H. C. Artmann und die heruntergekommene Poesie


© Franz Josef Czernin

all lust ist mir verstorben
saturnius mit seiner sensen gar
tut schneiden die rosen wunderbar
steht hinter efeu und grabstein
tut schneiden die rosen wunderbar
eine jede die er am stengel trifft
fällt troffen hin von seinem gift
will sich schier vor efeu bedecken
fällt troffen hin von seinem gift
dem vöglein zerschneid er die flügel
daß es totstürzt am grasichten hügel
will seinen flug ihm nicht lassen
totstürzt am grasichten hügel
die sensen scharf traf die liebste mein
so muß ich von ihr auch geschieden sein
ein mond ist mir worden die sonnen
zerschneid saturn mein fleischern herz
und richt mein sehnsucht himmelwärts
all lust ist mir verstorben 1)

An diesem Gedicht (es ist eines der Treuherzigen Kirchhoflieder) scheint so manches schief oder verquer.

Das beginnt schon mit dem ersten Vers all lust ist mir verstorben. Lautete er Alle Lust ist mir verstorben, er liesse sich leichter sprechen, geradezu gassenhauerisch selbstsicher und einprägsam, in trochäisch-wuchtigem Auftritt. So aber - denn die ansonsten die beiden Worte verschmelzenden l´s verlangen, die Grenze zwischen all und lust durch ein Absetzen zu markieren - stauen sich entweder zwei Hebungen, oder die beiden Worte werden über die Wortgrenzen hinweg wie eines gesprochen; und auch in diesem Fall würde man die erste Silbe nicht ganz unbetont lassen und also schwebend betonen.

Wohl auch um des Metrums willen, das merklich werden soll, muss dem so sein: bis auf den sechsten Vers - eine jede die er am stengel trifft; doch auch dessen Anfang kann als Anapäst aufgefasst werden - beginnt jeder mit einer unbetonten Silbe und deshalb wohl auch der erste. Das anfängliche Stocken zeitigt aber auch Gewinn: Denn klingt nicht um seinetwillen mit all lust auch die Allust an, die Lust auf das All? Und eben dieser kosmische Anklang setzt sich im zweiten Vers fort (saturnius mit seiner sensen gar).

Saturnius jedoch mit seiner Sense, der Planet, der für Zeit und Vergänglichkeit steht, dieses barocke Sinnbild, diese Allegorie des rosenschneidenden Todes in einem Gedicht, das in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben worden ist! Als ob nicht spätestens seit dem jungen Goethe die Personifikationen mit ihren Attributen in der lyrischen Dichtung abgewirtschaftet hätten. Und überdies die Rede von der Rose - kaum etwas Abgegriffeneres, Welkeres scheint denkbar in einem Gedicht als Rosen, und schon gar eine Rose, die für die verstorbene Geliebte steht (die sensen scharf traf die liebste mein). Überhaupt alle die Versatzstücke, die abgekartete Friedhofszenerie, das Kulissenhafte insgesamt, mit efeu, grabstein und hügel.

Und seltsam verschlissen und unzeitgemäss auch, im zweiten Vers, das Füllwort gar (saturnius mit seiner sensen gar); noch dazu an exponierter Stelle, am Versende und als Reimwort. (Denn gar bedeutet hier nicht "sogar"; oder jedenfalls nicht schlüssigerweise.) Volksliedhaftes wird so evoziert, und mit ihm sich der Reimnot verdankende Reime. Zudem reimt sich gar auf wunderbar, es ist also ein semantisch leerer Reim. Und semantisch ebenso leer und auch so banal wie abgegriffen reimt sich herz auf himmelwärts. Das Wort wunderbar jedoch, mit der wie lange ausatmenden letzten Silbe am Schluss eines Verses klingt ein wenig nach Matthias Claudius (der weisse Nebel wunderbar). Dieser wahrhaft treuherzige Volksliedton zieht sich durch das ganze Gedicht: tut schneiden heisst es etwa im dritten Vers, und auch die Ellisionen troffen, zerschneid, worden, richt, der Diminutiv vöglein und das nachgestellte Pronomen in die liebste mein tragen zu diesem Eindruck bei. Nun stammt das Gedicht aus einem Band von Pastiche-Gedichten 2).

