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DICHTUNG UND SYSTEM ALS DICHTUNG


© Ferdinand Schmatz


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Als Dichter über ein oder das System zu sprechen, fällt insofern leicht, als man als Dichter System ist.
Schon schwieriger ist es, über den Diskurs der Systeme zu sprechen, weil das - unter der Voraussetzung, daß man selber System ist - einen Beobachter verlangt, der aus sich selber heraussteigt, um sein eigenes System mit einem anderen zu vergleichen.

In meinem Fall Kunst mit Sprache, was noch schwieriger ist, weil wir uns vorher darüber einigen müßten, was wir mit Sprache und was wir mit Kunst meinen.
Spricht man doch von einer Sprache der Kunst oder gar von Kunst aus Sprache und so fort. So kann ich enger gesehen, keinen Unterschied erkennen, der die Voraussetzung für einen Diskurs wäre.
Werde ich allerdings unschärfer, was heißt, daß ich einen Aspekt aus vielen, was Sprache sein könnte, herausgreife, so kann ich als Dichter sehrwohl festlegen, daß es einen Unterschied zwischen den Systemen der Kunst und Dichtung und jenen der Sprache gibt - vor allem von jener Sprache, die wie eine Münze von Hand zu Hand geht, und die wir im alltäglichen Gebrauch verwenden, so wie auch von jener im wissenschaftlichen, religiösen, politischen und wirtschaftlichen Bereich.

Damit hätte ich jene Systeme angeschnitten, die dem System Kunst, in das ich nun einmal die Dichtung mithineinsetze, gegenüberstehen oder besser, in der Sprache der Systemtheoretiker, falls diese besser sein sollte, die sich voneinander differenzieren lassen, wo eine gegenseitige Herausdifferenzierung möglich ist.

Die Kunst allerdings müßte ich in ein System aus Subsystemen einteilen, die sich in ihren Sprachen zum Beispiel voneinander unterscheiden lassen, aber, und das darf dabei nicht vergessen werden, als Ganzes denn doch ein System bilden, das den genannten anderen gegenübersteht.

Wie also den Diskurs mit den anderen Systemen analysieren, wenn ich dabei aus meinem eigenen hinaussteigen müßte, gleichsam meine Haut abstreifen, ein anderer, künstlicher, vielleicht sogar falscher sein, der das, was er tut von einem Beobachterstandpunkt aus beobachtet, den er eigentlich gar nicht einnehmen dürfte, wenn er sich nicht dem Verdacht des geteilten Selbst aussetzen möchte,- und wer will das schon?

Also muß ich mich den Subsystemen zuwenden, und versuchen in diesen oder unter diesen, Unterschiede oder Entsprechungen zu suchen oder zu bilden?
Bilden deshalb, weil ich als System sage: Wir finden, indem wir erfinden und bilden immer, indem wir konstruieren.

So?!:
Wir konstruieren immer - aber wie diese These belegen?

Am besten durch eine Praxis, die der Vortragende, also ich, selber repräsentiert.
Und da ich als dieser zwar System bin, - (vielleicht weniger System habe, als wissenschaftliche oder wirtschaftliche oder politische Referenten) -, aber mit dem Begriff der Repräsentation wenig anzufangen weiß oder wissen will, schlage ich vor, gleich von Präsentation zu sprechen, also von einem dynamischen Vorzeigen oder Hervorbringen dessen, was sich nicht sofort in Repräsentation festmachen läßt.

(Diese Art von Darbietung ist zugleich Spiegel meiner Arbeitsweise und somit greifbare Demonstration des oder der Verhältnisse von System im üblichen Sinn und im dichterischen Sinn - als sich entwickelnde oder sich herausschälende Dichtung oder Kunst.)

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Rede und Rhythmus, Schrift und Form.

