bei Fridolin dagegen im Verlauf der nächtlichen Begebenheiten. Bei dem Leser könnte zunächst die Vermutung nahe liegen, dass es sich bei Albertines Traum um ein Märchen und bei Fridolins Erlebnissen um einen Traum handelt. Der Schein trügt aber: Fridolins Abenteuer sollen wirklich im Sinne von real sein. 15) Schnitzler beabsichtigt durch die "Traumnovelle" die "Brüchigkeit und Unzuverlässigkeit unserer bewussten Realitätswahrnehmung" erahnen zu lassen. 16)

6.1.1 Wirklichkeit

Die Worte "Wirklichkeit und "wirklich" findet man im allgemeinen Sprachgebrauch recht selten. Wenn sie verwendet werden, dann oft in Verbindung mit dem Begriff Traum. 17)

Je mehr sich Fridolin in jenen, ihm noch unbekannten Teil der Wirklichkeit verstrickt, desto weiter entfernt er sich von dem, was zuvor seine Welt war. Er erkennt, "dass all diese Ordnung, all diese Gleichmaß, all diese Sicherheit seines Daseins nur Schein und Lüge zu bedeuten hatten." 18) In der "Traumnovelle" werden demnach zwei Welten einander gegenüber gestellt, die auch gleichzeitig Lebensformen der Menschen repräsentieren sollen. Die eine wird als Fridolins und Albertines Alltag bezeichnet, indem sie ihre Pflichten zu erfüllen haben und Ehe-, Berufs-, und Familienleben pflegen. Die andere Welt kann durch Abenteuer, Freiheit und Gefahr charakterisiert. Sie ist der ersten Welt, die allgemein als "Ordnung" bezeichnet wird, entgegenzusetzen. Denn in dieser Welt müssen Pflichten erfüllt werden. Es muss sich demnach dieser Ordnung untergeordnet werden. Dies setzt voraus, dass das Individuum unfrei ist, es ist in seiner Ordnung gebunden. Sicherheit und Gleichmaß werden von Abenteuer ausgeschlossen. In der anderen Welt spielen folglich Unsicherheit und Ungeordnetes eine übergeordnete Rolle. Sie wird als "Chaos" bezeichnet. Demzufolge kann die Novelle im Wesentlichen auf das Aufeinandertreffen von "Ordnung" und "Chaos" reduziert werden. Die Wirklichkeit in der "Traumnovelle" ist demnach "doppelgesichtig": Sie umfasst "Chaos" und "Ordnung". 19)

Fridolin hat in der ersten Nacht eine Reihe von dunklen Abenteuern. Er entdeckt die "Chaos"-Wirklichkeit, welche die Ordnung seines Daseins und seines Ichs zu zerstreuen drohen. In der ersten Nacht hat Albertine einen Traum, der die Ordnung betreffend, nichts Geringeres zu bewirken scheint. 20)

