Zu Adalbert Stifters Witiko


© Franz Josef Czernin

Am Passauer Bischofshof erzogen bricht der zwanzigjaehrige, aus einer bedeutungslos gewordenen Familie stammende Witiko im Jahre 1138 aus Passau in Richtung Boehmen auf, begegnet der jungen Bertha von Jugelbach, wird bald von dem sterbenden Herzog Sobeslaw nach Prag, wo sein Nachfolger gezaehlt werden soll, entsandt, schlaegt sich auf die Seite des neu gewaehlten Herzog Wladislaw und zieht mit ihm gegen den ebenfalls den Herzogstuhl beanspruchenden Sohns Sobeslaws.Witiko zeichnet sich in Kaempfen und Schlachten aus, wird von Herzog Wladislaw mit Grund und Boden belehnt, heiratet Bertha und wird Stammvater eines neuen Adelsgeschlechtes.

*

(Muehen des Anfangs)

Der Mann war noch in jugendlichem Alter. Ein leichter Bart, welcher eher gelb als braun war, zierte die Oberlippe, und umzog das Kinn. Die Wangen waren fast rosenrot, die Augen blau. Das Haupthaar konnte nicht angegeben werden; denn es war ganz und gar von einer ledernen Kappe bedeckt, welche wie ein Becken von sehr festem und dickem Stoffe gebildet, so dass ein ziemlich starker Schwerthieb kaum durchzudringen vermochte, dergestalt auf dem Kopfe sass, dass sie alles Haar in ihrem Inneren fasste, und an beiden Ohren so gegen den Ruecken mit einer Verlaengerung hinabging, dass sie auch einen Hieb auf den Nacken unwirksam zu machen geeignet schien.

Der letzte Satz schlaegt aus der Art der Erzaehlung, liegt jenseits der ihm eigenen Form - und ist einigermassen missglueckt. Denn seine Syntax ist nicht nur uebermaessig komplex, sondern auch truebe bis zur Undurchsichtigkeit: Der finale Einschub (so dass durchdringen vermochte) ist wie hineingezwungen, zumal in der Hauptfolge der Saetze zwei weitere Finalsaetze angeschlossen sind ( dass sie alles Haar in ihrem Inneren fasste und dass sie auch einen Hieb auf den Nacken unwirksam zu machen geeignet schien.)
Im Weiteren sind solche hypotaktischen Ballungen kaum mehr zu finden; vergleichbare Beschreibungen bestehen aus einfacheren Saetzen: Er war ein junger schoener Mann mit blonden Haaren und blauen Augen. Auf seinem Haupte hatte er eine schwarze Haube, von der eine Adlerfeder gerade empor stand. In den Buegeln hielt er starke lederne Stiefel, und um die Schultern hatte er an einer roten Schnur ein Huefthorn
Ebenso untypisch ist die komplexe Infinitkonstruktion zu machen geeignet schien, die ueberdies eine Unentschlossenheit ausdrueckt, die ansonsten nicht zu finden ist.
Einige Wendungen jener Anfangssaetze sind auch - vergleichsweise - gesucht und prezioes - der Bart ziert die Oberlippe und umzieht Kinn - und zudem werden die Dinge differenzierter beschrieben als zumeist spaeterhin. Wenn vom Bart gesagt wird, er sei eher gelb als braun, und dass die Wangen fast rosenrot sind, enthaelt dies, im Vergleich zur Erzaehlung insgesamt, ein hoeheres Mass an Unterscheidung oder auch nur ein Zoegern. Spaeter sind die Dinge zumeist schlicht rot, blau, gelb und schwarz
. Noch aus einem anderen Grund ist das Wort rosenrot nicht so Recht am Platz: Es spielt auf das zukuenftige Wappenzeichen von Witikos Geschlecht, auf die rote Rose der Rosenberger an. Zumeist versagt sich die Erzaehlung jedoch solche impliziten Vorgriffe oder Symbolisierungen. Er kennt kaum untergruendige Anspielungen, die sich durch Konnotationen oder stillschweigende Implikationen herstellen. Witikos Wappenzeichen wird sonst explizit erwaehnt: Der greise Huldrik verkuendet beispielsweise, dass Witiko einst Stammvater eines bedeutenden Geschlechts unter dem Wappenzeichen der Rose sein werde.
Oder die Rose wird als Symbol so ueberdeutlich wie in einem Volkslied oder Maerchen: Als Witiko seiner Braut Bertha das erste Mal begegnet, traegt sie eine Rose im Haar. Und wenige Seiten spaeter, da Witiko Bertha erzaehlt, dass alle Ahnen eines seiner Stammvaeter Waldrosen gepflanzt haetten, spricht Bertha selbst das Symbolische ihres Rosentragens deutlich aus: Es wird doch eine Eingebung gewesen sein, dass ich die Rosen genommen habe, sagte Bertha. Und dass es in dieser Jahreszeit noch Rosen gibt, ist schon ein Wunder, sagte Witiko. So moegen sie Euch ein Zeichen sein, erwiderte Bertha.

Als ob sich Stifter zunaechst in die Erzaehlung finden mussste, bildet sich die angemessene Schreibweise erst nach und nach heraus. Das laesst erahnen, wie gross die zu ueberwindenden Widerstaende sind. Unsicherheit ist am Anfang noch merklich; zugleich vielleicht eine Konzession an eine gelaeufige Romansprache wirksam und eine ihr entsprechende Wirklichkeitsdarstellung.