Werte Zuhörer (werte Leser),

dies ist eine Rede, die niedergeschrieben wurde. Ich lese die Schrift, die Druck geworden ist, ab, spreche sie nach, rede und vergegenwärtige damit das Gedachte und Niedergeschriebene. Dabei folge ich den Zeilen, die in keiner besonders auffälligen Anordnung auf dem Blatt Papier stehen, mein Kopf wandert mit den Augen von links nach rechts, ich lese Wort für Wort, verharre aber nicht bei diesem oder jenen, sondern bin auf den ganzen Satz aus, und in der Abfolge der Buchstaben- und Wörterflut auf den ganzen Text. Ich will etwas ausdrücken, das Sinn hat, der etwas erklärt und Ihnen, die Sie zuhören, diese Erklärung oder Darstellung ohne besondere Auffälligkeiten des Vortrags verstehbar machen will. Auch Sie werden, mit Ihrem Blick auf meinen Lippen verharrend, einen anderen Körperteil von mir fixierend, oder in die Luft, zu Boden oder irgendwo in den Raum blickend, nicht allzusehr auf die Bedeutung der einzelnen Wörter achten, sondern vielmehr auf ihren Sinn, der sich erst durch deren Abfolge zum Satz hin und weiter zum Satzverband ergibt.
Ich unterstelle Ihnen, daß Sie meinen Satz oder meine Sätze aus Wörtern, wie sie hier niedergeschrieben worden sind, vor sich sehen und gleichsam mit mir, Wort für Wort, Zeile für Zeile ihr Verstehen organisieren, indem sie deren Bedeutungen und die von mir damit getätigten Aussagen verknüpfen und zu einem sinnhaltigen Komplex deuten. Ich vermute, es ist egal, ob Sie diese Aussagen lesen oder hören, der sich einstellende Sinn und sein Verstehen wäre und ist annähernd - ob jetzt gelesen oder gehört - derselbe.

Worauf ich hinaus will, Sie ahnen es: Es ist relativ belanglos für diese Art des geschriebenen Textes und seiner durch die Form kaum beeinflußten Intention, ob sie gelesen oder gehört wird, um seinen Sinngehalt zu verstehen. Es versteht sich aber von selbst, daß einige Absätze oder Zeilenanfänge die Gedankengänge gliedern helfen könnten, daß das eine oder andere Wort durch ein anderes ersetzt werden könnte, um Wiederholungen zu vermeiden etc., um stilistische Feinheiten zu setzen oder inhaltliche Korrekturen vorzunehmen.

Hier allerdings muß ich als Dichter diese alte Spaltung in Inhalt und Form abbrechen, denn ich bemerke, daß ich bereits in ein trunkenes Meer der Klang- und Bedeutungswogen eingetaucht bin, und dementsprechend mit allen mir zu Verfügung stehenden Gedankenarmen rudere, um nach verstehensträchtiger Sinnluft zu schnappen.

Übrigens: Haben Sie diesen Satz ähnlich verstanden wie die vorangehenden? Oder bereitete Ihnen die Bildhaftigkeit der Vergleiche (Metaphern möchte ich sie nicht nennen) bereits die ersten Probleme hinsichtlich ihrer Verstehbarkeit. Wieso habe ich plötzlich den Stil gewechselt? Oder ist es mehr als nur Stil, wenn der Dichter zum Bild greift, um eine Aussage zu erstellen, die von der unmittelbaren Feststellung und dem damit verbundenen Sprachgestus abweicht? Behalten wir diese Frage im Auge des Gehirns, ich werde darauf zurückkommen.

Um einer Kritik vorzubeugen, springe ich gleich wieder in den alten Ton (auch so ein Bild, über das nachzudenken wir vergessen haben) zurück, um Sie darauf vorzubereiten, daß ich die genannten Begriffe wie Rhythmus, Form und so weiter von einer Theorie der Musik her nicht richtig gebrauchen werde. Ich werde sie auf eine eigenwillige autodidaktische Weise verwenden, aber diese Weise, von der Perspektive des Dichters aus zu erklären versuchen.

Ich komme zum Begriff der Rede zurück und verschmelze ihn - vom Gedicht aus gesehen - sofort mit jenem des Rhythmus. In der heutigen Rede - hier, bis jetzt -, haben Sie eher wenig von Rhythmussetzung verspürt, und wie schon angedeutet, würden Sie den Text lesen, könnten Sie auch formal keine schriftlichen Setzungen finden, die auf eine Rhythmisierung der anderen Art hinweisen würde.

RHYTHMISIERUNG DER ANDEREN ART und schriftliche Setzung - was ist damit gemeint, darunter zu verstehen?

Nur so nebenbei, damit es wieder etwas komplizierter wird: Nicht was ich gemeint habe, ist das, was Sie verstehen werden, sondern das, was Sie meinen zu verstehen, ist das, was ich gemeint haben könnte.

So einfach das hingesagt erscheint, so kompliziert ist die Entflechtung dieser Aussage oder gar die eines Textes oder eines Gedichtes, was seine Veranlagung betrifft, die den Raum der Meinungsbildung, die zum Verstehen führt, öffnen und erschließen hilft.
Noch einmal so nebenbei: Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß ich von Entflechten sprach und weniger vom Festlegen oder Verweisen, das dann als Gedicht hermetisch wirken soll und sonst nichts.
Um diese Wirkung erst einmal zu erzeugen, um sie dann als Vorgang des Dichtens zu analysieren oder schöner gesagt, zu entflechten, dem Verstehen zu öffnen, dient mir die Form des Gedichts, die in meiner Auffassung vom Dichten, nicht dem Inhalt des Gedichts gegenüberzustehen oder (wie meistens aufgefaßt) dem Transport dieses Inhalts zu dienen hat, sondern sich mit diesem zu einer sich ständig wechselnden Einheit verbindet.
Wechselnde Einheit, ein Widerspruch in sich, aber das oder der ist es, was ich unter Rhythmisierung der anderen Art meine.

