Impressionistische Sexualmoral bei Arthur Schnitzler ?


© Stefan Schweizer


1. Aufbau und Strukturierung


Arthur Schnitzler und der Impressionismus bleiben weiterhin Forschungsdesiderate. Aber auch für den kulturell interessierten Leser bieten Schnitzler und seine Epoche vieles Interessantes. Insofern ist es gerechtfertigt, weiterhin zu diesem Thema zu publizieren.

Zuerst erfolgen in diesem Aufsatz allgemeine Überlegungen zur Theorie der Literatur- und Kulturwissenschaft vor dem Hintergrund des Impressionismus und Arthur Schnitzlers sowie eine Schilderung und Darstellung der sozialgeschichtlichen Epochenimplikate des Impressionismus. Daraufhin werden die augenfälligsten künstlerischen Tendenzen dieser Epoche skizziert, d.h., dass die wesentlichsten Epochenmerkmale des Impressionismus skizziert und andiskutiert werden. Danach geht es allgemein um die Inhalte und Darstellungstechniken von Arthur Schnitzlers literarischem Werk. Dem schließt sich eine Gesamtinterpretation des "Reigens" an, inklusive einer Interpretation der 5. Szene.

Vorüberlegungen: Literatur- und Kulturwissenschaft


Der Aufsatz untersucht kursorisch einige zum Wechsel des 20. Jahrhunderts entstandene Dramen des österreichischen Schriftstellers Arthur Schnitzler und fokussiert dabei insbesondere den "Reigen". Dabei interessiert in Tradition der konventionellen Literaturwissenschaft die Interaktion von Form und Inhalt. Neben Gattungsaspekten sind außerdem Fragen der Epochenzugehörigkeit von Belang.

In Schnitzler vereinigt sich zudem exemplarisch der wissenschaftliche mit dem ästhetisch-künstlerischen Strang. Philologische Feinarbeit sollte sich also idealtypischer Weise mit Aspekten der Darstellung von (wissenschaftlichem) Wissen in Literatur verbinden. Besonderes Augenmerk gilt unter dem Aspekt "Wissen und Poesie" dem in den Dramen thematisierten "Zwischenmenschlichen"; beides impliziert Fragen individueller und gesellschaftlicher Sexualität und der Liebe. Nicht zuletzt wird im kulturwissenschaftlichen Sinne das Wien des Fin de Siècle thematisiert.

Es ist schwierig, den österreichischen Schriftsteller Arthur Schnitzler genau einer Epoche zuordnen zu wollen. Meistens spricht dieser Umstand dafür, dass die Interpretamente besonders interessant und analyseträchtig sind, was, dies dürfte die andauernde wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Beschäftigung mit dem österreichischen Schriftsteller zu Genüge belegen, auch auf Schnitzler hundertprozentig zutrifft.

In Arthur Schnitzlers literarischem und non-fiktionalem Werk vereinigen sich der moralisch-wissenschaftliche und ästhetisch-künstlerische Strang exemplarisch. Insofern kann der österreichische Autor als Paradebeispiel für moderne Forschungsanstrengungen im Umkreis der kulturwissenschaftlichen Text-Kontext-Debatte gelten.

Neue Ansätze der Literaturwissenschaft verstehen sich als kulturwissenschaftlich und zugleich historisch orientiert und firmieren unter den Stichworten der anthropologischen Literaturwissenschaft und des Text-Kontext-Ansatzes. Auf die Notwendigkeit einer solchen Vorgehensweise hat jüngst Sandra Pott im Zusammenhang mit Johann Wolfgang Goethes Wanderjahre hingewiesen. Die Wanderjahre gelten demnach Frau Pott als Wissenschaftsroman, in welchem Medizin und Literatur gleichermaßen thematisiert werden. Innerhalb der hier vorliegenden Aufgabenstellung gibt es eine besondere Form der Kontextanalyse. Es auch hier trotz der gebotenen Kürze ansatzweise untersucht, welche vertexteten, wissenschaftlichen Kontexte Schnitzlers Werk beeinflusst haben könnten.