*

(Einzelheiten vor Augen, Dinge hinter Dingen)

Es finden sich jedoch in den zitierten Anfangssaetzen auch wesentliche Charakteristika der Schreibweise des Witiko:
: Das Haupthaar konnte nicht angegeben werden; denn es war ganz und gar von einer ledernen Kappe bedeckt- ueber etwas, das sichtbar waere, wenn es nicht durch anderes Sichtbares seinem Blick verborgen waere, kann der Erzaehler nichts sagen. Er ist offenbar mitten unter den Dingen, von denen er berichtet.
In einer laengeren Passage zeigt sich etwas aehnliches in der direkten Rede einer Figur: Dort oben, wo der krumm gewoelbte Wald steht, wuerden wir den Berg des reichen Gesteines sehen, wenn der Wald nicht waere...Weiter unten waere der Winterberg, wenn der gezackte Waldkamm nicht vorstuende. Gerade hier hinab ist das Tal der Hirschberge, in welches der See seinen Bach abloesst. Und dann geht es gegen das Land hinaus, wir koennen es aber vor lauter Wald gar nicht sehen. Dorthin, gerade aus, ist der obere Plan. Dann werden wir, wenn der Wald nicht vorstuende, den Wald des heiligen Thomas sehen, und dann ist nichts mehr als der Himmel
Als die Augen ueber die Landschaft in den Himmel sehen, der fuer alle von ueberallher zu sehen ist, wird in einer schoenen Wendung der Konjunktiv durch den Indikativ ersetzt: Da der Erzaehler sich ansonsten denselben Beschraenkungen unterwirft wie seine Figuren, wird um so deutlicher, wie sehr sein Standpunkt mit ihrem uebereinstimmt. Er bindet sich an ihren Ort und begibt sich seiner moeglichen Erzaehler-Allmacht. So wird die Erzaehlung zunaechst auf den Horizont jemandes begrenzt, der die erzaehlten Ereignisse selbst unmittelbar durch die Sinne erfaehrt. Vielleicht kann deshalb das, was in der Erzaehlung berichtet wird, ebenso glaubwuerdig sein wie jegliche unmittelbare sinnliche Erfahrung oder deren wahrheitsgemaesse Wiedergabe.

*

(Protokollsaetze)

Der Satz Das Haupthaar kann nicht angegeben werden ist protokollartig. So suggeriert er, dass sich der Erzaehler vor einer nicht genannten Instanz rechtfertigt: Wenn auch, weil ueber die Haarfarbe und die Art des Haares nichts gesagt werden kann, die Information unvollstaendig ist, soll das nicht an einer Fahrlaessigkeit oder Ungenauigkeit des Erzaehlers liegen, sondern an den Tatsachen selbst.
Mit dem Protokollarischen wird Amtliches hoerbar, etwas von einem Polizeibericht. Als ob Vollstaendigkeit des Berichtes und eben die Angabe der Farbe oder Art des Haares erwuenscht waere. Nirgendwo jedoch wird ein Hinweis darauf gegeben, warum dem so sein koennte. Wenn etwa die ausfuehrlichere Beschreibung der Bekleidung eines Mannes mit dem Satz Sonst hatte er nichts auf seinem Koerper endet und an anderer Stelle gesagt wird: Der Reiter hatte keine Feder auf dem Haupte und nirgends ein Abzeichen an sich , scheinen diese Auskuenfte auf Fragen zu antworten, die genaue und vollstaendige Informationen fordern. Es wird jedoch kein Hinweis gegeben, warum dem so sein koennte. Die Angaben, in denen anklingt, dass dem Wunsch nach Vollstaendigkeit der Beschreibung zu genuegen versucht worden sei, lassen einen Zweck vermuten, dem das Protokoll dienen soll, doch wird dieser nicht greifbar.
Zum Protokollartigen gehoert auch, einen blonden Bart gelb zu nennen. Denn das Wort blond waere konnotativ reicher und spezifischer, bezeichnet es doch vor allem, ja, beinahe ausschliesslich, die Haarfarbe von Menschen. Gelb dagegen koennen alle Dinge sein, Haare von Menschen ebensogut wie Graeser oder die Farbe aus dem Malkasten. Gelb ist eine gleichsam wahrnehmungsempirische Ausdrucksweise, die Objektivitaet verspricht.

Protokollartiges und Amtliches, nuechterne Wiedergabe des sinnlich Wahrgenommenen, Gebundenheit des Erzaehlerhorizonts an die sinnliche Erfahrungswelt seiner Hauptfigur: Im Verein mit der Abwesenheit impliziter Andeutungen, Konnotationen und stillschweigender Implikationen fuehrt das zur Vermeidung von bildhaften Vergleichen und Metaphern. Denn Vergleich und Metapher sind die zentralen poetischen Mittel, Konnotationen und stillschweigende Implikationen hervorzurufen: Indem sie auf die sprachlich-begriffliche Sphaere verweisen, die begrifflichen Hintergruende jeglichen Gegenstandsbezugs fuehlbar machen und damit die Aufmerksamkeit auf die motivische Ordnung eines Textes lenken, schwaechen sie den vorgeblich unvermittelten Bezug auf das Gegenstaendliche.

*

(Vertrauen, ueber den eigenen Horizont hinaus)

Indem der Erzaehler sich selbst an den Ort seiner Figuren bindet, seine Macht beschraenkt und die registrierten Einzelheiten nicht erklaert oder deutet, legt er nicht nur nahe, ihm bleibe der Sinn oder Zweck seines Berichtes verborgen, sondern zudem, er vertraue sich etwas ihm Vorgegebenem oder ‹bergeordnetem an, einer Instanz oder einem Gesetz. Diese werden aber nicht in der Erzaehlung selbst bezeichnet, ja, sie moegen unbekannt sein. Die Erzaehlung beschreibt gleichsam nur, wie die einzelnen Aepfel unmittelbarer Erfahrung vom Baum fallen, doch verzichtet sie auf die Moeglichkeit, auch das Gesetz der Schwerkraft zu formulieren, den Gesetzgeber oder seine Intentionen zu bezeichnen - und erst Recht auf die Moeglichkeit, dieser Gesetzgeber selbst zu sein.
Dennoch bedeuten die Einzelheiten schon deshalb etwas, weil sie - etwa fuer Witiko selbst - gegeben sind. Dass etwas gegeben ist, reicht hin, darauf zu vertrauen, dass es aufgeschrieben werden soll. Wie geringfuegig es auch sein mag, es ist gleichsam Schicksal der Figur, es zu erleben - und es ist Erzaehlerschicksal, es wiederzugeben:
Das Pferd war indessen mit seiner Nahrung laessiger geworden, und hatte oefter umgeblickt. Der Reiter liess ihm Wasser bringen, und traenkte es, dann mischte er ihm wieder etwas Haber in seine Kufe. Waehrend es denselben verzehrte, blieb er dabei stehen. Der Krauskopf blieb auch stehen, und sah zu. Als das Pferd fertig war, wurde es noch einmal getraenkt, und der Reiter wischte ihm dann die Lippen ab, und die Kufe wurde seitwaerts gestellt. Hierauf ging der junge Mann zu seinem Tische, und verlangte nach dem Wirte.