Der angesprochene Wechsel nämlich zieht sich von Gedicht zu Gedicht gleich oder fast gleich durch verschieden gesetzte Eingriffe, die ich als rhythmische Helfer bezeichne.

Helfer, die besonders in der Rede, im Sprechen des Gedichts wirksam werden, wobei ich unter wirksam werden einen umfassenden Prozeß verstehe, der die Strukturierung des gesamten Gedichts betrifft.
Um diese Wirksamkeit jedoch nicht nur in meinem (Kehl)Kopf zu realisieren, sondern auch um sie dem Leser als Leitseil für das Verstehen des gesamten Komplexes Gedicht: aus - Buchstabe, RHYTHMUS, Silbe, RHYTHMUS, Wort, RHYTHMUS, Teilsatz, RHYTHMUS, und Satz, RHYTHMUS in Rede und Schrift bereitzustellen, um diesen Wechsel durch Wiederholungen in der gesprochenen Rhythmussetzung auch für das Auge zu kennzeichnen und festzulegen, arbeite ich mit der graphischen bis schriftlich-gedruckten Form, die diese Rhythmisierung auch optisch fixiert, aber, denken Sie an das vorher Gesagte zum Verhältnis von Inhalt und Form, mehr ist als nur graphische Spielerei oder Textanleitung - nämlich Konstituens der Sinnentwicklung des ganzen Gedichts.

Wenden wir uns nun einigen dieser Gedichte (aus meinem Band: speise gedichte, graz 1992) zu:

-

TEIG

aufgeschnalzt läuft
breit und gewalzt
die fuge
als saures der masse zu
um
tapsend und zäh
jenen die tasten
beim hauen und walken
der glieder

knetung

jäh gerümpft
in die ohren zu legen
das sehnen der finger
die stockend
ziehen und fassen:
alles -
trocken zu binden
die zunge
am ton

BIER

abgeblitzt im trieb
freigeglüht das kühle zum donner
ein geschifft die schwüle
sie treibe verwundert
die häfen ab -
geschaumt den plunder
an brauch und zoll
voll gepumpt zur

löschung

der wüste
hochgespült die lippen zum fimmel
zu hüllen die brüste
getrocknet unter der geste
wo
- kraft gibts und wonne -
heftige züge stocken und fliessen
verstiegen zu schimmeln:
die
sonnen

BIERTEIG

abgeblitzt im
trieb
hüllen die brüste
geschaumt den plunder
beim hauen und walken
getrocknet unter der geste
wo das sehnen der finger
sie treibe

-

Ich fange beim Wort an, aber dieses allein stellt für mich noch nicht jene Selbstgenügsamkeit dar, wie es für die russischen Dichter um Velimir Chlebnikov galt. Aber der lesbare und erkennbare Stellenwert des Wortes als isolierter Bedeutungsträger ist in meinen Gedichten stärker akzentuiert als in der normalen Rede und Schrift, wo - wie Wittgenstein es ausdrückte -, die Verstehbarkeit des Satzes verlorenging, würde man jedes Wort einzeln für sich nach seiner Bedeutung hin lesen. Der Satz, der Sinn des Satzes würde Auflösung erfahren, bevor er sich organisiert hätte. Um diesen Sinn strapazieren zu können, ist es also notwendig ihn ersteinmal herauszuarbeiten. Will ich ihn dann erstrecken, über seine Grenzen hinaus verändern, umschreiben, so benötige ich die gesprochene und schriftliche Form, also das was ich unter rhythmische a l s graphische Anordnung am Blatt meine. Gegenüber der üblichen Sprache übe ich somit jene „organisierte Gewalttätigkeit“ aus, die Jakobson der dichterischen Arbeit zuschrieb.
Und diese Organisation hält sich die Waage zwischen Rede und Schrift. Nur in dieser Hinsicht bin ich auf das Ganze (des Gedichts) aus, beide Lesarten müssen gewährleistet sein, jede für sich, und vor allem beide in Wechselwirkung - in der gesprochenen und geschriebenen Form, die aus dem Lesen, Hören und Sprechen kommt. Wie nun sieht diese Organisation aus:

Die Rhythmussetzung im Einzelwort und seinen Bestandteilen, - wobei ich in die phonetische Molekularebene eingreife, um durch Klanggleichheit quasi-phonemische, also bedeutungs-unterscheidende Wirkung zu erzielen -, erfährt beim Lesen stärkere Wirkung. Diese Wirkung richtet sich potentiell nach innen, auf das Wort selbst und seine Bestandteile, und nach außen, auf die anderen Wörter, wobei diese wiederum organisiert auf die ganze Form werden, um derart den oder einen oder den anderen Sinn, der in der sinnlichen Organisation der Wörter angelegt ist, zu erschließen.