6.1.2 Dramaturgie des Traums

Bei der Gestaltung des Traums werden psychoanalytische Erkenntnisse verfolgt: Der Traum unterdrückt verborgene erotische Wünsche. Er entstammt dem "ES", dem Unbewussten und kann wesentlich stärker sein als das Bewusstsein. Er ist damit für das Individuum unvermeidbar und unausweichlich. Der Traum verdichtet und verschiebt Erlebnisse und symbolisiert so die Verbindung von unbewussten Gedanken, Strebungen und Schuld-gefühlen. Im Regelfall wird der Traum vom Träumer vergessen und kann von ihm nicht gedeutet werden. Die Psychoanalyse begründet dies durch die Abwehr von peinlichen Erkenntnissen des Unbewussten. Freud bezeichnet den Traum als "via regia", also Strasse zum Sitz der Triebe, dem "ES", dem ältesten Teil der Seele. Wird eine Handlung nicht in Einklang gebracht mit dem "ES", dem "ÜBER-ICH" (dem Niederschlag der Kindheit) und der Realität (den Forderungen der Gesellschaft und der Kultur), dann enthüllt der Traum diesen Konflikt. 21) Für Schnitzler stellt der Traum den "Wunsch" und die "Möglichkeit" dar und sieht die Persönlichkeit eines Menschen nicht in dem, was sie in der Wirklichkeit ist, sondern in dem, was sie sein könnte. Auf den Begriff Wirklichkeit wird unter Gliederungspunkt 4.1.2 genauer eingegangen. Vom Menschlichen Bewusstsein wird durch die Erfahrung Traum und Wirklichkeit getrennt. Allerdings ist die Wahrnehmung sehr individuell und der Inhalt eines einzigen Augenblickes, der unwiederbringlich ist. Es kann demnach festgehalten werden, dass vergangene Ereignisse nur noch in einer "seelischen Realität" vorzufinden sind, die den "Traumerinnerungen" gleichzusetzen sind. Die Existenz von Traum und Wirklichkeit resultieren aus einigen gemeinsamen Bestimmungen. Traum und Wirklichkeit gleichen sich, wenn der Traum und die chaotische Seite der Wirklichkeit aus entsprechenden Augenblicken, Besonderheiten, Wendungen und der gleichen Irrationalität bestehen. Chaos kann allerdings nicht nur auf die Unstrukturiertheit des Sexualtriebes, der sich allen ordnenden Gesetzen zu widersetzten scheint, reduziert werden. Also kann der Traum nicht nur deshalb als chaotisch betrachtet werden, weil verborgene sexuelle Wünsche festgehalten und zum Schein erfüllt werden. Das Chaos wird als die "Nachtseite" der Wirklichkeit bezeichnet. Fridolin versucht ihr zu entkommen, indem er in die Welt flieht, die alles Unerklärliche durch Weltanschauungen und philosophische Systeme rational begreiflich macht. Der Traum beschäftigt sich zwar mit den persönlichen Erlebnissen, der persönlichen Wirklichkeit des Träumers, dennoch erscheint er ihm oft befremdend und unfassbar. Eine gleiche Macht übt aber ein schicksalhaftes "ES" aus, das den Traum des Träumers herbeiführt. Es nimmt Einfluss auf seine Wirklichkeit, die ihm traumhaft vorkommen kann. So wird er von Traum und Wirklichkeit überwältigt und seine Ordnung und Existenz scheinen in Gefahr. 22)

Schnitzler sieht den Traum als Teil des Kunstwerkes, als ein Stück der Dichtung. Aller-dings ist die "Reinigende Wirkung, die das Bewusstmachen verdrängter Konflikte hervorruft", mit Ausnahme der "Traumnovelle" bei Arthur Schnitzler nicht zu finden. Es wird demnach der Anschein erweckt, dass der durch Sigmund Freuds "Traumdeutung" neu erschlossene Bereich des Menschen, das Unbewusste, vor allem durch die künstlerische Gestaltung des Traums, in die Dichtung eingeflossen ist. 23)

So vollzieht sich die Selbsterkenntnis der Protagonisten in der "Traumnovelle" in einem traumähnlichen Zustand: Bei Albertine tatsächlich im Schlaf, bei Friedolin während seiner nächtlichen Begegnungen in der Stadt. 24)

6.1.3 Traum oder Wirklichkeit?

Als Fridolin zum zweiten Mal heimkehrt, verschwimmen für ihn die Grenzen von Traum und Wirklichkeit. Die Wirklichkeit kommt ihm plötzlich traumhaft und unwirklich vor. Der Traum Albertines dagegen erscheint ihm als Wirklichkeit, als ob sie ihn tatsächlich betrogen hätte und ermorden lassen habe: "Man mochte es nehmen wie man wollte: heute Nacht hatte sie ihn ans Kreuz geschlagen." Auch ihr Begehren dem Dänen gegenüber erscheint ihm wesentlich schlimmer als eine tatsächliche Erfüllung: "Wenn jetzt zum Exempel der junge Däne ihm entgegenkäme, mit dem Albertine -ach nein, was fiel ihm denn nur ein? Nun es war ja doch nicht anders als wenn sie seine Geliebte gewesen wäre. Schlimmer noch."