Und ein Pastiche ist per definitionem Nachahmung eines Vorgegebenen und steht deshalb unter seinem eigenen Gesetz. Doch sind diese Pastiche-Gedichte kennzeichend für Artmanns Werk ingesamt, das als Erweiterung, ja Universalisierung der Idee des Pastiche verstanden werden kann. Viele seiner Gedichte reden in fremden und vorgefundenen oder auch in erfundenen Zungen, sind gewissermaßen Nachahmungen von Gedichten aus möglichen literarischen Welten.

Umgekehrt ist das zitierte Gedicht nicht ausschliesslich ein Pastiche: ahmt es auch ein vergangenes literarisches Zeitalter nach, so doch nicht ohne innere Widersprüche. Denn schief oder quer stehen einige Eigenschaften des Gedichtes nicht nur gegen die Zeit, in der es geschrieben worden ist, sondern auch gegeneinander.

So gehört manches an dem Gedicht in das zwanzigste Jahrhundert, erinnert stark an dessen modernistische, ja avantgardistisch-experimentelle Traditionen: die durchgehende Kleinschreibung etwa oder die Abwesenheit von Satzzeichen; aber auch das kalkuliert Repetitive der Kombinatorik, das kunstvolle Abwechseln und raffinierte Ineinandergreifen der Motive und die Wiederkehr bestimmter Verse wirken in diesem Sinne und offenbaren deshalb jenes Volksliedhafte wie auch das Unzeitgemässe als künstlich und zweifelhaft. Und auch bestimmte einzelne Worte, Formeln und Wendungen lassen daran zweifeln: etwa die seltsame Formel dein mond ist mir worden die sonnen (ohne das Wie des Vergleichs, ohne Wenn und Aber gewissermaßen), die in einem Gedicht vor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr unwahrscheinlich ist und zudem die Verfremdung durch die scheinbar grammatikalisch falsche Endung von sonnen hörbar macht. Dieser Vers lässt sich deshalb auch als asyntaktisch lesen, doch auch deshalb, weil die in ihm enthaltene Inversion syntaktische Ambiguität nahelegt. (Was ist hier Nominativ und was hier Akusativ? Die Zeile allein lässt das nicht erkennen.)

Und steht nicht auch das grausam-krasse fleischern herz (zerschneid saturn mein fleischern herz) - in dem der Fleischer so deutlich zu hören ist - quer zu manchen anderen vormodernen Registern des Gedichtes? Ebensowenig wohl wäre das kühne Verb totstürzen - eine Neubildung aus dem Geläufigen zu Tode stürzen - im achtzehnten Jahrhundert in einem Gedicht denkbar (überdies ist es nicht-reflexiv gebraucht), eher schon im Zusammenhang expressionistischer Lyrik. Im Vers dem vöglein zerschneid er die flügel aber wird ein so surreal-phantastisches wie preziöses Moment fühlbar, das im leisen Streit mit dem Volksliedton liegt. Denn der Tod müsste seine Sense schon ungewöhnlich hoch und treffsicher schwingen, um dem vöglein im Flug die flügel zerschneiden zu können, so dass es am grasichten Hügel totstürzt.

Und vielleicht gehört zu diesen Verrückungen oder Verfremdungen, aber auch zu jenem Gebrauch von Abgegriffenem oder Zerschlissenem auch das Konsequenzlose eines Motivs: denn dass die Sense des Saturn, dass der Tod giftig ist (fällt troffen hin von seinem gift), wird nicht wieder aufgegriffen. Das Motiv verdankt sich also vielleicht wieder vor allem dem Reim oder auch einem möglichen (hier aber fernliegenden) Attribut des Todes, der den Giftbecher reicht (kommt troffen hier auch ein wenig von triefen?), jedoch dann nicht oder nicht ohne weiteres zugleich der mit der Sense schneidende sein könnte. Und wäre dann dieses wie beliebige Zugreifen auf Topoi beziehungsweise Sinnbilder nicht deren beliebiger Verfügbarkeit geschuldet und deshalb nicht selbst ein Moment jener Distanz zu ihnen?