Diese potentielle Bedeutungsstiftung aus der quantitativen Organisation durch Klangähnlichkeit durchsetzt das gesamte Gedicht und strukturiert es inhaltlich ebenso mit, wie die semantische Ausgangslage, die zum Beispiel das dem Thema entsprechende Bedeutungsfeld sein kann. Die Suche und der Wille nach Klangentsprechungen führt nicht selten zu Verschiebungen der Bedeutung, oder sogar zu Neubildungen von Wörtern auf der semantischen Ebene.

Die semantische Grenze des Wortes wird (unter Mithilfe des Rhythmus als mitgestaltendes Prinzip auf der Gesamtebene des Gedichts) erstreckt, bis zur Bedeutungs-Grenze ausgedehnt und ausgeschöpft, manchmal sogar überschritten.

Die Bewegung dieses Ausschöpfens reicht von der kleinsten Einheit der Bedeutungsunterscheidung, dem Phonem, über das Wort bis zum Vers oder Satz und dem ganzen Gedicht, dem Vers- oder Satzverband.
Kennzeichen oder Markierungsstellen dieser Wechselbeziehung von phonetischen und semantischen Aspekten der poetischen Sprache, setze ich durch die Methode der Wiederholung(en). Ähnlich der Motivsetzung in der Musik oder der Leitmotiv-setzung in der herkömmlichen Geschichte, Novelle oder dem Roman, baue ich auf - wenn auch nicht immer konsequent genau durchgeführte - phonetische Muster, die den gesamten Text des Gedichts strukturieren und als ähnlich gebautes Gebilde vergleichbar halten. Die im russischen Formalismus angesprochene „Wortorchestrierung“ erfährt in meinen Gedichten Verdichtung und Erstreckung: sie greift auf die kleinsten Bestandteile der semantischen Einheiten, die schon erwähnten Phoneme zurück, die sie auf die rhythmische Setzung des gesamten Textes nach vorne hin konzipiert, die schließlich das syntaktische Gebäude des Gedichts umfaßt und verändert.
Die Veränderung entstammt damit einer Bewegung in der semantischen Struktur der Elemente, die durch die rhythmische Setzung angeregt, in der graphischen Setzung ihre Grenzen findet, und gleichzeitig gewisse Felder der Bedeutung verläßt und nicht verläßt, also hemmungslos in diesen und über diese hinaus agiert.

Dieses Agieren nimmt auf syntaktische oder grammatische Regeln keine Rücksicht, verletzt diese manchmal bewußt, manchmal aus der methodischen Vorgabe heraus, oder beachtet sie insofern, als sie diese Verletzungen systematisiert oder reglementiert, also wiederholbar macht und einsetzbar auf jeder Ebene der sprachlichen Arbeit, des Gedichts. Sie kann die Vorsilbe genauso betreffen wie den Vers oder den satzähnlichen Versbau, der zum Beispiel durch den Einsatz alliterativer Figuren dominiert wird, und so etwas wie ein Einstimmen auf die Form, die gleichzeitig der Inhalt ist - und das ist für mich musik-ähnlich oder musik-parallel - möglich macht. Der Rhythmus der anderen Art ist also festlegbar durch Kriterien wie: der Anzahl der wiederholten Konsonanten oder konsonantischen Häufungen, der Reihenfolge ihrer Wiederkehr und der Stellung der konstituierenden Klänge im Hinblick auf die rhythmischen Einheiten. Gleiches gilt für den Einsatz und die Stellung der Vokale, und in der Folge für die Silbenbildungen aus beiden Einheiten, die in meinen Gedichten stark in der Prä- und Suffixbildung ihren Niederschlag finden. Aber auch die Häufung, Wiederholung und Stellung, beziehungsweise die Abfolge ganzer Wörter und Wortgruppen, ganzer Verse oder Sätze tragen zur Rhythmi-sierung bei, die den Sinn durch immer wiederkehrende „rhythmiko-syntaktische Figuren“ (wie es Osip Brik für die russische Lyrik der Puskin-Zeit nannte) mit erzeugt.