Diese Vorgehensweise empfiehlt sich beispielsweise ebenso bei der Analyse von Texten der Romantik. Dort gilt es dann beispielsweise diejenigen Kontexte zu identifizieren, welche z.B. E.T.A. Hoffmann, aber auch andere wichtige Autoren der Romantik, als Beispiele seien nur Joseph von Eichendorff, Clemens Brentano und Achim von Armin genannt, in ihrem Produzieren der literarischen Texte beeinflusst haben. Bisher scheinen diese vertexteten und in unserem Falle wissenschaftlichen Kontexte nicht genügend gewürdigt und in die Analyse einbezogen geworden zu sein. Aus diesen Gründen sollten bei der Romantik große Teile der romantischen Literatur beeinflussenden Kontexte, welche mit dem Schlagwort der Anthropologie der Romantik bzw. romantischen Anthropologie umschrieben sind, rekonstruiert und analysiert werden.

Eine Annäherung von Literaturgeschichte und Wissenschaftsgeschichte, Poesie und Wissen dürfte also im heutigen literaturwissenschaftlichen Betrieb selbstverständlich sein. Kulturwissenschaftlich inspirierte Literaturwissenschaft könnte dann eine der Philologie verpflichtete Literaturwissenschaft bedeuten, die methodisch kontrolliert auf externe Wissenskontexte greift und eine Erweiterung des traditionellen Textkorpus anstrebt. Damit ist ein historischer und quellenorientierter Ansatz erforderlich, welcher eine Schließung der zeitgenössischen Sinnlücken als Frage-Antwort-Rekonstruktion vornimmt. Der Ort dieses Ansatzes ist das Archiv, die Vorgehensweise hermeneutisch. Die Hauptarbeit besteht demnach im literaturwissenschaftlichen Quellenstudium. Das dergestalt skizzierte Ziel ist folglich nicht die große Erzählung, sondern eine wissenschaftstheoretischen Anforderungen entsprechende und wissenschaftshistorische Konstellationen gebührend berücksichtigende historisch-kontextuelle Rekonstruktion mittlerer Reichweite.

Es bieten sich - es wurde bereits oben darauf hingewiesen - viele literaturwissenschaftliche Zugänge zum Werk des österreichischen Autors Arthur Schnitzlers an. Von besonderem Interesse sind so einige zum Wechsel des 20. Jahrhunderts entstandene Dramen. Dabei ist klassischer Weise die Interaktion von Form und Inhalt von Bedeutung. Neben Gattungsaspekten sind Fragen der Epochenzugehörigkeit von Belang. In Schnitzler vereinigt sich nämlich geradezu exemplarisch der wissenschaftliche mit dem ästhetisch-künstlerischen Strang. Eine umfassende literaturwissenschaftliche Analyse mit hoher Reichweite sollte also philologische Feinarbeit mit Aspekten der Darstellung von (wissenschaftlichem) Wissen in Literatur verbinden. Besonderes Augenmerk gilt unter dem Aspekt "Wissen und Poesie" dem in den Dramen thematisierten "Zwischenmenschlichen"; beides impliziert Fragen individueller und gesellschaftlicher Sexualität und der Liebe. Dieser Aufsatz beschreitet aber auch einen traditionellen, nicht unbedingt minder ertragreichen Weg. Sexualmedizinische Diskurse und der gemäß Horst Thomé für Schnitzler bedeutsame Krafft-Ebbing werden dabei aber ebenso in die Analyse einbezogen.

Sozialgeschichtliche Implikate des Impressionismus


Allgemein entstammt die sozialgeschichtliche Analyse der kritisch-dialektischen Forschungsrichtung. Sie bildet eine abgeschwächte Modifizierung des der Marxschen Klassenkampfanalyse. Allerdings scheint eine sozialgeschichtliche Analyse dann viel versprechend, wenn sie den kritisch-dialektischen Überbau vernachlässigt und sich Theorie geleitet, aber nicht ideologisch befangen, mit der sozio-politisch historischen Analyse von Gesellschaften befasst.

Die im Realismus zu ihrer vollen Blüte gelangende bürgerliche Kultur zerfällt im Impressionismus. Dies hängt vor allem mit dem Untergang des Liberalismus im Wien des fin de siècle zusammen.

Dabei gibt es zwei vorherrschende Traditionsstränge zu identifizieren. Zum einen die Aufrechterhaltung des habsburgischen Mythos, wobei die Österreichische Krone als legitime Erbin des Römischen Reiches (genauer: heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen) angesehen wird. Merkmale dieser Traditionsrichtung sind Übernationalität und die Befreiung der Stände und des Volkes. Zum anderen ist die österreichische Tradition des Liberalismus zu nennen. Diese versteht sich als heroisches Zeitalter im Kampf gegen den barocken Absolutismus und Adel (auch Heilige Allianz).