Sein eigenes Abenteuer erscheint ihm, verglichen mit dem Traum seiner Frau, als belanglos. Am liebsten würde er sich an seiner Frau rächen. Er ist fest davon überzeugt, dass alle Frauen in der Lage sind ihren Ehemann zu betrügen. "Eine wie die andere, dachte er mit Bitterkeit, und Albertine wie sie alle - sie ist die Schlimmste von allen." Aus der Gegebenheit heraus, dass Fridolin Albertines Traum als einen sich wirklich zugetragenen Betrug betrachtet, kann nun gefolgert werden, dass er den Traum für Wirklichkeit nimmt. Umge-kehrt wiederum kommen ihm seine Erlebnisse wie geträumt vor. Deren wirkliche Existenz wird allerdings unter anderem durch die Maske auf dem Bett bewiesen. Zum einen ist der Traum demnach das Wirkliche, zum anderen aber auch das Unwirkliche. So kann eine Beziehung zwischen Traum und Wirklichkeit belegt werden. Da die Wirklichkeit als Oberbegriff für Chaos und Ordnung gesehen wird, kann so auch eine Beziehung zwischen Traum, Chaos und Ordnung hergestellt werden. Nun stellt sich aber die Frage, ob der Traum immer der Zugang zum Chaos ist und ob das seinen eigentlichen Bezug zur Wirklichkeit darstellt oder er auch andere Gemeinsamkeiten mit der Wirklichkeit hat? 25)

6.1.4 Kritik an einer freudianischen Deutung

Im Wesentlichen werden Schnitzler und Freud eher im Rahmen der älteren literaturwissen-schaftlichen Auseinandersetzung mit der "Traumnovelle" in direkte Verbindung gebracht. Hier herrschen allerdings unterschiedliche Auffassungen vor. 26)

Einigkeit besteht heute lediglich darüber, dass eine klassische freudianische Deutung der "Traumnovelle" nicht gerecht werden würde. Viele Elemente von Albertines Traum und Friedolins irreal wirkender Realitätserfahrung sind zwar psychoanalytisch nachempfunden, die Figurencharakteristika dagegen fokussiert das "Mittelbewusstsein" nach Schnitzlers Psychologie. Dieses soll laut Schnitzler zur Gewinnung der entsprechenden Selbsterkenntnisse dienen. 27) Sicher lässt sich demnach ein nicht unerheblicher Einfluss der Lehren Freuds auf das Werk Arthur Schnitzlers ausmachen. Falsch ist es aber daraus auf eine Übernahme von Freuds Psychoanalyse in der "Traumnovelle" zu schließen. Albertines Traum erfordert keine psychoanalytische Interpretation. Er stellt keine Verbildlichungen dar. Albertine ist Albertine, Fridolin ist Fridolin und selbst das sexuelle Begehren wird nicht verschleiert dargestellt. Es gibt keine Zensur, daher ist keine Entschlüsselung erforderlich. 28)

Die heutige Forschung vertritt die Auffassung, dass Schnitzler neben einem Bezug zu Freuds Psychoanalyse vor allem das Krisengefühl der zwanziger Jahre hervorhebt. Verdeutlichen wollte er insbesondere die Gefährdung der männlichen Identität durch die weiblichen Autonomieansprüche. Zwar kann durchaus von einer gewissen Parallelität zwischen Fridolins Erlebnissen und Albertines Traum gesprochen werden, allerdings ist Albertines Spielraum als Gattin und Mutter auf das Haus beschränkt. Das Ausleben ihres sexuellen Begehrens kann sie nur in Form des Traumes ausleben. Für diese Art der Bedürfnisbefriedigung ist wesentlich mehr Reflexionsfähigkeit und Verständnis erforderlich, als für das Verhalten ihres Mannes. Somit könnte Albertine die erhöhte Sensibilität der gesellschaftlich Unterprivilegierten belegen. 29)

7. Die Filmversion "Eyes Wide Shut"


28 Jahre lang plant Stanley Kubrick Schnitzlers "Traumnovelle" zu verfilmen. Als er am 7. März 1999, kurz vor Premiere des Films unerwartet stirbt, konzentrieren sich die Medien weltweit auf den Film. 30) Schnitzler selbst versucht sich schon im Dezember 1930 an der Ausarbeitung eines Filmentwurfs zu seiner "Traumnovelle". Die größte Veränderung der Novelle lag darin, dass er der eigentlichen Handlung den Besuch auf dem Maskenball vorschiebt, der in der "Traumnovelle" nur in Form einer Rückblende vorkommt. Kubrick geht bei der Verfilmung von "Eyes Wide Shut" sehr ähnlich vor. 31)