Wir wissen beinahe so wenig von der Funktion dieser Einzelheit in der Erzaehlung und von dem Sinn-Gesetz, das durch die Einzelheit exemplifiziert werden mag, wie wir alltaeglicherweise wissen, was unsere Sinneswahrnehmungen bedeuten: Huldrik stand vor ihm. Er hatte ein sehr grobes lichtgraues Wollgewand. Sein Rock war viel kuerzer und weiter als gewoehnlich, kaum ueber den Oberkoerper hinab reichend. Es ist nicht erkennbar, was es damit auf sich habe, dass Huldriks Gewand viel kuerzer und weiter als gewoehnlich war. – In einem Roman Balzacs wie in jedem Kriminalroman dagegen waeren solche Einzelheiten entweder als Hinweis zu verstehen, der noch Folgen haben wird, oder auch als Darstellung einer bestimmten Stimmung oder Atmosphaere. In einem Text aber, der seinen wesentlichen Sinn durch das vertikale Spiel vielfaeltiger Motive, durch innertextliche Bezuege herstellt, haette die Rede davon, dass ein Gewand zu kurz oder zu weit ist, neben seiner deskriptiven sehr wahrscheinlich uebertragbare oder symbolische Bedeutung.
Indem er jenen angenommenen Sinn seines Berichts nicht selbst angibt, erlaubt der Erzaehler aber die Unterstellung, dass das Erzaehlte an und fuer sich sinnvoll ist, und zudem, der Sinn der Erzaehlung sei so umfassend, dass er nicht nur die sichtbaren, sondern auch die unsichtbaren Ordnungen einschliesst.

*

Sind die anfangs beschriebenen Dinge und Ereignisse auch solche sinnlicher Wahrnehmung, so ist das Gesetz, das ihnen zugrunde liegt, nicht nur ein Naturgesetz, das wissenschaftlich entdeckt und formuliert werden kann, sondern ein Gesetz, das umfassender ist: es beherrscht die Materie wie die menschlich-soziale und auch die himmlisch-unsichtbare Natur. Die anfaengliche Beschraenkung des Erzaehlers auf das, was fuer einen Beobachter in bestimmten Augenblicken und an bestimmen Orten durch seine Sinne zugaenglich ist, bedeutet also nicht, dass die berichteten oder protokollierten Ereignisse zu Daten werden, die durch eine Naturwissenschaft angemessen erklaert werden koennten. Im Gegenteil: die Ereignisse haben - ueber das Walten natuerlicher Gesetze hinaus - auch Sinn und Bewandntis. Nur mutet sich der Erzaehler nicht zu, das Berichtete selbst zu deuten oder auch nur Hinweise auf seinen Sinn-Zusammenhang zu geben.
Die meisten Figuren der Erzaehlung allerdings halten lange und feierliche Reden – in klassizistischer Rhetorik, in einer geschmeidigen und komplexen Sprache, die sich von jener des Erzaehlers stark unterscheidet. Sie deuten dabei ihre soziale Stellung, sie malen einander die Geschichte ihrer Sozietaet und ihres Landes aus, die geistlichen Wuerdentraeger appellieren an christliche Prinzipien und Tugenden. Insbesonders in den Szenen, in denen die Lechen(Ritter) sich auf dem Wysehrad in Prag versammeln, wird ihre weltliche und geistliche Geschichte evoziert. So hebt etwa der alte Ritter Bohumil so an: Ich habe eine grosse Zahl von Jahren gelebt, und habe vieles gesehen. Ich habe noch den alten roemischen Kaiser Heinrich den Vierten gekannt.
Die Figuren sprechen also manches von dem aus, was der Erzaehler sich auszusprechen versagt. Ihre Deutungen und Erkl‰rungen weisen jedoch auf seinen Bericht zurueck: Es liegt nahe, dass auch sein Bericht aehnlichen Sinn hat wie der, den die Figuren einander auseinanderlegen - und es kann doch auch in Zweifel gezogen werden.

*

(Die Gegenwart der Dinge)

Da der Sinn in den Dingen selbst liegen soll und die beschriebenen Dinge als den Sinnen gegenwaertig suggeriert werden, ist die Sprache auf ihre bezeichnende und beschreibende beschraenkt und wird zudem entlastet: Die Dinge sind das Entscheidende, ihre Gegenwart soll angenommen und geglaubt werden und sofern sie selbst Sinn in sich tragen, benoetigen sie die Sprache nicht. Da die Dinge ohnehin fuer sich selbst sprechen sollen, reicht es, dass die Sprache sie aufzaehlt und etikettiert, reichen auch vorwiegend kurze, parataktische Saetze, allenfalls kurze Relativsaetze und temporale oder kausale Fuegungen, anaphorisch aneinanderreiht.
Auf die Entlastung der Sprache zugunsten der Dinge ist auch ihre Allgemeinheit zurueckzufuehren: Haeufig werden Hilfsverben (war, werden, sein, haben) als volle Verben gebraucht, oder es werden sehr verschiedenartige Vorgaenge durch wenige Grundverben wie gehen oder stehen benannt: Die Herberge „war“ein Steinhaus, „stand“ auch neben Ebereschen, und „hatte“ ein flaches, weitvorspringendes Dach, auf dem grosse Granitstuecke lagen. Die Tragebalken „gingen“ weit hervor, und „waren“ zierlich geschnitzt und rot bemalt. In der Gassenmauer „war“ eine Tuer, deren Pfosten rot angestrichen „waren“. Sie fuehrte in die Schenkstube. Nicht weit von ihr „war“ ein Tor, das in den Hof „ging“. Auf der Gasse „standen“ mehrere steinerne Tische. Weiter zurueck „waren“ Pfloecke.