Der Liberalismus erfährt 1848 eine entscheidende Niederlage. Ab 1866 wird der Liberalismus durch die Börse, das Parlament, das Rathaus, die Oper und Universität repräsentiert. Es herrscht ein aufgeklärtes Beamtentum und Bürger und Gewerbe besitzen absolute Niederlassungsfreiheit. Die geschwächte Krone war gezwungen mit dem Liberalismus ein Bündnis einzugehen, auf der anderen Seite wurde aber auch ein Bündnis mit Deutschland eingegangen. Dabei kam der "Bildungskulturimperialismus" rassistischer und völkischer Prägung zum Vorschein. Es ging um die Durchsetzung der deutschen Kultur gegenüber den slawischen Völkern. Der Liberalismus scheiterte zwar nicht zuletzt an den eher nationalistisch orientierten Kräften, aber seine Institutionen bleiben, was zum Neoabsolutismus mit instabilen parlamentarischen Verhältnissen führt.

Die skizzierte Linie führt zu zwei Strömungen: einmal dem christlichen, sozialistischen, deutsch-ausgerichteten, katholischen, kaisertreuen und antisemitischen Kleinbürgertum als eigentlicher Volksbewegung, zum anderen zur jüdisch-säkularen Aufklärung mit Zweifeln an politischer Wirkungsmächtigkeit sowie dem Erfolg im gesellschaftlich-sozialen Leben. Da die Vätergeneration im Liberalismus sozusagen einen Übermachtsstatus besaß, weil sie schon alles erreicht hatten, wandten sich die Söhne von dem ökonomisch-liberalen Liberalismusdenken ab. Dies trifft auch z.T. auf das Verhältnis von Schnitzler zu seinem Vater zu. Des weiteren herrschte innerhalb der Söhne-Generation des Liberalismus ein Kampf gegen die rein rationale Komponente des Liberalismus, was sich in den Themengebieten der Sexualität und des Rausches handfest manifestiert. Eine Möglichkeit die politisch und sozial abgängigen Aufstiegs- und Wirkungsmöglichkeiten zu kompensieren bot die Kunst. Nicht zuletzt deshalb erfolgte die Hinwendung zum kulturell-schöpferischen Komplex, so auch bei Arthur Schnitzler.

In Österreich herrschte im Gegensatz zu vielen sonstigen Teilen der europäischen Welt keine hastige Geschäftigkeit, aber es bestand das Problem der Vielvölkermonarchie und Sprachenproblem. Es gab einen begrenzten Imperialismus hinsichtlich der Balkanstaaten (Bosnien, Herzigowina und Serbien), aber im Vergleich mit anderen europäischen Nationen nahm sich das Ganze eher bescheiden aus.

Die "Lösung" der sozialen Frage verläuft in Österreich ähnlich wie in Deutschland. Es gab Sozialistengesetze, Repression und Verfolgung. In Deutschland und Österreich herrschte zwar staatsbürgerliche Unterdrückung, diese führte nicht zu umfassenden radikal-revolutionären Bestrebungen, weil sie wenigstens teildemokratisch war, denn die Pressefreiheit etc. wurde z.T. garantiert. Wien war durch den Vielvölkerstaat verhältnismäßig kosmopolitan - zumindest verglichen mit Deutschland.

In Österreich herrschte eine enge Verbindung von Industrie und Weltgeltung, wobei die soziale Orientierung der Einzelnen damit nicht kongruierte. Insbesondere die gebildete Mittelschicht war an vorindustriellen, spätromantischen Vorstellungen haften geblieben.

In Deutschland fand durch Kaiser Wilhelm ein spätes Verschreiben zum Imperialismus statt. Es ging um eine hastige Sicherung von Einflusszonen, dem berühmten Platz an der Sonne. Allerdings waren die meisten Kolonien bereits vergeben.

Auf europäischem Level herrschte ein ständiges gegenseitiges Bedrohen sowie Nationalchauvinismus und Intoleranz. Eine vielfache Erhöhung der industriellen Produktion und damit das Entstehen der sozialen Fragen und Entstehung des Massenindustrieproletariats stellte Deutschland vor neue sozio-politische Probleme. Durch die Legalisierung der SPD verliert die revolutionäre Bewegung an Zugkraft.