Ich versuche also nicht (denken Sie bitte an die von mir erwähnten Regelverletzungen, die aber nicht den Eindruck postdadaistischer Sinnzerstörungs-Ideologie erwecken sollen), die Wechselbeziehung von Sinn und Rhythmus durch idyllische Harmonie auszugleichen, aber doch die Kräfte des rhythmischen Impulses und des syntaktischen Systems, wie es uns vorgegeben ist, aufeinander zu projizieren. Anders gesagt: die Bedeutung der Syntax und darüber hinaus der Grammatik als rhythmischen Faktor anzuwenden:

„Die Glocke der Verbendungen winkt in der Ferne den Weg“ - heißt es in einem Vers von Osip Mandelstam. Der Weg des Gedichts, der Symbiose aus Rhythmus und Form, wird durch die Verbendungen mitbestimmt. Abstrakte grammatische Regeln bestimmen als klang- und sinnspendende Körper die inhaltliche Ausrichtung und schließlich die gesamte Hervorbringung des Gedichts.

Mit den Begriffen der Syntax und Grammatik nähere ich mich jenem der Schrift. Die Schrift bringe ich mit der Form in Zusammenhang und - sie wissen aufgrund des bis jetzt von mir Gesagten - daß ich die unter Form mehr verstehe als das Kleid des Inhalts.
Rhythmus ist bei mir das Sprechen und die Form ist die Schrift - und beide Elemente gehen im Machen, besser im Hervorbringen des Gedichts eine Verbindung ein, die die alten Gegensätze von Sprache als Rede und als System, wie sie in der „normalen Sprache“ gehandhabt werden, aufzuheben trachten. Ich darf Ihnen kurz das Saussursche Modell skizzieren:
Als Teil der langue sind Grammatik und Syntax Systemträger des Geschriebenen, das dem Gesprochenen gegenübersteht - in der Saussurschen Auffassung von langue und parole. Dort gilt die Schrift der Sprache des Subjekts als etwas Äußerliches, etwas, das dieses sogar bedroht. Schreiben als Schrift heißt die Innerlichkeit, das Subjekt zu gefährden, und dieses Subjekt ist durch nichts anderes definiert oder konstituiert als durch das Sprechen. Die Schrift ist als geistige Entität, ja ist als Geist, dem Wort, das der Atem ist, rein äußerlich.

Aber was heißt den Atem anderes als Rhythmus, und Rhythmus anderes als Wort, und Wort anderes als Silbe, und Silbe anderes als Vokal und Konsonant? Und was heißt Schrift anderes als Regel - Verbindung von Vokal und Konsonant zu Silben und diese zu Wörtern und diese zu Sätzen, konjugiert und flektiert nach willkürlich festgelegten Vorgaben? Und was heißt Gedicht anderes als die Verbindung dieser beiden Möglichkeiten der Sprachhandhabung, nennen wir sie Zerlegung und Zusammenstellung, nach vorgegebenen oder selbstgewählten Richtlinien? Es heißt - Dichten und:
Dichten ist dieser gekreuzte Prozeß aus Sprechen und Schreiben, aus Rhythmus und Form, aus Atmen und Materie!

Ich komme damit zur Musik zurück. Und widerspreche durch meinen Hinweis auf selbstgewählte Richtlinien dem Cagen Diktum: „die Töne sein zu lassen, wie sie sind“.

Ich spreche zum Abschluß meiner Betrachtungen einem freien Funktionalismus das Wort, spreche mich also gegen einen musikalischen oder dichterischen Existentialismus und die Ontologisierung des Materials aus, die Entfunktionalisierung bedeutet.
Und bin dennoch für die schlichte, einfache Klangäußerung, wie sie Cage Weberns Rausch der Redundanz durch ständige Wiederholung gegenüberstellt.

Ja, ich will beides haben - und bitte Sie jetzt die Parallele von musikalischem Ereignis zum dichterischen Ereignis selbst zu ziehen:
Ich möchte den Ton, die Phrase, das Motiv eines musikalischen Ereignisses immer bezogen wissen auf ein anderes, und nicht verschleiern, das dieses Ereignis immer schon in Bezug auf ein anderes steht, daß es das Netz seiner Beziehungen zu allen anderen Ereignisse des gleichen Werkes enthält.
Ich bin für die fortwährende Zurschaustellung fester Bezüge zwischen den Elementen einer Struktur, also für den Funktionalismus, ABER:
Ich bin auch für das Vergessen dieses funktionalisierenden Gedächtnisses, für die vitale Form der Musik als Anti-Gedächtnis. Ist sie möglich? Ist das Gedicht aus Rhythmus und Form, aus Sprechen und Schrift, durch Atmung und Denken gelenkt, möglich, noch möglich, wieder möglich?!