*

Auch in dem folgenden Gedicht scheint manches auf beliebiger Verfügbarkeit zu beruhen und daraus einige komische Wirkung zu gewinnen:

als die dunkle nacht
wie schaum in den gärten zerfiel,
als der frühe hahn
wie eine rote zunge den tag traf,
als ich die augen wieder aufschlug
meinem mädchen zugewendet,
fragte ich: wie kann es sein,
wie kommt es, dass nun schon
so der tau glänzt
und ist doch die sonne
noch brusttief hinter den bergen?

und die erste der lerchen,
liebes kleinod der felder,
warf ihre stimme,
eine münze aus der höhe des himmels,
uns zu:
geht hinaus an den schimmernden bach!
geht hinaus zu den rieselnden weiden!
und wir liefen zu bach und zu weiden
und sahn die erwachsenen nester
und sahn zwischen welle und kiesel
wie sich die forelle durchtrug
und über der brücke fanden wir
die koppeln der pferde und rinder,
aufgescharrt die braune erde,
schöne zeichen der nächtlichen hufe,
ein zerwühltes bett unter flieder
und atmendem geißblatt

den feuchtgrünen klee küßten wir,
den süßen der fröhlichen blätter;
drei mal schneller schlug mir
das blut meiner freunde,
ein ganz lichter morgen,
lerchendurchpfeilt,
rund in dem tal einer aufgegangenen sonne,
als ich heute mit meinem mädchen
unsre festung verließ... 3)

Als die dunkle nacht/ wie schaum in den gärten zerfiel. Lässt sich dieser Anfangssatz des Gedichtes als Darstellung eines Vorgangs innerhalb unserer gewohnten Wirklichkeitsannahmen begreifen? Lässt sich etwa ohne weiteres annehmen, in dem Satz sei eine sinnliche Wahrnehmung dargestellt? Natürlich kann man für jeden Satz eine plausible Erklärung finden, vereinbar mit dem, was wir als wirklich annehmen. Das liegt am Verstehen und an der Sprache, an der Weise, in der diese beiden Momente zusammenspielen. Stellt man sich jedoch einen sinnlich wahrnehmbaren Vorgang vor, dann wäre dieser eher als phantastisch oder surreal zu begreifen, als aus einer Wirklichkeit stammend, die anderen als den uns gewohnten Gesetzen folgt, solchen etwa, die durch eine science fiction dargestellt werden könnten.

Wie Schaum also zerfällt die Nacht? Wie schwarzer Schaum? Vielleicht gleichsam als schwarze Nebelmilch der Frühe? Und Schaum in Gärten? Die Gärten und der schwarze Schaum, da ist ein Widerstreit fühlbar. So eignet dem Satz nicht nur etwas Surreales oder Phantastisches, sondern auch etwas Schauerromantisches. Mit diesem wohl schwarzen Schaum der Nacht zerfällt auch etwas Gespenstisches oder Albtraumhaftes. Ist der Satz also besser als Darstellung eines, sagen wir, Seelenzustandes zu verstehen denn als Darstellung einer phantastischen oder surrealen Wahrnehmung? Und vielleicht wird die Nacht und ihr Albträumen auch abgetan, ja abqualifiziert, etwa wenn man annimmt, in die Formel spiele das geläufige Träume sind Schäume hinein.

Jedenfalls haben diese Verse etwas Gesuchtes und spektakulär Auftrumpfendes. Sie wollen poetisch sein, poetischen Effekt machen. Und dieses Effektvolle mag auch mit dem konzeptionellen Übergewicht des involvierten Bildes zusammenhängen und verleiht diesem etwas Reproduzierbares. Man kann sich deshalb auch leicht Alternativen vorstellen, Alternativen ähnlicher Plausibilität und ähnlicher Unbestimmtheit: die dunkle Nacht, die wie Schweiss oder wie eine Säure oder wie kalter Kaffee zerfloss, oder die dunkle Nacht, die wie ein Stück Kohle, wie Asche, wie ein Hut zerfiel usw.