Impressionismus


Der Impressionismus besitzt keine einheitliche Programmatik, sondern stellt vielmehr ein Konglomerat verschiedener Ausprägungen unter einem begrifflichen Dach dar. Der Ausgangspunkt des Impressionismus ist einmal die Abkehr vom Naturalismus (Thematisierung der sozialen Frage) und die Abkehr vom Politischen und der Rückzug auf Individualismus und Subjektivismus als Folge der Ablehnung der von Kapitalismus und Imperialismus bestimmten Realität. Im Impressionismus findet sich auch das Ideal der gegennationalistischen Strömungen.

Im Impressionismus herrscht das Stilideal der Detailtreue vor. Es gibt eine Tendenz zu Pointe und Aphorismus. Die naturalistischen Stilmittel gehen zum Sensualistischen über. Der sinnlich-subjektive Eindruck wird in allen Nuancen widergegeben. Es findet eine Auflösung der dinglichen Einheit, d.h. eine Entmaterialisierung statt. Der Verzicht auf die Darstellung und die Deutung der Realität als eines komplexen und einheitlichen Gefüges. Das rationale Moment der Sprache wird diskreditiert gegenüber ihrer Suggestivkraft. Es ist eine Korrespondenz im formalen Bereich mit der Vernachlässigung der konstruktiven oder kompositorischen Elemente der dichterischen Gestaltung zugunsten einer Aneinanderreihung von Bildern festzustellen. Stilistisch gab es eine Vorliebe für die Merkmale Parataxe, erlebte Rede, Lautmalerei, Synästhesie und freie Rhythmen.

Der Inhalt im Impressionismus zeigt Unbeschwertheit, Heiterkeit und farbig-sinnliche Atmosphäre, wobei diese häufig mit dem Stichwort der Frivolität bezeichnet werden kann. Die äußere Handlung tritt zurück und die ethisch-praktische Wertung und Zielsetzung sind gering geschätzt. Von sozialen Problemen findet in deutlicher Abgrenzung zum Naturalismus eine starke Distanzierung vor.

Im Impressionismus gibt es eine Bevorzugung kurzer und konzentrierter Dichtungstypen. Die Dichtung der Jahrhundertwende besitzt wenig Beziehungspunkte zur gesellschaftlichen Wirklichkeit der Zeit: Darstellung der Reichen, aber Vorherrschen großer sozialer Probleme. Zwischen dem Künstler und Publikum findet eine Entfremdung statt.

Schnitzler und sein Werk


Arthur Schnitzler (1862-1931) rang mit dem väterlichem Erbe sittlicher Werte und der Anerkennung des Instinktlebens. Das gesellschaftliche Chaos sich bekämpfender Wertvorstellungen kombinierte sich mit dem Pendant der anthropologischen Konstante eines Wertvakuums.

Bei Schnitzler ist der Eros unter anderem als Leben bedrohender Abgrund skizziert, was in einer Art der Todeserotik und Psychologie der Todesnähe kulminiert. Es finden sich täuschend leichtfertige Szenen: Menschen überbieten sich Finesse, Schlagfertigkeit und Eitelkeiten und sie überdecken tief verborgene Regungen. Bei all dem herrscht aber die Sehnsucht nach Beständigkeit und festem emotionalen Halt. So ist Schnitzlers Charakteren die Sehnsucht nach etwas Anderem immanent, aber gleichzeitig existiert eine emotionale Lähmung und Unfähigkeit zu tieferen Gefühlen.

Der Autor deutet tief verborgene seelische Erlebnisse, welche oft weit entfernt vom äußeren Handlungsgeschehen sind, an und stützt sich dabei auf kontextuelles psychologisch-sexualmedizinisches Wissen seiner Zeit, z.B. von Krafft-Ebbing.

So konstatieren Schnitzlers Werke ein schnelles Vergehen der Liebe, obwohl Eifersucht und Trauer bleiben. Es entsteht eine resignative Haltung, die aber keine Moral predigt. Das Personal aus höheren Gesellschaftsschichten kann aus vorgezeichneten Bahnen nicht ausbrechen. Die Dialogführung ist neuartig, es herrscht eine differenzierte Charakterisierung und Lebendigkeit der Gestalten, wobei die große gesellschaftliche Breite erfasst wird. Immer wieder tauchen sozialkritischer Elemente im Werk Schnitzlers (Kritik an den Duellen) auf, ohne dass diese bestimmend werden. Allgemein gilt, dass die höheren Stände gewissenloser als die unteren sind. Schnitzler ist ein Meister der hintergründigen Thematik. Die Analyse der Gesellschaft ergibt, dass eine Bindung an sittliche Normen fehlt und die gesellschaftlichen Vertreter narzisstisch die eigenen psychischen Erlebnisse zum Inhalt ihres Denkens machen. Schnitzler postuliert keine offensichtliche Moralität, sondern er fordert eine Auseinandersetzung mit ihr.