Als Leitmotiv in Kubricks Film kann das wiederholte Aufsuchen der diversen Örtlichkeiten des Protagonisten Bills (= Friedolin) im Verlauf der kurzen Zeitspanne der Handlung gesehen werden. Dem Prinzip der variierten Wiederholung verdankt "Eyes Wide Shut" seine formale Wirkung. Kubrick wandelt die Figuren- und Rauminszenierung und die sich daraus abzuleitenden, atmosphärischen Stimmungen ab, welche so Rückschlüsse auf die jeweilige emotionale Verfassung Bills zulassen. 32)

7.1 Traum im Film


Besonders schwierig macht eine filmische Umsetzung der "Traumnovelle" die Tatsache, dass ihre Wirkung ausschlaggebend von der Erzählperspektive ist. Damit verbunden ist ein Durchbrechen der Barriere zwischen objektiver Realität und subjektiver Wahrnehmung. Denkbar wäre demnach auch in einer Verfilmung Fridolins Gedanken in szenischen Bildern darzustellen und diese so mit dem realen Geschehen zu verflechten, dass beide Welten nicht mehr eindeutig voneinander zu unterscheiden sind. 33)

Eine besondere Herausforderung stellt sich für Kubrick darin, eine filmische Äquivalenz für die Wiedergabe der Traumwahrnehmung zu finden. Ein Traum ist immer an eine individuelle Perspektive gebunden, kann demnach immer nur subjektiv beurteilt werden. Durch eine subjektive Perspektive wird allerdings nur ein bestimmter Ausschnitt der Umgebung bewusst wahrgenommen. In der erzählenden Literatur muss dieser fokussierende Blick imitiert werden. Alles was der Autor zu Papier bringt, kann sich der Leser bewusst machen - er gibt uns möglicherweise Auskunft über die Kleidung einer Person, der Körperbau bleibt aber unbeachtet. Der Leser ist immer auf die Erzählperspektive des Autors angewiesen. Im Fall des Abbildmediums Film ist eine absolute Subjektivität noch schwieriger umsetzbar. Der Zuschauer nimmt zunächst alles Dargestellte als real existent wahr. Will man nun Träume oder Phantasien kennzeichnen, müssen sie von dem übrigen Film durch eine abweichende Gestaltungsweise oder durch Übergänge abgehoben werden. Die dabei für gewöhnlich entstehenden Filme im Film sind aber von einem individuellen Traumerlebnis weit entfernt. 34)

8. Unterschiede zwischen Schnitzlers "Traumnovelle" und Kubricks "Eyes Wide Shut"


Auf den ersten Blick orientiert sich "Eyes Wide Shut", was Inhalt, Figurenrepertoire und Struktur betrifft, verhältnismäßig eng an Schnitzlers "Traumnovelle". Bei genauem Hinse-hen fallen allerdings einige Änderungen im Detail sowie Streichungen auf, die unter Um-ständen sogar ein Verfehlen des ursprünglichen Sinns bewirken. Im Folgenden sollen die wichtigsten Änderungen aufgeführt werden.

Besonders auffällig ist zunächst die Verlegung des Schauplatzes von Wien um die Jahr-hundertwende in das zeitgenössische New York. Statt in Wien spielt sich in etwa dieselbe Geschichte im New York Ende der Neunziger ab. Hinweise auf eine ungefähre zeitliche Orientierung geben Automarken und Mobiltelefone. Vermutlich soll von Kubrick wie auch zuvor schon von Schnitzler eine Allgemeingültigkeit der Themen Ehe, Liebe, Sex, Eifersucht, Vertrauen, Lüge und Schuld verdeutlicht werden. Deshalb ist Vorsicht geboten bei Kritik, die auf die Glaubwürdigkeit des Films in Bezug auf dessen Beziehung zu unserer Realität abzielt. Damit ist beispielsweise die Frage gemeint, ob ein Mann heute ernsthaft so entsetzt auf die sexuellen Phantasien seiner Frau reagiert wie Bill. Der Film erhebt lediglich den Anspruch eine zeitgenössische Adaption zu sein.