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Dieser gekreuzte Prozeß entspricht in etwa dem, was ich mit meinem Referat-Titel „Dichtung und System als Dichtung“ meinte, den gekreuzten Prozeß als - das Systematische wider und über sich selbst hinaus. Ich bilde es aus der Summe oder der Ergänzung von den alten Begriffen System und Dichtung, - weil es deren fest-geschriebenen Grenzen sprengt und ich darunter das Offene verstehe, etwas das sich bewegt und das etwas bewegt, Innen, und das etwas hervorbringt, Außen - und poiesis heißt das auch: hervorbringen, und nicht (nur) machen, ausführen, herstellen.
Hervorbringen ziehe ich dem Machen vor, das ja das Gemachte bereits in sich trägt und miteinschließt: Nein - mit Schluß, schließen, Grenze - verweist das Gemachte auf das System, das sich abschließt und damit von anderen unterscheidbar und somit an der Macht hält.
Nicht im reinen Gegensatz dazu, aber als das Andere betrachte ich das Hervorbringen: Ja, es ist der mir brauchbarere Begriff, besser: brauchbarere Komplex aus beiden alten Begriffen Dichtung und System.

Er, besser: Es - deutet das noch Unfertige, Prozesshafte, Dynamische an, wenn ich das in der Sprache der „second order cybernetic“ sagen darf: einen Vorgang zweiter Ordnung, der aus der ersten kommt, diese aber verlassen hat

- zurück aufs neu zu Beobachtende, aufs schon wieder Unbekannte, vom soeben Gemachten zum Auflösenden und neu Hervorzubringenden hin, WEITER:

-fliegend, -sausend, -steigend, -fallend, -schleppend, -kriechend, -mühend, losgelöst verbunden, lose ausschweifend unbestimmt bestimmt

- in Form von Bewegungen, die mehr sein wollen als systemimmanente Abläufe, Inszenierungen von selbstreferentiellen Prozeduren.

Dennoch darf der Gedanke des Selbstreferentiellen nicht aufgegeben werden, und muß der Mythos vom urschöpferischen Individuellen des Dichterischen einem Dichtungsbegriff weichen, der sich als Text aus Texten, als Werk im Werk, als Bedeutung in Bedeutungen erweist, der entsteht und vergeht, aber weiterblüht - auf sprachlichen, abstrakten Ebenen genauso wie auf bildhaften, sinnlichen Ebenen, die als neue Dichtung oder Kunst:Sprache ineinandergleiten

- wobei unter diesem Gleiten das Systematische zu verstehen ist, dessen Art und Weise ich als Autor-System freizulegen versuche, um mich, den womöglich Festgelegten und Vorgeformten, zumindest in Frage, also in Untersuchung zu stellen .

Wenn „wir alle segmentiert“ sind (wie Deleuze behauptet), antworte ich mit Gregory Bateson: „Na und - es hängt doch von der Art der Systematisierung dieser Segmente ab, welches System sich letztlich als solches herauskristallisiert, ohne jetzt die Summe dieser Segmente als Ich oder gar als Über-System aufzufassen.

- Hoppla, ist das Ich ein System? Oder sollten wir es vielmehr über haben wie das Übersystem; oder zumindest ein anderes, künstlerisch-dichterisches diesem entgegenstellen? (Fragezeichen, Rufzeichen!) -

Um das zu gewährleisten muß erst ein solches - Ich oder System - aus diesen Segmenten entwickelt und zusammengebaut werden.

Wenn ein solches entsteht, dann kann es in und während der Phase der Entstehung bis hin zu seiner Rezeption, die in diese Phase eingebracht, mitgebaut und wieder verlassen wird, auch Neues im Sinn des Systematischen aus Dichtung und System produzieren, - weil dies jedes System kann - wenn:
es eine Zufallsquelle enthält, egal jetzt ob es ein Computer oder ein Organismus ist (wenn da ein Unterschied besteht). Im Computer, so Gregory Bateson, wäre es der Zufallsgenerator, der garantiert, daß die suchenden Versuch- und Irrtum-Züge der Maschine letztlich alle Möglichkeiten der zu erforschenden Menge abdecken.
Mein Entwurf - oder ehrlicher, meine Analogie - oder noch ehrlicher, meine Paraphrasierung dazu wäre:
die kanonisierte Dichtung mit ihrem überlieferten Poetik-Apparat, kurz mit ihrer Sprach- und Formenregelung, gepaart mit den konstituierenden Regeln und Parametern der anderen Systeme ergibt über die künstlerisch gesetzten Quasi-Methoden in Entsprechung zum Zufallsgenerator Batesons das Systematische wider und über sich hinaus der derart neuen, alten Kunst:Sprache, Dichtung.