Eine Analyse der Dramentechnik ergibt folgende Befunde. Aufgrund der Dissoziation, des Zerfalls und der Diskontinuität des Ichs (Unfähigkeit zur Objektivation, Abwendung der christlich-idealistischen Metaphysik und die Hinwendung zum Empirismus) wird das traditionelle Dramenschema modifiziert. Das Zusammenhängende, psychisch-kausale, eines aus dem anderen Entwickelnde fällt hinweg. Dies wird substituiert durch die Reihungstechnik des Einakters bzw. Einakterzyklus (als Darstellung eines Lebens aus Episoden). Diese Technik und Vorgehensweise führt zur Statik in der Entwicklung und zur Disparatheit (Ungleichartigkeit) der die Welt abbildenden Szenen anstatt der Einheit der Handlung.

Der "Reigen"


Der von Schnitzler 1896/97 verfasste Szenenzyklus Reigen hatte einen langen und turbulenten Weg hinter sich, als er 1982 vom Sohn Schnitzlers zur Wiederaufführung freigegeben wurde. Schon dass Schnitzlers Hauptverleger Fischer lange Zeit ablehnte, das Drama in sein Programm aufzunehmen, und es zunächst 1900 nur im Privatdruck unter Freunden Schnitzlers verbreitet wurde, lässt die heftigen Reaktionen ahnen, die die zehn Szenen hervorriefen. Nach der Veröffentlichung im Wiener Verlag 1903 dauerte es noch fast zwei Jahrzehnte, bis der Autor die Uraufführung genehmigte, schon während des Schreibens des Reigens erklärte er das Drama für unaufführbar. Die Uraufführung in Berlin zog Proteste rechtsnationaler Kreise nach sich, die bis zum Prozess führten. In Wien wurde die Aufführung zum Schutz der öffentlichen Sicherheit verboten, da eine Vorstellung organisiert überfallen worden war und nicht nur das Inventar demoliert, sondern auch die Zuschauer verprügelt worden waren. Daraufhin lehnte Schnitzler jede weitere Inszenierungsanfrage von Theatern ab.

Die angesprochene sittliche Empörung richtete sich gegen ein Stück, das keine fortschreitende Handlung auf die Bühne bringt, sondern in zehn Szenen den Liebesakt quer durch alle sozialen Schichten als das allen gemeinsame Triebziel inszeniert. Von jeder Szene zur nächsten wird der eine der beiden Sexualpartner weitergereicht, bis sich der Zyklus über die Frauenfigur der ersten und letzten Szene, die Dirne, schließt. Doppelbödigkeit und Scheinheiligkeit der tradierten bürgerlichen Moral, die in der zentralen fünften Szene vom Ehegatten seiner Frau geradezu lehrbuchartig vorgetragen wird, treten klar zu Tage.

Durch die Einbettung der fünften Szene in das scheinbar immer gleich ablaufende Liebesspiel werden nicht nur die Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft entlarvt, sondern auch die Muster in den Verführungstaktiken. Die einem Partner gegenüber geäußerten Ansichten und Versicherungen von Anstand, Treue oder Zuneigung zeigen sich schon in der nächsten Szene in ganz anderem Licht. Wenn das süße Mädel dem Ehegatten in der sechsten Szene versichert, sie gehe nicht mit anderen Männern ins Chambre séparée, um sich vom Dichter sogar zu sich nach Hause mitnehmen zu lassen, ist sie schon während sie es ausspricht, durch den Aufbau des Reigens widerlegt. Alles dreht sich, eingebettet in den Sexualakt als Motiv ihres Zusammenseins, um die sozialen Beziehungen der einzelnen Personen zueinander, ihr Rollenverhalten oder eben nicht damit konform gehendes Handeln.