Eine weitere beträchtliche Veränderung nimmt Kubrick vor, indem er die Handlung von der Faschingszeit in die Vorweihnachtszeit verlagert. Das Motiv der Maskierung, das es erlaubt den wahren Charakter zu verbergen, spielt in der "Traumnovelle" eine zentrale Rolle. Die Maske ermöglicht eine andere Existenz. In der Faschingszeit ist es einer ganzen Gesellschaft möglich für kurze Zeit dem Alltagsleben zu entkommen und Rollen zu wechseln. Kubrick dagegen wählt für seinen Schauplatz die Vorweihnachtszeit, was besonders durch auffälligen Lichterschmuck und Weihnachtsbäume in nahezu jeder Szene deutlich wird. Er versucht den Kontrast zwischen der eigentlichen Bedeutung Weihnachtens und der heute oft vorherrschenden Reduzierung auf Äußerlichkeiten, aber auch die Sehnsucht des Menschen nach Geborgenheit und Liebe, darzustellen. 35)

Auch bei der Darstellung von Alices bzw. Albertines Traum wurde durch Kubrick eine gravierende Veränderung vorgenommen. Er wurde stark gekürzt aber bewusst nicht filmisch dargestellt, um den Zuschauer den Traum aus Bills Perspektive, also aus der eines Zuhörers, erleben zu lassen. Zudem sind besonders die Reaktionen von Alice und ihre Verarbeitung des Traums ausschlaggebend. 36)

In der "Traumnovelle" lernt der Leser durch Fridolin die personale Erzählperspektive kennen. Damit verbunden ist auch der Rückblick zu Beginn der eigentlichen Handlung, in der sich Albertine und Fridolin gegenseitig von den Erlebnissen der vergangenen Nacht berichten. Kubrick geht in "Eyes Wide Shut" dagegen von Beginn an chronologisch vor. Die Erlebnisse des Vorabends der beiden Protagonisten Bill und Alice werden von ihm in Bilder umgesetzt und der eigentlichen Handlung vorgeschaltet. Dies ist notwendig, da der Zuschauer eines Films möglichst schnell auf den Wissensstand, den die Figuren der Handlung haben, gebracht werden muss. 37)

8.1 Neue Figur: Ziegler


Die dramaturgische Konstruktion der "Traumnovelle eignet sich nur bedingt für eine filmische Umsetzung. Das Medium Film verlangt dem Zuschauer über einen langen Zeitraum ungeteilte Aufmerksamkeit ab. So sind starke Konflikte, Probleme die es zu lösen gilt oder interessante Charaktere, deren einziger Daseinszweck darin besteht, die einzelnen Handlungsstränge miteinander zu verknüpfen und die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu rechtfertigen, erforderlich.

Eine solche Figur ist Victor Ziegler. Er steht stellvertretend für die leichtlebige Moral der besseren Gesellschaft, die rein auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist. In dieser Gesellschaft fühlen sich Bill und Alice wie Außenseiter. Ihr beschauliches Familienleben steht im krassen Gegensatz zu dieser von Trieben und Begierden gesteuerten Welt.

Allerdings sorgt Victor Ziegler in "Eyes Wide Shut" dafür, dass sich Bills verwirrende Erlebnisse nach und nach aufklären. Ganz im Gegensatz dazu wird Fridolin in der "Traumnovelle" über die Zusammenhänge und die Vorkommnisse der Nacht vollkommen im Unklaren gelassen. Die Szene der "Aufklärung" in "Eyes Wide Shut" wirkt wie eine Konfrontation zwischen Ziegler und Bill, aus der Bill eindeutig als Unterleger hervorgeht. Der rote Billardtisch symbolisiert, dass Ziegler mit Bill spielt und einer weiteren Manipulation nicht abgeneigt ist. Bill bekommt in dieser Szene aber eine Antwort auf seine wohl wichtigste Frage: Ob die Tote aus dem Zeitungsartikel, die aus der Leichenkammer, und seine mysteriöse "Warnerin" übereinstimmen. Ziegler bejaht dies. In der "Traumnovelle" bleibt diese Frage bis zum Ende unbeantwortet. Für Fridolin ist eine Beantwortung allerdings auch zweitrangig, da er seine Frau an die Stelle des Begehrens setzt.