Forschen als Dichtung im Systematischen aus Dichtung und System heißt demnach:
Von nichts kommt nichts, aber es kann zufällig gesteuert sein. Oder:

Denn:
Wie steht es mit der Sprache an sich, wenn wir eine Formulierung einsetzen, die eine Wahrnehmung, eine Empfindung, einen Sachverhalt durch eine Beschreibung erklärt, und zu verstärken, zu bestätigen, zu bekräftigen trachtet.
Ein Wort, ein Satz und schon stecken wir im Dilemma - die Ebenen der Beschreibung und Erklärung überschneiden sich nicht nur, sondern schneiden ineinander und lassen nichts als dumpfe Information zurück, die wir als erhellende verstehen.

Diese dumpfe, aber als einstimmig und handelbar verstandene Information durch Typen der Organisation von Daten wieder zu entflechten, im Systematischen der Dichtung aus System und Dichtung, das wäre für mich die Aufgabe der Kunst und Literatur (was aber auch heißen darf, daß diese Aufgabe nie gelöst werden muß, wenn sie zu neuen Aufgabenstellungen führt wäre das bereits ein Schritt - der Erkenntnis, der Lust allemal):
also -
eine Sprache der Entschlüsselung jener Systeme zu finden, die in uns den Status der Ordnung erzeugen, der aber tatsächliches Chaos ist, und wo nicht anderes lebt als Tautologie, also die neuen Verbindung von Aussagen ohne allergebene Information.

Deshalb:
Es geht mir weniger um das Erzeugnis von Information, als um die Hervorbringung von Tautologien im obigen Sinn des Systematischen, das mehr aus Resonanz als auf Redundanz besteht. Machen allein genügt (mir) nicht. Was oder wer bestimmt dann den Ablauf des Systematischen, wie liegen die Verhältnisse innerhalb des Systematischen und der Diskurse, die es mitträgt, eröffnet oder erzeugt? Und vor allem: Wie kann es wider und über sich selbst hinaus geraten?

WIE?

Mit Methode, wie man so schön sagt?
Dann sage ich in der Stimme Valerys: „La Methode, C’est Moi“!
Aber dieses Moi, dieses „bin ich“ (eigentlich: es, aber was?, gehört mir) ist ein anderes. Deshalb darf es eine Methode sein, die mir nicht gehören kann, weil ich sie möglicherweise bin. Aber die aus der Nicht-Eindeutigkeit und Nicht-Einförmigkeit der Wörter lebt, die Erklärungen und Beschreibungen UmSchreiben durch eine systematische wider und über sich selbst hinaus greifende Operation des Tautologischen.

Eine Operation, die - danke Valery! - gegenläufig zu derjenigen ist, welche zur eindeutigen und einförmigen Sprache der Erklärungen und Beschreibungen geführt hat. Aber die Frage bleibt:
Wer schwingt das Lasso über diese Systemherde, die alte Gedanken nicht einsäumen, sondern neu kombinierte lostreten sollen?
Ich, Kau-Bube der Wörter, dem Stoff, aus dem das Denken ist? Brauche ich diese den inneren wie äußeren Gegenständen als Brennzeichen einzusengen, um ihnen die neue Form zu verleihen, bloß an ihrer Material-Kontur entlang?

Hat Valery in seinen beispielhaften „cahiers“ mit der Feststellung recht?:
„Dichtung ist in Wahrheit nur das Sinnliche der Sprache“! Geht es überhaupt um Wahrheit: Nein, die eine Wahrheit gibt es nicht. Es gibt die Präsenz des Zeichens und die Spekulation darüber, - aber diese ist nicht die Wahrheit. Der „wahre“ (unter Anführungszeichen gesetzte) Ausdruck ist stets der andere, jener, der den nächsten anderen herauslockt, zuläßt, ihm ein Feld öffnet, dieses absteckt mit weiteren anderen Ausdrücken (Zeichen, Begriffen, Wörtern), die wiederum ein neues Feld eröffnen, ohne allerdings im semantisch Beliebigen zu versanden. In diesen sich gegenseitig erzeugenden Feldern wäre mein Systematisches wider und über sich selbst hinaus - meine Dichtung aus Dichtung und System: Das poetische Feld aus dichterischen und systematischen Feldern der anderen.
Aber im Gegensatz zu Valery verlangt es weniger nach Dauer, als nach der Ermöglichung verschiedener, stets möglicher Konstellationen von Dauer. Die darin erzeugte Spannung durch die Anziehungskräfte und Abstoßungskräfte der Zeichen und Wörter, durch ein Sprechen, das nichts sagt und alles suggeriert, und eine Schrift, die alles sagt und nichts suggeriert (auch das kann - paradoxe - Wahrheit sein), setzt nicht auf Dauer, sondern stellt Sprechen und Schrift stets in Relation zu anderen und verweist damit punktuell auf andere Stellungen, die eine Ohnmacht der Sprache gegenüber der Evidenz des Sichtbaren zur Macht der Sprache verkehren, ohne daß diese Gewalt ausübt und die Bilder, die sie nie mit Bedeutungen verdeckt, auslöscht. Beide Ebenen gehen vielmehr unendliche Beziehungen im Endlichen, ein unabschließbares oder an jeder Stelle ausklinkbares Wechselspiel von Wort und Bild ein. Sie eröffnen dort jenen Ort der intermedialen Reflexion - Kunst:Sprache zum Beispiel, den Foucault als jenen der Heterotopie bezeichnet hat: Orte der Angst, der Lust, der Leidenschaft, der Obsessionen, ein verwirrendes Beziehungssystem, mein Systematisches wider und über sich selbst hinaus, das durch Simultaneität, Transformationen und Überlagerungen gekennzeichnet ist. -