Dass das Surreale oder Phantastische wie auch das Gespenstische oder Albtraumhafte hier vor allem als Ergebnis einer bewussten Suche, ja eines kombinatorischen Kalküls erscheint, und kaum als glücklicher Fund aus den Tiefen eines kollektiven Unbewussten glaubwürdig wird, lässt es auch in Zusammenhang mit barocken Verfahren verstehen: ein guter Teil barocker Dichtung verkörpert oder illustriert Begriffe oder Ideen in Bildern, die, da sie in Hinblick auf jene Begriffe oder Ideen entschlüsselbar sein sollen, als Sinnbilder erscheinen. Die Triftigkeit und die Überzeugungskraft dieser Bilder will weder in erster Linie an empirischen oder gewohnheitsbedingten Wirklichkeitsvorgaben gemessen werden, noch an ihrer Überzeugungskraft als Emanation eines Unbewussten, sondern viel mehr an der Schlüssigkeit jener Verkörperung oder Illustration.4)

In Artmanns Gedichten überschneiden sich diese beiden ästhetisch verschiedenartigen und aus unterschiedlichen literarischen Epochen stammenden Momente häufig darin, dass das prätendierte Unmittelbare des Surrealen oder Phantastischen einer es destruierenden Kombinatorik ausgeliefert wird, während andererseits das, was dazu einlädt, als bildhafte Verkörperung oder Illustration von Begriffen oder Ideen gelesen zu werden, surreal oder phantastisch wirken kann, da der Schlüssel fehlt, jene Begriffe oder Ideen verbindlich zu rekonstruieren.

Was in jenen Anfangsversen jedenfalls merklich wird, ist die mögliche Mechanik oder Kombinatorik der Erzeugung solcher Bilder und deshalb ihr untergründig Abgekartetes. In dem Bild selbst wird sein vergleichsweise simples Erzeugungsprinzip fühlbar und damit dessen möglicher inflationärer Gebrauch. Auf die Beliebigkeit oder Willkürlichkeit des Bildes wird also durch es selbst hingewiesen und damit auf das längst Historische und Wohlfeile des Lautreamontschen Gesetzes vom Zuammenfinden einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch. Durch die Mechanisierung oder auch Barockisierung seines Surrealismus, seiner Phanstastik macht das Gedicht (das wird in seinem Verlauf deutlicher) ironisch, ja parodierend die Lyrik der fünfziger und sechziger Jahre hörbar, eine damals verbreitete domestizierende Adaption des Surrealismus. Nicht nur beim frühen Celan, sondern auch bei Ingeborg Bachmann findet sich diese Art von Bildern, dieser Surrealismus aus zweiter Hand, der seine formalistische Kombinatorik und damit seine barocken Züge unter existentialistischem Pathos verbirgt. (Ingeborg Bachmann: der Finsternis schwarze Flocken beschneiten dein Antlitz.)

Die nächsten beiden Verse - als der frühe hahn/ wie eine rote zunge den tag traf - haben die grammatikalische Form und den Wie-Vergleich mit den ersten beiden gemeinsam; doch diese Gemeinsamkeit verdeckt einige Unterschiede.

Das phantastisch-Surreale ist hier, wenn auch vorhanden, weniger vordergründig als in dem Bild von der dunklen nacht, die wie schaum in den gärten zerfällt. Denn der Satz als der frühe hahn/ wie eine rote zunge den tag traf ist weniger leicht in eine phantastische, doch kohärent vorstellbare Wahrnehmung übersetzbar. Während es naheliegt, für die dunkle nacht, einfach die Dunkelheit zu setzen, so dass deren Zerfallen zu Schaum als, wenn auch als phantastische, Wahrnehmung, vorstellbar ist, liegen die Dinge im zweiten Satz komplexer: Der Hahn ist ein früher hahn, ein morgendlicher Hahn wohl. Das Temporaladverb wird jedoch normalerweise nicht als gegenständliches Attribut gebraucht, deshalb ist dieser Gebrauch betont poetisch, nämlich eine (metonymische) Übertragung, und zugleich unanschaulich.