Dieser Eigenschaften der Sprache des Witiko wegen wiederholt sich Satz fuer Satz so vieles - Woerter, Wendungen und Satzformen und Satzrhythmen etwa, aber auch Begruessungen und Verabschiedungen, Ereignisse und Szenen (etwa die zwischen Witiko und und seiner Braut Bertha). Gleichfoermigkeit wird nicht vermieden - sie wird gesucht; nirgendwo wird variiert, Wiederholung ist das ordnende Prinzip der Erzaehlung. Und also herrscht Monotonie, die sich jedoch auf hoechst ueberraschende und ¸berzeugende Weise in Reichtum verwandelt: Das Gleichfoermige, sich Wieder- und Wiederholende wird litanei- oder gesanghaft. Etwas von Zauberspraechen, Beschwoerungs- und Gebetsformeln, von feierlicher Zeremonialitaet ist zu hoeren. Dazu tragen auch Ankaenge an die Sprache der Bibel und zahlreiche Archaismen bei (Gesiedel, dankte des Grusses, geniesset der Gesundheit des Leibes, eines Augenblickes ritt sie zu allen Kriegern). Das Feierliche und tendenziell Sakrale dieser Dichtung wird aber stets dadurch konterkariert und aufgewogen, dass das, was da feierlich evoziert wird, meist die alltaeglichsten Dinge sind:
Da naeherte sich einer der zwei Maenner, welche nicht weit von dem Reiter gesessen waren. Es war der aeltere, der mit den grauen Haaren. Als er nahe genug war, sagte er zu dem jungen Manne: „Das ist ein schoenes Tier, ein starkes Tier, es wird auch gewiss sehr schnell sein.“
„Ja es ist ein gutes Tier, und fuer mich reicht seine Schnelligkeit hin, sagte der junge Reiter.
So betet die Erzaehlung gleichsam den Rosenkranz alltaeglicher Dinge, der wieder und wieder durch die Finger der Sprache und durch die Sinne seines Helden gleitet. Die Scheu des Erzaehlers ueber das unmittelbar Gegebene hinauszugehen, bewahrt ihn aber davor, die Grenze des aesthetischen, des Reizes zu ueberschreiten, sich auf aesthetisch zerstoererische Weise der Sphaere des Religioesen oder Sakralen zu ueberantworten.

*

Wie der Welt ein verborgenes Sinn-Gesetz eignet, so eignet der menschlichen Seele ein Gewissens-Gesetz, das Teil jenes Sinn-Gesetzes ist. Die Seele muss sich ihm nur ¸berlassen. Da jenes Gewissens-Gesetz in vielfacher Weise mit den weltlichen Gesetzen des Reiches zusammhaengt - das Herzogtum Boehmen soll auf der himmlischen Ordnung gruenden -, gehen das Erkennen und Erlernen der weltlichen Ordnung und des Gewissens (als Intuition der himmlischen Ordnung) Hand in Hand.

So waechst Witiko die Erfahrung irdischer und himmlischer Dinge nicht nur durch christliche Erziehung zu (durch den Vater Benno, einen Benediktiner, und seine ebenso fromme Mutter), sondern auch durch seine Teilnahme am oeffentlichen Leben (etwa bei der Versammlung der Lechen und geistlicher Wuerdentraeger im Wysherad), aber auch an kriegerischen Handlungen, oder durch die Ausbildung und Fuehrung der vorbildlich-einfaeltigen Maenner des Waldes. Nach und nach also erfaehrt Witiko, wie Staats- beziehungsweise Rechts- und Gewissensfragen, wie Irdisches und Himmlisches ineinandergreifen. (In langen und manchmal wenig motivierten und oft didaktisch wirkenden Passagen wird Witko ueber die Geschichte und die Traditionen seines Landes ebenso wie ueber Fragen der himmlischen Ordnung unterrichtet.)

Alles, was Witiko erfaehrt, traegt dazu bei, dass er die vorgegebene Ordnung, das Gesetz, dem er folgen soll, erkennt oder doch erahnt, so dass er sich auf die rechte Weise einfuegt und gehorcht. Analog zur Haltung des Erzaehlers ist sein Verhalten - mag er selbst das auch nur vage fuehlen - auf Objektivitaet gerichtet. Und er geht dabei nicht anders vor als der Erzaehler selbst: zunaechst ueberlaesst er sich den Dingen, wie sie ihm begegnen, und den Lehren, wie sie ihm erteilt werden, und haelt deshalb (konsequent induktiv) nichts von vornherein fuer nebensaechlich. Nie will er dabei ueber den ihm jeweils vorgegebenen Horizont hinaus. Indem er seine Grenzen richtig einschaetzt, bleibt er seiner Aufgabe und sich selbst treu. Weil er auf dem richtigen, dem induktiven Weg erfahren und gelernt hat, sich der weltlichen wie der himmlischen Ordnung zu unterwerfen, erlangt er spaeter natuerliche Autoritaet und endlich legitime Herrschaft .