Deshalb:
Auf und zurück zum objektiven Zufall!
Als Systemkraft, als Kraft des Systematischen in meinem Sinn. Er plaziert das Erregende, das er einbindet und aus dem Einengenden des Eindeutigen und Einförmigen ausscheidet, ins Unverständliche:
Dichtung des Systematischen wider und über sich selbst hinaus - als hinhaltendes Zögern zwischen Klang und Sinn.
Und die Methode legt sich dem Sinn des Klangs und dem Klang des Sinns quer - als Nicht-Identität in dieser Identität des anderen und verhilft all den komplexen Phänomenen, die es miterzeugt hat, zu schweben.
Denn, oder, aber:
Das Eintreffen dieser Phänomene aus Bildern und Wörtern, ihre Gegenwart, und Verschiedenartigkeit allein - wäre mir als Zustand der Dichtung um ihrer selbst willen zu wenig. Wenn ich die Dinge auch finden, ja erfinden möchte, dann verlangt deren Konstruktion, daß ihre Verschiedenartigkeit durch formale und signifikanter Notwendigkeit gepflanzt wird.
Kennzeichen ihres Wachstum ist eine Dynamik aus Bildern, die neue Einbildungen erzeugen, aber auch Bilder, die Wörter und Texte erzeugen, und diese wiederum die nächsten anderen Bilder:

weiter heißt das.

weiter

Dieser Diskurs um den Ort der Heterotopie herum dient jedoch nicht der Vermittlung eines außergewöhnlichen Zustandes. Er entspricht nicht nur der - wenn auch noch so methodisch - phantasierten Vision Rimbauds, sondern kommt der Vorstellung einer Welt nahe, in der es ein System von Dingen aus Wörtern gibt, die sich von der gewöhnlichen Welt nähren und speisen, aber dennoch von dieser geschieden sind. Trotz der gleichen Elemente (Wörter, Dinge etc.), aus der diese dichterische Welt bestünde, wären es die systematischen Verbindungen wider sich und über sich selbst hinaus, die sie als neue bestimmen würden - und damit die Definitionen, die Festlegungen, diese Art von Dauer, von System kippen lassen.

Das Gesammelte kann auch ausgeschieden werden.

Dann geht das Dichtungs-System in Dichtung über, wenn es aus der Vielfalt hervorgeht, der Nichteindeutigkeit der Bedeutungen, und in die neue Wirkung übergeht, sich dort kurzweilig Bedeutung schafft, die Eindeutiges nicht einmal suggeriert, sondern ständig in Schwebe hält.

So könnte es sein oder so. Einmal so. Einmal so. Es geht nicht um das eine Bild, die Wahrheit, sondern um die Gruppe sämtlich möglicher Bilder, das reißt hin, das erregt, das macht frei.

Also hin zur Un-Form, ist das die Aufgabe der Kunst, der Literatur?
Nein, wenn wir selber diese Un-Form sind, besser: das Bewußtsein davon, unfertige Systeme zu sein, sich unfertig als ganze zu begreifen und zu verstehen, vielleicht handeln wir nämlich als solche, dann muß die Kunst auf der Suche nach diesem Fertigen sein, auch wenn es dessen Auflösung bedeuten muß, noch mehr muß als es zu suchen.

Diese Auflösung aber kann durchaus mit Regeln geschehen, also mit System erfolgen wie man so schön sagt - und als Ästhetik der Auflösung bringt der ganze Vorgang das Systematische wider sich und über sich selbst hinaus hervor:

Dichtung und System als Dichtung,
also offenes Regelwerk der Literatur (mit Grenzsetzung) plus geschlossenes Regelwerk des Systems (mit Grenzüberschreitung) als:
künstlerische, dichterische Hervorbringung der Auflösung, der Entknotung, der Entschlüsselung - machtuntauglich......



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