Ziegler ist neben Mandy eine der beiden Figuren, die für eine innere Verknüpfung der sonst nur lose verbundenen thematischen Beziehungen, sorgen. 38)

Auf diese Weise begibt sich der Film auf eine konkretere Ebene als die Novelle. Dadurch, dass Bill die Unbekannte im Leichenschauhaus als Mandy identifiziert, die er bei Zieglers Party gerettet hat, gibt "Eyes Wide Shut" das Spiel mit Traum und Wirklichkeit auf. 39)

Die Einführung der Figur Victor Zieglers durch Kubrick gestaltet die Handlung zum einen anschaulicher und zum anderen wird so die soziale Höherstellung von Bill und Alice her-vorgehoben. Er personifiziert den Gegner Bills. In der "Traumnovelle" dagegen sind die Gegenspieler Fridolins kaum greifbar. 40)

8.2 Weihnachtsparty und Maskenball


Sowohl für Alice als auch für Bill scheint es unüblich zu sein, sich in den gesellschaftlichen Kreisen Victor Zieglers zu bewegen. Auf den Zuschauer des Films wirkt es, als ob sie sich wie Fremdkörper in einer ihnen unbekannten Welt fühlen. Im Film wird die Rückblende vom Beginn der "Traumnovelle", im Verhältnis zu anderen Szenen, stark ausgeschmückt.

Besonders wichtig schien Arthur Schnitzler das Motiv der Fremdheit, das von ihm insbesondere in der Szene, in der Fridolin die geheime Gesellschaft besucht, hervorgehoben wird. Hervorzuheben ist, dass Kubrick bei der Inszenierung des Films auf die Komponente der Fremdheit in Verbindung mit den Begebenheiten in der geheimen Gesellschaft verzichtet. Während in den entsprechenden Szenen in "Eyes Wide Shut" weit über fünfzig Personen vertreten sind, spricht Schnitzler gerade von "sechzehn bis zwanzig Personen" (S. 49). Wobei hier nicht von einer Inszenierung von Seiten Stanley Kubricks gesprochen werden kann, sondern vielmehr von einer Inszenierung durch die geheime Gesellschaft selbst. Bei Schnitzler verlaufen die entsprechenden Szenen noch ungeordneter und chaotischer, womit er sicher auch Fridolins eigene Desorientierung und Verwirrung zum Ausdruck bringen will ( "und die vorher so edle Frauenstimme hatte sich in einem letzten grellen, wollüstigen Aufschrei gleichsam durch die Decke davongeschwungen in die Unendlichkeit. Türen rechts und links hatten sich aufgetan" 41)

8.3. Gesamtwirkung


In der Regel vermittelt ein Film eine wesentlich höhere Dichte an Information, als ein geschriebener Text. Der Autor eines Buchs gibt nur die Bestandteile einer Geschichte preis, die von ihm als wichtig erachtet werden. Die nun fehlende Information muss vom Leser durch eigene Vorstellungen ergänzt werden. 42)

"Eyes Wide Shut" wird vor allem von der künstlerischen Persönlichkeit Stanley Kubricks geprägt. Beispielsweise wählt er für die resümierenden Schlussfolgerungen am Ende der "Traumnovelle" eine völlig neue Umgebung. Nicht in der ehelichen Wohnung, sondern während eines Weihnachtbummels findet die Aussprache zwischen Bill und Alice statt. Sie zielt auf eine Weiterführung der Beziehung unter neu gewonnenem Vertrauen ab. 43)

Ebenso wie in Schnitzlers "Traumnovelle" folgt auch in "Eyes Wide Shut" auf die Ent-fremdung zwischen den Ehepartnern ein neu gewonnenes Vertrauen. Fraglich ist allerdings, inwieweit diese Botschaft von Stanley Kubrick tatsächlich ernst gemeint ist. Es ist durch-aus möglich, dass sich hinter der Darstellung der neu gewonnenen Harmonie eine kritische Anspielung auf den "American Way of Life" verbirgt. Ein Indiz hierfür stellen auch die extrem überladene Innendekoration und die in nahezu allen Räumen zu findenden Weih-nachtsbäume dar.