*

(Moral, objektiv)

Da beide, der Erzaehler und Witiko, auf das Objektive aus sind, bezeichnet die Erzaehlung nichts Seelisches direkt: sie spart dessen wˆrtliche Bezeichnung aus. Denn nur das Nichtbezeichnen des Seelischen legt die gelaeufige Annahme fern, dass seelische Vorgaenge und damit moralische Tatsachen (im Unterschied zu jenen der Sinne) subjektiv und die entsprechenden Gewissensentscheidungen willkuerlich oder beliebig seien. Indem keine inneren Vorgaenge beschrieben werden, deren Wirklichkeit und Bezeichnung schwankend, veraenderlich und unbestimmbar erscheinen, schwaecht die Erzaehlung die uebliche Ansicht, es gaebe zwei Welten: eine Welt der hart-objektiven Fakten, die durch die Sinne erfahren wird und also auch sprachlich unmissverstaendlich und objektiv wiedergeben werden kann, und eine davon unterschiedene, innere Welt des Subjekts, die nicht verlaesslich beschrieben werden kann.
Bevor etwa Witiko die Rechtmaessigkeit des Anspruchs Wladislaws auf den Herzogthron anerkennt, zieht er sich zurueck; er wartet ab und sammelt Indizien und Anzeichen. Wie er aber zu ihrer angemessenen Einschaetzung gelangt, bleibt ungesagt. Wir koennen nur aus Witikos Zoegern erschliessen, dass er abwaegt, wie er handeln soll. Doch was und wo dieses Abwaegen sei, ob es in Witiko oder sonst irgendwo zwischen Himmel und Erde stattfindet, bleibt offen.
Das Nichtbezeichnen des Seelischen erlaubt ueberdies, auch dann die Sprache als Ausdruck eines Objektiven zu verstehen, wenn dieses Objektive das Himmlische ist, die unsichtbare Ordnung. Da nicht bestimmt wird, wo das sogenannte Seelische ist, da es nicht in einem Subjekt lokalisiert wird, kann jede angemessene Entscheidung als das Ergebnis des richtigen Verhaeltnisses zu allen Dingen, insbesondere zu den hoeheren Maechten gelten.
Auch deshalb nimmt die Erzaehlung in ihrer feierlich-monotonen Zeremonialitaet Momente des Gebets so selbstverstaendlich auf, ohne dadurch zu nahezulegen, lediglich subjektiver Ausdruck zu sein.

*

(Der induktive Roman)

Once upon a time and a very good time it was there was a moocow coming down along the road and this moocow that was coming down along the road met a nice little boy named baby tuckoo... - So beginnt James Joyce` A portrait of the artist as a young man, ein paradigmatischer Bildungsroman der Moderne. In einer einfachen, reduzierten sich der Wahrnehmung eines Kleinkindes anverwandelnden Sprache laesst sich da der Prozess des Sprach- und des Weltwissenserwerbs seine Hauptfigur mitvollziehen.
Eine vergleichbare mimetische Funktion hat die Schreibweise des Witiko: Es [das Pferd] ging einen langen Berg hinan, dann eben, dann einen Berg hinab, eine Lehne empor, eine Lehne hinunter, ein Waeldchen hinein, ein Waeldchen hinaus, bis es beinahe Mittag geworden war. - Witiko ist kein Kind mehr, doch ist er ein junger Mann, der das erste Mal in die weite Welt hinausgeht. Und etwas von der neugierigen Anfaengerhaftigkeit seiner Welt-Wahrnehmung und von ihrem Ausgeliefertsein an das ihm noch Unbekannte wird in der Beschraenkung auf das sinnlich Wahrnehmbare fuehlbar, in der Langsamkeit des Anfangs ueberhaupt, in dem Witiko aus naechster Naehe dabei beschrieben wird, wie er sich Schritt in Schritt hinauswagt.
Dass die Einzelheiten kaum ueber sich hinausweisen, dass ihr Sinn anheimgestellt wird, dass sie anfangs unterschiedslos als gleichwichtig behandelt werden, stimmt mit jener Anfaengerhaftigkeit ueberein: Als wuerde Witiko zunaechst alle Deutungen noch hinausschieben, als muesste er zunaechst einmal wahrnehmen, als koennte er des Verstaendnisses dessen, was ihm geschieht, noch entbehren, ja, als ob es fuer ihn, den noch Unerfahrenen, verfehlt waere, durch vorschnelle Erklaerung und Deutung den Sinn seines Erlebens zu verkuerzen und so zu entstellen.
Auch die syntaktische und lexikalische Armut der Sprache, die Bezeichnung der Einzelheiten durch allgemeine und austauschbare Ausdruecke bezeugen jene Unerfahrenheit: Wenn man ein Anfaenger in der Welt ist, dann hat man, ueberwaeltigt, nur wenige Ausdruecke fuer die unterschiedlichsten Dinge. Unerfahrene sind wie Kinder, und Kinder sind ein wenig wie Naturwissenschaftler, die noch keine Theorie fuer den Zusammenhang der Dinge haben: Sie nehmen wahr, sie registrieren, und sie bezeichnen noch (vergleichsweise) undifferenziert. Der Erzaehler des Witiko, sich an seinen Helden angleichend, verfaehrt ebenso.

Es ist im uebrigen auch jene Armut, die die Sprache der Erzaehlung manchmal abstrakt und umstaendlich erscheinen laesst. Immer ist hilflose Deixis nahe und damit die allgemeinste Bezeichnung Ding. Und wenn sich, vor allem zu Beginn der Erzaehlung, Amtssprache, Zeremonialitaet und archaisiernd Episches vermischen und deshalb die mimetisch motivierte Unvertrautheit des Bezeichnens von einer Ungeschicklichkeit und Umstaendlichkeit des Autors nicht immer nicht unterscheidbar ist, reicht das manchmal bis ins unfreiwillig Komische: Als dieses [das Pferd] davon frass, und in seinem Fressen fortfuhr, ging der Reiter wieder zu seinem Tische, setzte sich dort nieder, und sah vor sich hin. - Dass das Pferd in seinem Fressen fortfuhr, das ist nicht nur abstrakt und umstaendlich, sondern auch formelhaft und bildblind: denn es legt hier allzu nahe, dass sich das Pferd, waehrend seines Fressens, tatsaechlich auf und davon macht.

