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Kunst und Tatort: Literatur



Fancy-work
Voraussetzung jeden Kunstwerks ist es, einen Zustand zu schaffen oder einen solchen vorauszusetzen. Es hat nur Sinn und Dasein als Herstellung, Übertragung, Entwicklung, Mittel oder Zweck eines Zustandes.
Paul Valèry 1)


Ein Kunststück oder Kunstwerk oder ein Stück Literatur ist für mich ein möglicher Gegenstand einer unbegrenzten Arbeit. Seine Veröffentlichung ist ein äußerlicher Zwischenfall; er ist ein von außen gesetzter Einschnitt in einer Entwicklung, die lediglich durch äußere Umstände angehalten wird und werden kann.
Unter einem positivistischen Aspekt ist Kultur vielleicht nur der Name einer Wirkung.
Das meiste, was ich wahrnehme, also Gegenstände, erregt, wenn es mich überhaupt berührt, in mir das, was es braucht, um ihm Bedeutung zu geben. Das eine Mal ist es die Neugierde, sei sie zufällig aus meinem Zustand entstanden oder aus dem Originalitätswahn, dem ich durch meinen Beruf folge, das andere Mal ist es die gleichgültige, zugleich aber abhängige Zärtlichkeit der Kultur gegenüber, die in mir ruht. In mir lebt gegenüber der Kultur eine beständige Neigung, mich so schnell wie möglich in sie hineinzubewegen, ehe sich die Wahrnehmung der Gegenstände meiner bemächtigt hat oder meinem Ich innerhalb meines Zustandes die Patina von Bedeutung einer Entdeckung gibt. Es scheint das Hauptgeschäft meines Lebens zu sein, mir auf kürzesten Weg ein bestimmtes Höchstmaß an Freiheit oder Verfügbarkeit der kulturellen Welt über meine Sinne zu gestatten.
Es gibt keine einfache und dauerhafte Übereinkunft zwischen meinem Wesen und der Betrachtung der kulturellen Welt. Das starke Schwanken meiner Stimmungen und Wünsche, meine eigentümlichen Ansprüche, meine Distanzierung von der äußeren Wirklichkeit - das heißt vom Medienzauber der Welt - mein merkwürdiger Wille, etwas zu erklären, das ich mir selbst längst klar gemacht habe, meine Abneigungen gegen die Verbreitung meines Denkens oder das egozentrische Erfassen der kulturellen Welt, beweist sich in folgender Behauptung: Die Literatur ist nicht meine Hauptsorge. Unglücklicherweise habe ich größere. Glücklicherweise habe ich andere.
Diese Auswirkungen meiner Zustandsänderungen im Gefolge des Wahrnehmens, mit denen ich eigentlich ständig aufräumen will, sind ebenso vielgestaltig wie die Welt selbst. Doch kann ich sie unter einer gemeinsamen Bezeichnung zusammenfassen und sagen: der Inbegriff der Auswirkungen, deren Wesen darin besteht, sich eine Gegenwart oder Gegenwärtigkeit zu erfüllen, bestimmt die Ordnung der Gegenstände, die dem Bereich der Wirklichkeit zugehören.
Um den Begriffen Gegenwärtigkeit oder der Mechanik des Erfahrens von Tatbeständen oder Äußerungen der Kultur ihr Recht und ihre scharf umrissene Bedeutung zu geben, brauche ich nur daran erinnern, daß innerhalb dieses Vorgangs die Befriedigung das Bedürfnis entstehen läßt, die Antwort die Frage bedingt, das Dasein das Nichtvorhandensein voraussetzt und das Besitzen das Verlangen, das Sein das Bedeuten ergibt.
Während innerhalb des Teils des Wirklichkeitserfassens, das ich Leben in der Zeit nenne, das einmal erreichte Ziel, die Befriedigung, ihre durch Sinne vermittelten Auslöser zum Erlöschen bringt, geht es innerhalb der Wirklichkeitserfassung der Kultur anders zu.
In kulturellen Kosmos der Empfindungswelt sind die Empfindungen Wahrnehmungen von Tatorten oder fancy-works, eine so zu nennende feine Handarbeit der Wirklichkeitserfassung. Die Suche nach Brauchbarkeit und Spannung erzeugt aus dem Kosmos der Farben oder dem Kosmos der Worte oder dem Kosmos der Geräusche nach einer kräftigen Erregung des Nervensystems, das wir Gehirn nennen, Komplementärfarben, Bilder oder schöne Sätze, also Literatur oder Töne als Musik.