Wichtiges Element, um die Personen, ihren sozialen Status und die Art ihrer Beziehung zu charakterisieren, sind die Sprache und Orte der Handlung. Letztere umfassen ein Spektrum von der anonymen Straße bis hin zum ehelichen Schlafzimmer. Aber nicht nur öffentliche und private Räume spielen eine wesentliche Rolle, auch in der Halböffentlichkeit des Chambre séparée und der fremden Halbprivatheit des Gasthofs vor den Toren Wiens treffen sich die Paare. Diese Begegnungsorte geben natürlich dezediert Auskunft über die Beziehungsqualität.

Ebenso interessant ist eine Fokussierung der Sprachebenen der Personen im Umgang miteinander. Naturalistisch die Sprache der verschiedenen sozialen Schichten abzubilden und ein Sozialdrama aus dem Liebesreigen zu machen, war sicher nicht Schnitzlers Anliegen, die Sprachfärbungen der einzelnen Figuren sind weit von empirisch-literarischen Abbildern im Stil à la Gerhart Hauptmann entfernt. Dennoch zeigen sie, gerade in einem Einakterzyklus, der die echte Handlung ins Schweigen des Gedankenstrichs verlagert und allein auf die verbale Umsetzung des Vorher und Nachher sein Augenmerk richtet, wesentlich soziale Zuordnungen und Verhaltensweisen. Auch im Einsatz der Sprache und in den wechselnden Nuancen von Sprachebenen spiegeln sich Beziehungsgefüge zwischen den einzelnen Personen.

Der Gegenstand der Darstellung der 10 Szenen in Schnitzlers Reigen ist die Einleitung, Durchführung und Beendigung sexueller Interaktion, wobei einer der beiden Akteure in der nächsten Szene auf einen anderen Partner trifft. Schnitzlers Reigen stellt insofern eine Auseinandersetzung mit der damals gängigen Sexualwissenschaft dar, hier insbesondere den Werken Kraft-Ebbings. Nach den Erkenntnissen dieser Sexualwissenschaft besteht die sexuelle Norm in der Verbindung von Sexualität und Liebe (Institutionell durch die Ehe abgesichert), was eine besondere Form der (partnerschaftlichen) Kommunikation ermöglicht.

Besonders fokussiert wird werkimmanent (alleine schon durch die kontrapunktische Stellung) die 5. Szene als Darstellung der sexuellen Norm im ehelichen Verbund, wobei zu beachten ist, dass davor die Frau ihren Mann (4. Szene) und danach der Mann seine Frau (6. Szene) betrügt. Von praktiziertem sexuellem (gesellschaftlichem) Normverhalten kann also keineswegs die Rede sein: dies gilt sowohl für die Frauen als auch die Männer und durchzieht alle gesellschaftlichen Schichten. Damit sind also geschlechter- oder gesellschaftsspezifische Differenzierungen hinsichtlich der Praktizierung des Geschlechtstriebs innerhalb gesellschaftlicher Normen nicht auszumachen.

Es werden im "Reigen" also mehr die Gemeinsamkeiten als die Differenzen betont, wobei allerdings die kausale Motivation der unteren Schichten bezüglich des Geschlechtsverkehrs häufig eine materielle Basis besitzt, die sich bei den höheren Schichten eher als Ringen um Macht und Besitzen-können entpuppt. Bis zu diesem Punkt könnte man Schnitzlers "Reigen" als eine Widerlegung der Sexualwissenschaft seiner Zeit dergestalt interpretieren, dass die real existente Triebnatur des Menschen kulturell-wissenschaftlichen Normierungs-, Regelungs- und nicht zuletzt auch Steuerungsversuchen widerspricht.

Durch die im Schauspiel stattfindenden Figurentypisierungen (Soldat, Dirne etc.) wird ersichtlich, dass die Figuren als Modelle (als Realitätskomplexität reduzierend) verstanden werden und diesen Modelle allesamt immanent ist, sexuelle Bedürfnisse zu besitzen und auszuleben, dieses aber keineswegs auf eine Synthese von Liebe und Sexualität und Ehe abzielt. Da niemand in dem Schauspiel explizit den kulturellen Grundlagen des Ehediskurses widerspricht und niemand die rein animalisch verstandene Sexualität verherrlicht, wird deutlich, dass alle die gesellschaftlich-kulturellen Normen entgegen ihrem vordergründigen Selbstverständnis durchbrechen. Das darin implizierte paradoxe Moment besagt, dass die Figuren die Illusion der gesellschaftlich-kulturellen Sexualmoral instrumentalisieren, um ihr wiederum zu entgehen. Diese Paradoxie zeichnet sich für die komischen Momente der Figuren verantwortlich.