*

(Der historische Roman, induktiv)

Wenn man mit der, wenn man in der Welt anfaengt, liegen die sinnlich wahrnehmbaren Dinge am naechsten. Mit ihnen beginnt die Erfahrung jedes Einzelnen. Nach und nach erst, im Laufe der Zeit, erahnt man die allgemeinen Gesetze, denen das einzelne Wahrgenommene unterworfen ist.
Dieser Gedanke ist so selbstverstaendlich wie gelaeufig. Die Erfahrung sinnlicher Einzelheiten aber zum Anfang historischer Erfahrung zu machen, den Weg von den Sinnen zur Historie ueberhaupt als Weg darzustellen, ist aeusserst ungewoehnlich (auch wenn historische Erfahrung sinnliche Erfahrung voraussetzt). Denn viel plausibler ist es anzunehmen, es gebe keine ueberzeugende Bruecke zwischen dem wie Unvermittelten der Sinne und dem Bereich, in dem Geschichte erfahren und geschrieben wird: Die Induktion, die zu - wie immer prekaeren - historischen Gesetzmaessigkeiten fuehren mag, beginnt nicht mit Sinnesdaten, sondern mit einzelnen historischen Fakten; sie beginnt nicht mit natuerlichen, sondern mit sozialen Daten, denn historische Tatsachen sind nicht unmittelbar gegeben; sie sind in hohem Grade vermittelt, vage, oft luecken- oder zweifelhaft ueberliefert und ausgewaehlt und von ihren Interpretationen kaum einmal hinreichend zu unterscheiden. Es sind Tatsachen, die nicht oder nicht ohne Willkuer oder wenigstens nicht ohne Spekulation in einem Gesetzeszusammenhang aufzuheben sind.
Witiko dagegen will Geschichte anders schreiben, will auf andere Weise historische Erkenntnis gewinnen, als es ueblicherweise geschieht: historische Erkenntnis soll auf verlaeslicheren Daten errichtet werden, und deshalb soll das ansonsten allzu Vage und Unsichere auf dem Grund des Sichersten gebaut sein, das wir zu kennen glauben: auf dem, was uns die Sinne vorgeben.
So nimmt die Erzaehlung das Bild des Augen- und Ohrenzeugen woertlich: Faktum ist ihm zunaechst nur, was fuer Augen und Ohren gegeben ist. Vor allem zu Beginn ist der Erzaehler kaum einmal Chronist historischer, sondern vor allem Verzeichner sinnlich wahrnehmbarer Ereignisse. Und umgekehrt werden dehalb auch die eigentlich historischen Fakten (und ihre Deutung) zumeist durch die direkte Rede der Figuren vermittelt: Durch die ihr eigene Unmittelbarkeit und Sinnlichkeit wie durch die glaubhafte Praesenz der sprechenden Figuren soll die direkte Rede die Wahrheit ihrer Darstellung bezeugen.

*

(Vergehen, vergaenglich)

Wie komplex und widerspruechlich der Begriff des Historischen in Witiko ist, zeigt sich an der paradoxen Funktion, die die Wiedergabe sinnlich wahrnehmbarer Ereignisse hat. Zum einen sind diese Ereignisse in ihrer unaufhaltsamen Abfolge Zeichen des staendigen Vergehens; - wie es scheint, der reale Grund historischer Erfahrung. Dem entspricht im jene seltsame Transformation des historisch Authentischen, das zunaechst das sinnlich Wahrnehmbare selbst ist und nicht etwa eine historische Quelle oder ‹berlieferung. Zum anderen aber zeigt die Erzaehlung auch die ahistorische Seite sinnlicher Erfahrung. Denn diese erweist sich nach und nach als Immergleiches: Nur fuer den Unerfahrenen ist die Welt bunt und vielfaeltig und nicht recht auf gemeinsame Nenner, also auf Begriffe zu bringen. - Und eben das zeigt sich auch in der anfaenglich scheinbar krassen Unangemessenheit der Sprache, der anscheinenden Hilfslosigkeit allgemeiner Bezeichnungen vor einzelnen Eindruecken.
Nach und nach erst stellt sich heraus, dass, wenn nicht dasselbe, so doch immer wieder das Gleiche durch die Sinne erfahren wird: Die Dinge sind, sie waren, sie werden immer auf dieselbe Weise; die Dinge sind immer Dinge und sie sind immer rot, blau, gelb, und die Dinge, so verschieden sie erscheinen moegen, gehen, stehen und liegen: Die gleichfoermige und monoton-anaphorische Sprache des Witiko verweist auf dieses Abstrakte und Allgemeine am Grunde des einzelnen Sinnlichen, der bunten Oberflaeche wechselnder Eindruecke.
Eben deshalb stellt sich jene Unangemessenheit der Sprache nach und nach als Taeuschung heraus. Und also veraendert sich der Allgemeinheitsgrad der Sprache kaum: sie wird im Laufe der Erzaehlung nicht wesentlich konkreter. Es zeigt sich - im Verein mit Witikos Entdeckung des auch das Historische umfassenden Sinn-Gesetzes -, dass (in genauer Analogie uebrigens zu Hegels Darstellung der sinnlichen Erfahrung in der Phaenomenologie des Geistes) das Abstrakte, das Allgemeine die anfaenglich verborgene Wahrheit des Sinnlichen ist; dass also nicht die Sprache vor den Dingen hilflos ist, sondern der noch unerfahrene Witiko vor der Sprache und den Dingen.
Was fuer die Sinneserfahrung gilt, gilt in Witiko auch fuer jene Erfahrung, die aus der Sinneserfahrung induktiv resultiert: fuer die reale Geschichte. Auch ihre Wechselfaelle, so bunt und vielfaeltig ihre Erscheinungen auch sein moegen, gehorchen unveraenderlichen, ja, ewigen Gesetzen, einer Tiefen- oder Hoehenordnung, deren oberflaechliche oder ephemere Erscheinung reale Geschichte ist. Eigentlich ist auch die Geschichte nur Schauplatz des Wirkens einer unveraenderlichen himmlischen Moral oder auch einer ebenso feststehenden, hoellischen Amoral - jedenfalls einer unveraenderlichen Hierarchie der Werte. So liegt der Sinn historischer Konflikte und historischer Dramatik nicht in der Geschichte selbst. Geschichte kann deshalb nichts Tragisches sein; denn tragisch waere sie nur, wenn sie als letzte, nicht transzendierbare Realitaet anzuerkennen waere: In Witiko laesst sich das Problem der Geschichte nicht auf der Ebene loesen, auf der es sich zu stellen scheint.