Grundsätzlich übernimmt Kubrick die wesentlichen Aussagen, die auch Schnitzler durch seine Novelle zu vermitteln versucht. Allerdings hat er wesentliche äußerliche Merkmale, wie beispielsweise die Verlagerung des Schauplatzes, der Vorlage verändert. Hiermit scheint er die Aktualität der Thematik betonen zu wollen. 44)

Abschließend kann festgehalten werden, dass es sich bei "Eyes Wide Shut" keineswegs, wie von Kritikern oft beanstandet, um einen Softporno handelt. Sowohl Kubrick als auch Schnitzler bringen dem Zuschauer bzw. dem Leser die Themen Einsamkeit, Treue, Eifersucht und unausgesprochene Fantasien in der Ehe näher. Sicher haben sich die Beziehungen zwischen Mann und Frau seit Schnitzlers Zeit einem Wandel unterzogen, Schwierigkeiten und Vielfältigkeit sind aber seitdem nicht weniger geworden. 45)

9 Resümee


Das vorliegende Resümee möchte noch einmal die in der Einleitung aufgeworfene Fragestellung der Text- (Kubricks "Eyes wide shut") Kontext- (Schnitzlers "Traumnovelle") Analyse anhand wesentlicher inhaltlicher (Struktur-) Merkmale reflektieren und zumindest in Ansätzen beantworten.

Einsamkeit in der Ehe und Kommunikationsunfähigkeit zwischen Mann und Frau gehören zu den Grundthemen in Schnitzlers Literatur. Auch die "Traumnovelle" wird hiervon geprägt. Die Ehekrise Fridolins und Albertines stellt die Diskrepanz zwischen Ideal und Kompromiss (Einsamkeit und Entfremdung eingeschlossen) dar. Beide sind nicht in der Lage ihre unerfüllten Wünsche auszuleben. Albertine geht ihren Bedürfnissen in ihren Träumen nach und Fridolin bringt nicht die Stärke auf, seine Handlungen zu Ende zu führen. 46)

Im Verlauf der Handlung werden die Protagonisten mit Problemen konfrontiert, die in ihrem Inneren selbst zu suchen sind. Sie werden mit Seiten ihrer Seele konfrontiert, die sie bis dahin noch nicht kannten. Das Besondere an der "Traumnovelle" machen aber auch die harten Kontraste von Hell und Dunkel aus, die Fridolins Unsicherheit und Verwirrung noch verstärken, indem sie seine Einbildungskraft anregen.

Wie Schnitzler die diffusen Sehnsüchte des Ehepaars und Fridolins Schwanken zwischen Traum und Wirklichkeit erzähltechnisch gestaltet und für den Leser sowohl emotional als auch atmosphärisch verständlich gestaltet, machen außerdem den literarischen Wert der "Traumnovelle" aus. 47)

Stanley Kubrick: Eyes Wide Shut

Literaturverzeichnis


Primärliteratur


Schnitzler, Arthur (1925): Traumnovelle. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Ver-ag.

Sekundärliteratur


Fliedl, Konstanze (2005): Arthur Schnitzler. Stuttgart: Reclam.

Heizmann, Berthold (2006): Arthur Schnitzler Traumnovelle. Stuttgart. Reclam.

K. Dautel und Zentrale für Unterrichtsmedien (ZUM) (2007): Arthur Schnitzler: Traumnovelle - Begriff, Gattungsgeschichte und -merkmale. Zugriff am: 18.04.2007:

Gattungsgeschichte

Kubrick, Stanley / Raphael, Frederic (1999): Eyes Wide Shut - Das Drehbuch - Aus dem Englischen von Frank Schaff. Frankfurt am Main. Fischer Taschenbuch Verlag. Lan-tin, Rudolf (1958): Traum und Wirklichkeit in der Prosadichtung Arthur Schnitzlers. Köln.

Rohrwasser, Michael (2003): Der Gemeinplatz von Psychoanalyse und Wiener Moderne. Eine Kritik des Einfluß-Modells. In: Fliedl, Konstanze: Arthur Schnitzler im zwanzigsten Jahrhundert. Wien: Picus Verlag, S. 67-90.