Überdies soll der frühe hahn den Tag wie eine rote zunge treffen. Nun hat der Hahn eine Zunge, doch ist diese nicht eines seiner charakteristischen Merkmale. Charakteristisch wäre wohl eher der Kamm des Hahns, der noch dazu häufig rot ist wie der Morgen. Vielleicht ist da also eine Verschiebung von einem Teil des Hahns zu einem anderen involviert; und diese wäre nicht zufällig oder willkürlich. Denn es geht in jenem Bild wohl auch um den Hahnenschrei. Man kann hier also eine komplexe Synästhesie herauslesen: Der Hahnenschrei ist rot (eine schreiende Farbe), er ist eine rote Zunge - da schiessen das Morgenrot und der Hahnenschrei (und vielleicht auch der Hahnenkamm) zusammen -, und die Zunge schnellt heraus und trifft den Tag. Das Bild enthält auch, untergründig, Alarmierendes, etwas von einer Feuermeldung: Der rote Hahn, der am Dach kräht, das heisst auch: es brennt; es ist, wie man auch sagt, Feuer am Dach. Dieses Alarmierende weist zurück auf das Unheimliche, Gespenstische und Albtraumhafte, das, wie die ersten beiden Verse sagen, eben erst zerfällt. Vielleicht ist aber die Zunge auch der Hinweis darauf, dass der Hahn etwas mitteilt, dass er in seiner Hahnensprache schreit, was dann, wie der nächste Vers - als ich die augen wieder aufschlug - suggerieren mag, in Übereinstimmung mit den ersten beiden Versen, zur Traumsphäre gehörte.

Damit, dass in diesem einzigen Ausdruck Verdichtungen und Verschiebungen komplex ineinandergreifen, metonymische (zunge steht für Sprache oder für den Kamm) und metaphorische (der frühe Hahn ist wie eine rote Zunge) Verfahren, evoziert dieser Vers modernistische Schreibweisen oder Traditionen: semantische Ballungen, Assoziationscluster, die vieles zugleich sagen lassen. Auch darin und nicht nur wegen des Hahns und der möglichen Synästhesie, der schreienden roten Farbe, erinnert das Bild an Verse Clemens Brentanos, der zu Recht als einer Vorläufer jener Schreibweisen oder Traditionen gilt. In Wenn der lahme Weber träumt etwa, einem der berühmtesten Gedichte Brentanos, ist von Schmerzschalmeien die Rede.

Im Unterschied zum ersten Bild (dem Zerfallen der dunklen Nacht in den Gärten) ist das zweite nicht ohne innere Zirkularität. Denn der frühe Hahn, der wie eine rote zunge ist, ist doch, plausibler Lesart zufolge, selbst der Tag beziehungsweise das Morgenrot. So träfe im roten Hahnenschrei der frühe Tag den frühen Tag, der Tag also sich selbst. Der frühe hahn, diese Formel, ist zudem einigermaßen pleonastisch. (Denn da gerade erst der schwarze Schaum der Nacht zerfällt, ohnehin ist klar, dass vom frühen Morgen die Rede ist). Zirkularität und Pleonasmus sind Aspekte davon, dass dem Satz, dem Bild insgesamt etwas so Hohles wie Aufgedonnertes, ja halb Unsinniges eignet, das deutlich auf sein Willkürliches und Unangemessenes verweist. Pleonasmus und Zirkularität unterminieren das Bild, seine Glaubwürdigkeit, setzen es gleichsam unter Anführungszeichen und lassen seinen stilistischen und historischen Ort erahnen. Darin hat es manches mit dem ersten Bild des Gedichtes gemeinsam, mit der dunklen nacht, die wie schaum in den gärten zerfiel.

Folgenreich für den weiteren Verlauf des Gedichtes sind nun weniger die beiden immerhin verwandten Register, mit denen dieses Gedicht so aufwendig, ja geradezu grosspurig und bombastisch anhebt, sondern eher die subtile und vielfältige Unterminierung und Sub-, ja Perversion ihrer eigenen stilistischen Mittel beziehungsweise der Schreibweisen oder Traditionen, denen sie sich verdanken.