*

Es ist unvermeidlich, dass diese Sicht Witiko in Widerspruch nicht nur zu dem uns spaetestens seit dem neunzehnten Jahrhundert gelaeufigen Bild der Geschichte und der historischen Erkenntnis setzt, sondern auch zum realistischen Gesellschaftsroman des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. In Georg Lukacs` Studie Der historische Roman etwa wird Witiko als reaktionaer und restaurativ verurteilt und folgendermassen charakterisiert: Witiko (...) ist von Anfang an der vormaerzliche Musterjuengling, das erreichte Ideal des sonst weitgehend gescheiterten Metternichschen „Erziehungwerks“. Die epische Bewegung ist hier rein auesserlich: Schlachten, Paraden, Empfaenge usw., die infolge der breiten Dinghaftigkeit ihrer rein beschreibenden Darstellungsweise den (...) Ausdruck von der Wuerde vollauf rechtfertigen. Traditionsstiftend, prototypisch und verbindlich sind fuer Lukacs dagegen Walter Scotts historische Romane.
Am Masstab dieses Prototypus gemessen, scheitert Witiko. Denn fuer den historischen Roman in der Nachfolge Walter Scotts ist der Preis fuer die Umdeutung des historisch Gegebenen zu dem, was den Sinnen gegeben ist oder dem, was von ihnen seinen Ausgang nimmt, zu hoch: Geschichte einerseits durch den Bezug auf sinnlich Wahrnehmbares, andererseits durch das unveraenderlich-Abstrakte oder gar Ewige begreifen zu wollen, fuehrt aus der Perspektive des klassischen historischen Romans dazu, dass das, was ueblicherweise als historisch konkretes Faktum angenommen wird, allzu periphaer und allzu unbestimmt bleibt.
Tatsaechlich werden im Witiko kaum historische, soziale, in der angeblich beschriebenen Zeit liegende Gruende oder Motive gegeben. Denn diese sind hier nicht wesentlich, sondern akzidentiell, ephemere Verkoerperung einer unveraenderlichen und ahistorischen Tiefen- oder Hoehenordnung.
In Witiko bleiben nicht nur die meisten gelaeufigen Kategorien historischer Darstellung (etwa oekonomische oder soziale) beinahe voellig ausgespart, sondern es werden auch Kategorien, die wir heute als historisch kontingent und haeufig als subjektiv zu denken gewohnt sind, als zeitlos gueltig angenommen: So trifft der mit hoechster moralischer Autoritaet ausgestattete Bischof Silvester in der Frage der Herzogsnachfolge eine Entscheidung, deren Rechtfertigung im Vollzug goettlichen Willens und Gesetzes besteht. Ebenso beruft sich der rechtmaessige Herzog Wladislaw auf goettliche Auserwaehltheit: Gott hat das Recht nicht sinken lassen, wenn er es auch noch weiter prueft. Das Recht des Herzogs soll also gottgegeben sein; das enthaelt, dass seine Feinde schon deshalb, weil sie seine Feinde sind, Unrecht haben, ja, auch moralisch versagen und nur Betrug und Verrat als Mittel des Kampfes kennen. (So verhaelt es sich etwa in der ersten Entscheidungsschlacht auf dem Berg Wysoka)

*

Was bleibt, wenn das Erzaehlen fast ein Aufzaehlen ist, ein gleichfoermiges, gleichmaessiges Aneinanderreihen von Dingen und Ereignissen, ein Wieder- und Wiederholen? Was bleibt, wenn weder Psychologie noch Dramatik, wenn aber auch keine semantisch sprechende Ordnung aus ineinander verwobenen Motiven und Handlungsstraengen entworfen wird, wenn kaum bildhafte Wendungen gebraucht werden, die auf einen begriffliche Raum verweisen koennten und ihn zu einer Gestalt immanent vor- und zurueckverweisender Beziehungen machten?
Was bleibt, ist zunaechst das, was Lukacs als sinnentleerte Auesserlichkeit an Witiko so sehr verurteilt: einerseits die Reize der Dinge und Ereignisse selbst: der Wald, das Reiten, die Pferde, die Gewaender, die Werkzeuge, die Pracht der Schlachten und Versammlungen; und andererseits die Reize der Sprache: etwa die endlose, an die Genealogie im ersten Buch Moses erinnernde, Aufzaehlung der schoenen, fremden Namen der Lechen oder der Maenner des Waldes. Es ist der Reiz einer Sprache von manchmal hoelzerner Wucht, von kraftvoller Einfachheit, ja, Einfaeltigkeit; und es ist vor allem der Reiz des feierlich-zeremoniellen Austausches von Dingen, Gesten und Worten:

So lebe wohl, du lederner Mann`, sagte der Scharlachreiter.
Lebe wohl`, sagte Witiko.
Reite gl¸cklich deiner Wege, und suche nicht gleich Kampf mit Maennern, die du auf der Strasse findest`, rief Odolen.
Wenn sie ihn nicht hervorrufen, suche ich ihn nicht`, sagte Witiko.
Reite froehlich`, rief Welislaw.
Du auch`, sagte Witiko.
Lebe wohl`, rief Ben.
Komme bald zu uns zurueck`, rief der Sohn des Nacerat.
Lebet wohl`, sagte Witiko.
Die von hinten kamen nun auch hervor, und riefen: Lebe wohl.` Reite gluecklich.` Lebet wohl`, antwortete Witiko.