Ruschel, Christian (2002): Vom Innen und Außen der Blicke - Aus Arthur Schnitzlers "Traumnovelle" wird Stanley Kubricks "Eyes Wide Shut". Mainz: Johannes Gutenberg-Universität.

Scheible, Hartmut (1976): Arthur Schnitzler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbeck bei Hamburg: Rowolt Taschenbuch Verlag.

Schweizer, Stefan (2008): Anthropologie der Romantik. Körper, Seele und Geist. Gottes-, Welt- und Menschenbilder der wissenschaftlichen Romantik. Paderborn: Schöningh Ver-lag.

Steiner Daviau, Gertraud (2002): Stanley Kubricks "Eyes Wide Shut" - Eine neue Di-mension für Schnitzlers "Traumnovelle". In: Foster, Ian: Arthur Schnitzler: Zeitgenossen-schaften / Contemporaneities. Bern: Peter Lang Verlag.

Thomé, Horst (2003): Die Beobachbarkeit des Psychischen bei Arthur Schnitzler und Sigmund Freud. In: Fliedl, Konstanze: Arthur Schnitzler im zwanzigsten Jahrhundert. Wien: Picus Verlag, S. 51-66.

Worbs, Michael (2003): Der Doppelgänger. Anmerkung zum Glückwunschschreiben Sigmung Freuds anlässlich Arthur Schnitzlers 60. Geburtstag. In: Fliedl, Konstanze: Arthur Schnitzler im zwanzigsten Jahrhundert. Wien: Picus Verlag, S. 38-50.

Fussnoten:


1) 1) Dieses Forschungsdesiderat wird weitgehend durch ein neues Werk der Grundlagenforschung beseitigt. Vgl. Stefan Schweizer (2008).

2) Vgl. Ruschel (2002), S. 19

) 3) Vgl. Fliedl (2005), S. 228

4) Vgl. Ruschel (2002), S. 35

5) Vgl. Fliedl (2005), S. 228ff

6) Vgl. Ruschel (2002), S. 21ff

7) Vgl. Fliedl (2005), S. 228ff

8) Dautel (2007), S. 1

9) Vgl. Ruschel (2002), 20

) 10) Vgl. Heizmann (2006), S. 5

11) Vgl. Worbs (2003), S. 38-50

12) Vgl. Lantin (1958), S. 5

13) Vgl. Ruschel (2002), S. 24

14) Vgl. Lantin (1958), S. 100ff

15) Vgl. Lantin (1958), S. 19

16) Vgl. Ruschel (2002), S. 27

) 17) Vgl. Lantin (1958), S. 25

18) Lantin (1958), S. 20

) 19) Lantin (1958), S.20ff

20) Vgl. Lantin (1958), S. 16

) 21) Vgl. Lantin (1958), S. 100ff

22) Vgl. Lantin (1958), S. 100ff

23) Vgl. Lantin (1958), S. 100ff

24) Vgl. Ruschel (2002), S. S. 21ff

25) Vgl. Lantin (1958), S. 22ff

26) Vgl. Heizmann (2006), S. 99

27) Vgl. Fliedl (2005), S. 229

28) Vgl. Rohrwasser (2003), S. 67-90

30) Vgl. Daviau (2002), S. 399ff

31) Vgl. Ruschel (2002), S. 39ff

32) Vgl. Ruschel (2002), S. 96

33) Vgl. Ruschel. (2002), S. 69

34) Vgl. Ruschel (2002), S. 43ff

35) Vgl. Ruschel (2002), S. 56ff

36) Vgl. Ruschel (2002), S. 60

37) Vgl. Ruschel (2002), S. 50ff

38) Vgl. Ruschel (2002), S. 50ff

39) Vgl. Daviau (2002), S. 403

) 40) Vgl. Daviau (2002), S. 405

) 41) Vgl. Ruschel (2002), S. 126ff

42) Vgl. Ruschel (2002), S. 196

43) Vgl. Ruschel (2002), S. 61

44) Vgl. Daviau (2002), S. 403ff

) 45) Vgl. Daviau (2002), S. 405

46) Vgl. Daviau (2002), S. 394

47) Vgl. Ruschel (2002), S. 27ff


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