Denn der Ton des doppelten Anfangs wird schon im nächsten Vers (als ich die augen wieder aufschlug) verlassen und kaum mehr aufgenommen. Das hat jedoch einige Logik für sich, wenn man annimmt, die beiden Anfangsvergleiche gehörten noch einer Traumsphäre an, die ihre Bildhaftigkeit (im ersten Vergleich) und das exzessive Verschieben und Verdichten (im zweiten Vergleich) rechtfertigten. Allerdings stünden diese Vergleiche dann in paradoxem Verhältnis zu dieser Sphäre selbst: denn sie signalisierten viel auffälliger ihr Gesuchtes oder Künstliches und damit Bewusstheit als das meiste dessen, was in dem Gedicht folgt. So verweisen die ersten vier Verse vielleicht eher auf eine bestimmte Vorstellung, ja auf eine bestimmte Theorie des Traums als auf den Traum selbst. (Auch das könnte zum Selbstunterminierenden dieser Verse gehören).

Mit dem fünften Vers - als ich die augen wieder aufschlug - wird jedenfalls ein anderer Ton angeschlagen, und mit ihm beginnt der Tag erst so wirklich; die exzessive Metaphorik auf engstem Versraum, die Verschiebungen und Verdichtungen sind dann verlassen.

Es sei das Gedicht hier weder in seinem ganzen Verlauf nachgezeichnet, noch als Ganzes gedeutet. Nur auf einige seiner Eigenschaften sei hingewiesen, auf bestimmte Momente, in denen Schreibweisen und Traditionen dekonstruiert werden.

So beginnt die zweite Strophe mit dem Vers und die erste der lerchen. Es heisst hier eben nicht: die erste Lerche, sondern die erste der lerchen; feierlicher, bedeutungsvoller (noch dazu den Raum eines ganzen Verses beanspruchend), aber auch sinn-verschiebend. Denn die erste der lerchen, das erinnert an Formeln wie der erste der Menschen oder der erste der Dichter; man könnte also denken, dass hier eine besonders hochgestellte Lerche zu singen beginnt. Das enthält einen auffälligen und komisch wirkenden Anthropomorphismus (menschlich-soziale Hierarchien werden auf nicht-menschliche Natur projiziert.). Und diese Komik beruht wesentlich darauf, dass der Vers dennoch temporal verstanden werden kann - als ob nur von der ersten morgendlichen Lerche die Rede wäre. Dazu kommt die Sprichwörtlichkeit des Lerchengesangs in Liebeszusammenhängen - und es handelt sich ja auch hier um ein Liebesgedicht -, man denke etwa an das zum geflügelten Wort gewordene Es ist die Lerche, nicht die Nachtigall, aus Shakespeare´s Romeo und Julia. Wie schon in den ersten beiden Versen wird auch ein Spiel mit dem Anachronismus und mit dem poetischen Klischee getrieben.

Dieses zwiespältige Spiel wird im nächsten Vers unmissverständlich: Denn da wird diese Lerche liebes kleinod der felder genannt, sehr treuherzig, sehr traulich sozusagen und in einigem Widerspruch zu ihrer feierlichen Evokation als erste der lerchen. Spätestens an diesem Punkt kann kein Zweifel mehr am Ironischen, ja auch Komischen und Parodistischen dieses Gedichtes bestehen. Der Vergleich der Stimme der Lerche mit einer Münze (warf ihre stimme/, eine münze aus der höhe des himmels/, uns zu) lässt so in seiner Unanschaulichkeit, aber auch in seiner etwas haltlosen Grossartigkeit und in seinem konzeptuellen Überhang, in seinem Präziösen und seinen synästhetischen Konnotationen noch einmal an den frühen hahn denken, der wie eine rote zunge traf.

In den Versen geht hinaus an den schimmernden bach!/ geht hinaus zu den rieselnden weiden! wird die Naivität weiter forciert und eben damit blossgestellt: Die Lerche (das Wappentier der Liebenden) ruft den Liebenden etwas zu. Denn so ist die Poesie seit Orpheus: sie versteht die Sprache der Tiere; und so bleibt die Poesie, wenn sie kindlich sein will und uns Märchen erzählt.