Durch den "Reigen" wird die Divergenz von Schein (gesellschaftlich-kulturelle Sexualnorm) und Sein (ständiges Durchbrechen dieser Sexualnormen) thematisiert und (in der Tradition der Aufklärung) an die Vernunft des Publikums appelliert, was die Akteure des Reigens selber allerdings nicht erreicht. Erklärt bzw. verankert wird der Widerspruch zwischen den Taten der Figuren und den gesellschaftlichen Normen auf der Ebene des Halbbewussten.

Nach Schnitzler kann Moral immer nur heilsamer Erkenntnisakt sein, der von den eigenen personalen Dispositionen und Handlungen gesteuert werden kann.

In der 5. Szene herrscht keine gebundene Sprache und kein Reim, was zunächst einmal eine große Realitätsnähe der Sprache suggeriert. Es fällt auf, dass wenig Nebentext da ist und kaum explizite, sondern eher implizite Beschreibung/Charakterisierung stattfindet. Der Mann und seine junge Ehefrau befinden sich in ihrem ehelichen Schlafgemach und führen einen Diskurs über die Ehe und Sexualität. Dies beginnt bei einer Thematisierung des eigenen Eheverhältnisses zueinander und geht weiter zur sexuellen Erfahrungssammlung des männlichen Geschlechts vor der Eheschließung. Dem schließt sich eine Erörterung über die gefallenen Mädchen (Prostituierte; süße Mädels) an, was sowohl materielle als auch sittliche Bedeutungsaspekte besitzt. Der jungen Ehefrau dient dies zur Herstellung eines Bezugs zur eigenen Vergangenheit des Ehemannes und Frage, ob eine verheiratete Frau unter den Geliebten ihres Ehegatten war. Der Ehemann gesteht, ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau gehabt zu haben und verurteilt dies. Das Gespräch nimmt eine Wendung darauf hin, ob Ehefrau in ihrem Bekanntenkreis jemanden kennt, die eine Ehebrecherin ist. Als Rückbezug zum Anfang dient die Thematisierung des Verhältnisses Flitterwochen-normaler Ehe-Alltag.

Im Text finden sich viele Zweideutigkeiten wie ...., Sehnsucht, Wirklich? und konjunktivische Begründungsschieflagen: Hätten wir...; vielleicht ... kommt es ...vor. Der Ehemann benutzt extrem viele Konjunktive, da er sich seiner Begründungszusammenhänge nicht sicher ist und von der Frau etwas Sexuelles erreichen möchte. Die Frau hingegen wartet ab und signalisiert durchaus, dass sie sich (sexuell) vernachlässigt sieht und nur am Ende dreht sich das sprachliche Verhältnis um, denn die Frau fragt im Konjunktiv, dass sie eventuell keine Lust habe und der Mann wischt diese Bedenken indikativisch weg. Insgesamt herrscht eine starke Kontrastierung zwischen dem Realen und Irrealen, was sprachlich durch die Indikativ- und Konjunktiv-Verwendung ihren Ausdruck findet.

Bei der 5. Szene des Reigens ist ein sehr großer (epischer) Erzählanteil des Mannes zu konstatieren, da er über eigene Erfahrungen sinniert und erzählt und dies im Indikativ, da Vergangenheit unumstößlich abgeschlossen ist. Die Frage, das Rätsel und die Leerstelle bestehen hier in der rein thematischen Zweideutigkeit, worin das Geheimnisvolle für Ehemänner liegt und warum ihnen die Ehe denn widerwärtig gemacht wird. Der Kuss auf die Stirne der Frau (Keuschheitskuss) widerspricht der originär sexuellen Intention.

Die vielen Gedankenstriche dienen als Emphase der Thematik bzw. Signalisierung der Reflexionspause, wodurch die Wichtigkeit des nachfolgenden Inhalts betont wird bzw. die Gedankenstriche als Peripetiekennzeichnung. Thematisch dreht es sich um den sittlichen und moralischen Verfall der Geschöpfe der Sünde und dass dies anständigen Ehefrauen widerwärtig sein müsste. Dies spiegelt die vordergründige kulturell-moralische Sexualethik des Bürgertums wider. Auffällig ist, dass dabei keine Rückschlüsse auf die Männer (des Bürgertums) gezogen werden.