Es ist bezeichnend fuer den Umgang der Erzaehlung mit Zeitlichem (und deshalb auch mit Historischem), dass in der Szene einer Verabschiedung - einer Szene somit, die wesentlich auf das Zeitvergehen bezogen ist - der Zeitverlauf dennoch wie bis zum Stillstand verlangsamt wird: In feierlicher Zeremonialitaet wird das Vergehende und das Veraenderliche aufgehoben. In solchen, nach den ueblichen Begriffen des Historischen so irrelevanten Szenen, zeigt sich die der Erzaehlung gemaesse Wahrheit der Geschichte auf besonders eindrueckliche Weise: Als ob der fliegende Pfeil dieses Erzaehlens eigentlich immer ruhte, bleibt die Zeit stehen, und alles scheint wiederholbar, alles zeigt sein Unveraenderliches - selbst der Augenblick der Trennung. Gleich wird Witiko wieder aufbrechen und weiterreiten, von Ereignis zu Ereignis, und jene Wahrheit der Erzaehlung wird wieder mehr zum Hintergrund werden - zu dem, was man mitten unter den Dingen und mitten unter den Saetzen, die sie beschreiben, vergessen koennte, wie vieles sich selbst dann, wenn Witiko sich von einem Ort zum anderen zu bewegen scheint, wiederholt.

*

(Verkörperung, Entkörperung)

Die Dinge aendern sich, die Geschichte vollzieht sich, aber nur auf das Ahistorische, Unveraenderliche oder Ewige hin. Eben dies zeigt sich schon in der kleinsten Erzaehleinheit der Erzaehlung, im einzelnen Satz: Sogleich kam ein Maedchen aus dem Hause, das rote Wangen hatte, und dem zwei lichtgelbe Zoepfe von dem Nacken ueber den roten Latz und das wollene schwarze Untergewand herab hingen.
Zweimal wird dasselbe Wort Rot gebraucht, und dies, obwohl es ganz unwahrscheinlich ist, dass der Eindruck roter Wangen und eines roten Latzes so viel Aehnlichkeit hat, dass dasselbe Wort als Wiedergabe einer Empfindung gerechtfertigt ist. Das Entscheidende ist hier jedoch eben nicht deskriptive Differenziertheit, sondern der Verweis auf das Unveraenderliche. Dieses Unveraenderliche des Wortes wie auch des Gegenstandes, das es bezeichnet, ist aber der Begriff, die Idee. So verweist die Wiederholung desselben Wortes Rot auf den Begriff Rot, auf das Ideelle der einzelnen Erscheinung und seiner Bezeichnung. Die Allgemeinheit der Bezeichnungen, zunaecchst als Mimesis der Unerfahrenheit Witikos fasslich, ist nach und nach als Unerfahrenheit hoeherer Ordnung zu erkennen. Durch die Worte und die Dinge scheint das Ideelle, das vor und nach jeder Erfahrung sei.
Man taeuscht sich also, wenn man glaubt, man koenne nicht zweimal dasselbe wahrnehmen, man koenne nicht zweimal dasselbe sagen, man koenne nicht zweimal in denselben Fluss steigen; und man taeuscht sich eben deshalb auch, wenn man glaubt, das Historische als kulturelle Seite des physikalischen Zeitvergehens aus sich selbst begreifen zu koennen. In jedem Wort, durch seine, wie es zunaechst scheint, hoffnungslose Allgemeinheit wird offenbar, dass die Dinge durch die Worte an einer begrifflichen, einer ideellen Realitaet teilhaben. Jene Teilhabe entkoerpert die Dinge, zeigt ihr Aufgehobensein in ihrem Prototypus, in ihrer Idee. Im Witiko sind die Ideen das eigentlich Reale, und wenn sie sich in Raum und Zeit in Einzelgegenstaenden oder in historischen Ereignissen verkoerpern, dann bedeutet, ihre ideelle Realitaet zu vergessen, sie misszuverstehen.
Dieser Platonismus waere blass und kunstfremd und muesste die Erzaehlung als Kunstwerk scheitern lassen, wuerden seine sinnlichen Reize nicht ihrerseits so maechtig und gegenwaertig, ja, nicht dann und wann so sehr ¸berhand nehmen. Vor allem in den so monotonen Symmetrien der Saetze, in ihrer litaneihaften Selbsttaetigkeit, ihrer sinnlichen, buchstaeblich reizvollen Gegenwart, und insbesonders in den zeremoniellen Szenen kommt die Poesie der Erzaehlung gleichsam zu sich. Und eben dort wird jener Platonismus tatsaechlich aufgewogen, da kommt der Vorgang des Entkoerperns, des Durchscheinens auf die Ideen ins Gleichgewicht mit ihrer Verkoerperung, so als ob sie - gleichsam als Synthese der oft widerspruechlichen Momente der Dinge (seien sie jene der Sinne oder jene der Geschichte) - in einer neuen ideellen Koerperlichkeit aufgehoben wuerden, in einer Leibhaftigkeit der Universalie: Es ist eine Verklaerung des Koerperlichen und ein Leibhaftwerden des Abstrakten, das hier stattfindet. Und eine solche entkoerperte Leibhaftigkeit ist deshalb nicht Verdraengung oder unvollstaendige oder nicht voellig geglueckte Sublimation - was sie in Witiko und im Werk Stifters ueberhaupt oft genug sein mag -, sondern ein anderer und schoenerer Zustand. Es wird dann eine Anmut offenbar, die Koerper und Ideen einander gleichermassen hervorrufen und einander anverwandeln laesst.

Als Witiko seiner Braut Bertha das erste Mal im Wald begegnet, kommt es zu einem an die Wechselreden des Hohen Liedes erinnernden Gespraech:

Ach, was Ihr schoene Haare habt!` sagte das Maedchen.
Und was du fuer rote Wangen hast`, erwiderte er.
Und wie blau Eure Augen sind`, sagte sie.
Und wie braun und gross die deinen`, antwortete er.
Und wie Ihr freundlich sprecht`, sagte sie.
Und wie du lieblich bist`, antwortete er´.

*

·^·