Die Attribute des Bachs liessen sich bezeichnenderweise auch vertauschen: ebensogut könnte vom rieselnden bach die Rede und von den schimmernden weiden. So gut verständlich, orpheischer Dichtereigenschaften zum Trotz, ist die Lerchensprache eben doch wieder nicht. Und es kommt hier auch nicht darauf an: die Lerche singt eben (wie man meist unbemerkt metaphorisch zu sagen pflegt), und das motiviert vielleicht die Gleichgültigeit der Bedeutungen und auch die liedhafte Wiederholung der Aufforderung an die Liebenden. Für sich genommen, klingt diese Aufforderung, bedingt durch die Form der direkten Rede, der ersten der lerchen, dem lieben kleinod der felder in den Schnabel gelegt, märchenhaft naiv. Doch kaum ist die direkte Lerchenrede beendet, hat sich der Ton des Gedichtes schon wieder verwandelt: das Gedicht erzählt jetzt im Imperfekt, nicht ohne untergründiges Pathos und Feierlichkeit, in syntaktisch parallelen, also anaphorischen Sätzen: und wir liefen zu bach und zu weiden/ und sahn die erwachsenen nester/ und sahn zwischen welle und kiesel/ wie sich die forelle durchtrug. Hier geistert wieder die Lyrik der fünfziger und sechziger Jahre, wenn auch diesmal nicht deren Tendenz zum Surrealismus. Denn da ist ein prosaischerer, aber durchaus pathetischer und, mit seinem wir (auch wenn es nur die beiden Liebenden umfassen mag), existentialistischer Ton angeschlagen.

Es ist die Nachahmung oder Darstellung dieses Tons, die den Vers wie sich die forelle durchtrug hervorbringt. Er ist halb unsinnig; jedenfalls ist schwer auszumachen, was mit ihm gemeint sein könnte: Denn was tun Forellen, wenn sie sich durchtragen? Keine plausible gegenständliche Vorstellung liegt nahe, und deshalb wird die Formel als solche deutlich und blossgestellt. Ihre reflexive grammatikalische Form wird merklich und was mit ihr anklingt: Man bringt sich durch (man überlebt). Und erkennt man den Vers als dekonstruierende Nachahmung, dann wirkt seine schwerblütige Ernsthaftigkeit ausserordentlich komisch - und scheint wiedererkennbar: In der Gestundeten Zeit Ingeborg Bachmanns etwa, in dem Gedicht Abschied von England, gibt es gravitätische Formeln, die an jenen Vers erinnern: von meinen Tränen begossen, hieltst du die Gräser satt beispielsweise oder, in, Artmanns Versen vergleichbarer, Anthropomorphisierung (im Gedicht An die Sonne): ...und den Vogel oben/ der seinen Flug überlegt.

Ähnlich untergründig aufgedonnert und in ihrem Pathos wiederum an die Lyrik der fünfziger und sechziger Jahre erinnernd und diese parodistisch dekonstruierend, wirkt auch die Formel die erwachsenen nester im neunten Vers der zweiten Strophe. Das liegt nicht zuletzt an dem prätentiösen Attribut, mit seinem Mehrfachsinn: Nester werden grösser, während sie gebaut werden, in diesem, schon übertragenen Sinn wachsen sie, und sind so verstanden auch irgendwann er-wachsen (wie sonst nur Menschen).

All diese Anspielungen auf eine vergangene, literarische Moderne werden jedoch (von den Anfangsversen einmal abgesehen) vom Firnis eines mittelalterlichen oder minnesängerischen Tableaus überglänzt, der sie halb verbirgt. Das Gedicht spielt in einem fiktiven Minnegesangs-Mittelalter, in einer pastoralen und von jeglichen Zeichen des Modernen, etwa des Industriellen, unberührten Natur. In diesem Sinn ist es, wie all lust ist mir verstorben, ein Pastiche. Doch wird der Begriff des Pastiche nicht einigermaßen überanstrengt, jedenfalls erweitert, wenn er ein Gedicht bezeichnen soll, das mehrere literarische Zeitalter oder Schreibweisen nachahmt und aus so verschiedenartigen Anklängen zusammengesetzt ist?

*

Es gibt auch Gedichte H.C. Artmanns, die, anderes als die zitierten, nicht auf den ersten Blick anachronistisch wirken beziehungsweise als Nachahmung vergangener literarischer Zeitalter. Sie scheinen, im Gegenteil, dezidiert mondernistisch, nämlich das Ergebnis von Verfahren oder Techniken zu sein, die sie als Gedichte der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts kenntlich machen, ja als jenen poetischen Strömungen zugehörig, die häufig avantgardistisch oder experimentell genannt wurden.