Viele durch ... realisierte Ellipsen signalisieren emotionale Erregtheit und keine sonderlich ausgeprägte Ratio, an den Stellen, wo es in Bezug auf die bürgerliche Sexualkultur bezogen peinlich bzw. ambivalent wird. Die Frau instrumentalisiert den Sex, um ihren Mann zum Weitererzählen zu zwingen. Sie deutet ihr zweideutiges Rollenverhalten bzw. den Wunsch danach an (als Frau und/oder Geliebte). Die innere Befindlichkeiten des Mannes werden durch den Nebentext (leicht beunruhigt) gezeigt, als seine (individuelle) bürgerliche Sexualmoral konkret auf ihn bezogen hinterfragt wird.

Der Dialog ist durch viele Fragen und Gegenfragen strukturiert. Die Thematik ist die Frage von Gewissheit und Verdacht. Es finden sich viele Relativierungen bzw. Pauschalierungen sprachlicher Art: vielleicht, irgendeine, es scheint, ich traus keiner zu, teils teils etc. Bei den Dialogpartnern herrscht eine große Unsicherheit über das verhandelte Thema bzw. die Frage nach der Aufrichtigkeit. Dann wird die Passage auch inhaltlich sehr uneindeutig: Warum?-Frage auf sexueller oder moralischer Basis. Die Redepartien der jungen Frau können alle auch so interpretiert werden, dass sie sich auf die vorherige Szene mit dem jungen Herrn beziehen. Der Mann sucht einen passenden Begriff der alleine pejorative Konnotation für das Fremdgehen verheirateter Frauen besitzt und findet diesen aber nicht, da sich "Rausch" als ungeeignet offenbart.

Die Frau übernimmt daraufhin wieder den Fragepart auf die Vergangenheit des Mannes bezogen und dieser gibt alles zu, in den Sentenzen mündend, dass alle diese Frauen jung stürben und dass sie alle Lügnerinnen seien. Es findet sich ein erneuter Bezug auf den Rausch als das Elementare der außerehelichen sexuellen Vereinigung. Die imperativische Aufforderung "O Komm" kann man vor allem auch als sexuelle Zweideutigkeit interpretieren.

Bei den dialogischen Rückerinnerungen an die Hochzeitsnacht und Flitterwochen nach dem Geschlechtsverkehr wird die Eingangsthematik wieder aufgegriffen und als nicht gelöst dargestellt. Die häufig auftretenden Ellipsen signalisieren den unerfüllten Bedarf der Partner, der sich nicht artikulieren und deshalb auch nicht eliminiert werden kann). Die dreimalige Wiederholung von wenn ich/du wieder und des Weiteren der Konjunktiv signalisieren die Unerfüllbarkeit dieser Ehe innerhalb ehelicher Sexualnormen, was sich dann auch sofort in der nächsten Szene zeigt. Die Schlusspointe ist der (typische) Ehemann, der kurz nach dem Sexualakt einschläft.

Schluss


Zuerst erfolgten in diesem Aufsatz allgemeine Überlegungen zur Theorie der Literatur- und Kulturwissenschaft vor dem Hintergrund des Impressionismus und Arthur Schnitzlers sowie eine Schilderung und Darstellung der sozialgeschichtlichen Epochenimplikate des Impressionismus. Daraufhin wurden die augenfälligsten künstlerischen Tendenzen dieser Epoche skizziert. Dabei wurden die wesentlichsten Epochenmerkmale des Impressionismus skizziert und andiskutiert. In einem weiteren Schritt ging es allgemein um die Inhalte und Darstellungstechniken von Arthur Schnitzlers literarischem Werk. Das Ganze kulminierte in einer Gesamtinterpretation des "Reigens" an, wobei insbesondere die 5. Szene en Detail analysiert wurde.

Es dürfte deutlich geworden sein, dass alle im Essay vollzogenen Schritte logisch und folgerichtig aufeinander aufbauen und zu einer gehaltvollen Gesamtinterpretation einzelner Werke Schnitzlers notwendig sind. Dies wird exemplarisch am "Reigen" und hier insbesondere der 5. Szene des "Reigens" gezeigt.

Insofern kann der Aufsatz als ein Plädoyer für eine gehaltvolle Mischung traditioneller Literaturwissenschaft und modernerer Kulturwissenschaft gelesen werden.

Literatur

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