Im Unterschied zu anderen erfolglosen oder erfolgreichen Autoren interessiert mich an der Literatur nur das, was einerseits schwierig zu sagen ist oder was meinem Weltbild Kultur dient und darüber Bewußtsein erzeugt. Wenn ich mich erinnere, daß die in letzter Zeit erschienenen Romane tatsächlich Taten und Orte beschreiben, also das bewußt oder unbewußt versuchen, was das Medium Fernsehen uns vorführt, also Tatorte, behaupte ich so etwas wie eine Traumstörung, was Literatur und Kunst betrifft. Die moderne Kunst setzt gewöhnlich voraus, daß es eine ursprüngliche Kunst gibt und daß man deren überdrüssig ist. Der Einsatz von Dissonanzen setzt voraus, daß man das System der Konsonanzen gewohnt war und seiner müde geworden ist. Alle Künste entspringen der Bereitschaft zum Neuen. Diese Art von Bereitschaft oder die Vorspiegelung einer solchen, welche vielfältige Konsequenzen hat, ist frei strukturiert. Für den Menschen gibt es Leerzeiten, in denen er sich auf Leerräume stürzt, und indem er diese auffüllt (schreibt, malt, komponiert) füllt er jene mit seinen Einfällen und Schöpfungen, seinen Konstruktionen und Unternehmungen an.
Als fancy-work bezeichnete Valèry das Denken als Werk der Phantasie, der Einbildung, etwas wie die Darstellung der Welt durch ein Ego.
Wenn aber die kulturelle Wirklichkeit nicht mehr eintritt, wenn die Umwelt, in der der Künstler lebt, nicht rasch genug einen unendlicher Abwandlung würdigen Gegenstand darbietet, dann macht sich die Empfindlichkeit des Künstlers daran, in Langeweile zu ersticken oder in sich selber Bilder und Dinge dessen zu erzeugen, was er sich wünscht, sowie der Durst Vorstellungen wundersamer Getränke hervorrufen kann. Das heißt, er schreibt oder kümmert sich nur um das, was seiner Wirklichkeitsauffassung dient.
Diese recht einfachen Betrachtungen über den Konsum und das Produzieren gestatten aber doch das Eliminieren und saubere Bevorzugen jenes aus den Wahrnehmungen Hervorgegangenen und ganz durch die inneren Bezogenheiten und besonderen Anwandlungen eines kulturellen Empfindungsvermögens umrissenen Gebildes; Ich könnte es eine individuelle, persönliche Ordnung der Dinge nennen, die dem Bereich der Kultur im gleichen Maße wie dem der medialen Macht zugehören.
Aber die Ordnung der auf eine Mechanik des Wahrnehmens oder die Gegenwärtigkeit von Originalen gerichteten Strebungen, die Ordnungen des individuellen und kulturellen Bereiches, gehen mit jedermann mannigfaltigste Verbindungen ein.
Im besonderen ist das Konsumieren von Kunst und anderen Gegenständen das Ergebnis eines Vorganges, dessen endliches - in sich abgeschlossenes - Ziel es ist, in einem Menschen vorhanden zu sein, also eine Gegenwärtigkeit und Präsenz hervorzurufen.
Und gerade diese Haltung folgt einer Mechanik des Wahrnehmens, verbunden mit der Behauptung, daß Kultur nicht mehr und nicht weniger als der Name einer Wirkung in einem sozialen Rahmen ist. Die Gegenwärtigkeit der Gegenstände liefert uns die Gegenwart, den Gegenwert eines Produktes, assoziiert manchmal mit einem kulturellen Wert.
Ob die Bilder von Velasquez oder pampers mich an Kinder erinnern, ist meiner Wahrnehmung wohl, nicht aber meinem Bewußtsein gleichgültig. Oder ob ein Bild von Modigliani mich ein Eizo professional display system, ein Bild von Tom Wesselmann ein Epson Kopiergerät kaufen läßt, dies und das bleiben Gegenstände, deren Bedeutung mir überlassen bleibt.
Ob die Fernsehserie Tatort meiner Wirklichkeitserfassung dient oder Literatur erzeugt, um wieder als kurs: Tatortfolge ins Fernsehen zu kommen, interessiert mich nicht. Ich kann niemals auf andere zählen. Und es widerstrebt mir, auf sie zu bauen, von ihnen etwas zu erwarten. Ich rechne niemals kursende: mit ihnen und vor allem nicht mit ihrer Leichtgläubigkeit, was Wirklichkeit betrifft.
Es wäre gewagt zu behaupten, daß Taten und Orte fähig sind, in meinem Bewußtsein Literatur zu erzeugen, denn dies geschieht unter Umständen nur, wenn ich die Sklavenhaltung zu Assoziationen nie aufzugeben imstande bin. Die Gegenwärtigkeit der Tatsachen liefert uns die Gegenwart, den Gegenwert als Zeit, assoziiert manchmal mit einem kulturellen Wert.

Schreiben oder jede künstlerische Tätigkeit hat für mich immer die Bedeutung der Konstruktion eines Kalküls. Das heißt, daß ich das Unmittelbare zurückbeziehe auf seine Problematik oder auf einen Lösungsgedanken. Fancy-work und Tatorte. Zwei Gegensätze.
Das Leben ist eine von Anbeginn verlorene Partie. Und die Dichter und Künstler sind dabei, die Regeln dieses Spiels ausfindig zu machen, ja, selbst die Einsätze zu überlegen. Phantasie oder Kolportage. Kunst oder Abbildung. Literatur oder Journalismus.

1)Paul Valèry, Cahiers/Hefte 1, Gladiator

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