Doch auch wenn Artmanns Gedichte einmal auf den ersten Blick modern wirken, stellt sich sogleich jenes untergründige Sub- oder Pervertieren, jene Destruktion unter der Hand ein, die auch die auf den ersten Blick aus vergangenen literarischen Zeitaltern stammenden Gedichte auszeichnet. Nur wird diesmal das angeblich Moderne oder Zeitgemässe destruiert oder wenigstens relativiert. Beispiele dafür finden sich vor allem in den Bänden Landschaften 5) und Flaschenposten und erweiterte Poesie (6: Dort klingt beispielsweise ein Gedicht, das vielfach asyntaktisch und assoziativ ist (und diesbezüglich modernistisch), zugleich wie eine Travestie auf germanische Zaubersprüche (weiss deins gebein/myrthe blau beere/himmel ein sein 7), und ein Lautgedicht, das von Schwitters sein könnte, trägt den Titel ginevra verrät sich im schlaf und der könig artus antwortet ihr mit einem gedicht, wird also König Arthus und damit einer sagenhaften Vergangenheit in den Mund gelegt.8)

So scheint Artmann auch dann, wen er zeitgenössische, ja modernistisch-experimentelle Techniken oder Verfahren anwendet, diese ihrerseits als längst historisch gewordene zu behandeln. Auch in diesen Texten wuchern wiederum die alten Bilder und Motive, heraldische Symbolismen oder sakrale und sprachmagische Anklänge, so dass nicht nur die vormodernen, sondern auch die modernistischen Züge gleichsam unter Anführungszeichen gesetzt werden.

Ein Beispiel dafür sei etwas genauer betrachtet:

die sonne ist ein neues haus
du schreibst es
es ist morgen
wir halten unsre hände durch
die offnen fenster

die grille stellt ihr uhrwerk
du schreibst es
es ist morgen
der tag legt ein blaues kleid
in unsrem garten zurecht

oh wie ist die rose kühl noch
du schreibst es
es ist morgen
die falter hüllen ihre flügel
in seidenpapier noch

jedes wort kommt aus der rose
du schreibst es
es ist morgen
wie schön die blätter so blatt
um blatt zu erwarten

und ein genau gehälfteter apfel
du schreibst es
es ist morgen
vielleicht daß der lerche ihr
flug ihn wieder bindet 9)

Dieses Gedicht ist sogleich als Gedicht aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu erkennen. Nicht nur der Abwesenheit von Satzzeichen und der Kleinschreibung von Substantiven wegen, sondern vor allem dadurch, dass hier am vernehmlichsten die aus den Nachkriegsjahrzehnten aus einer Unzahl von Gedichten bekannte und geläufige prosaisch-karge Nüchternheit spricht. Denn das Gedicht besteht aus einfachen Hauptsätzen, die, was ihre Grammatik angeht, aus einem Sprachlehrbuch stammen könnten.

Dazu kommen die charakteristischen Zeilenbrüche, das wiederkehrende Enjambement, als ein Moment dessen, was so unklar, ja paradox freier Vers genannt wird: wir halten unsre hände durch/ die offnen fenster; der tag legt sein blaues kleid/ in unsrem garten zurecht, oder, noch krasser, in den Versen wie schön die blätter so blatt/ um blatt zu erwarten

Anders als in den zitierten Pastiche-Gedichten entsteht das diesem Gedicht Unzeitgemässe, der Bezug auf vergangene literarische Zeitalter, ja deren Nachahmung gleichsam gegen diesen Haupteindruck. Das poetische Versatzstück lerche etwa, diese Allegorie der Poesie selbst, unterminiert das prosaisch Nüchterne der Syntax und verweist auf poetisch Vergangenes. Ebenso die rose und der in der Poesie des zwanzigsten Jahrhunderts kaum ernsthaft gepflogene Ausruf Oh (Oh wie ist die rose kühl); auch das Preziöse und gesucht Poetische des Vergleichs die falter hüllen ihre flügel in seidenpapier noch erinnert an eine vormoderne Poetik, die noch zwischen poetischen und nicht poetischen Gegenständen unterscheidet. Doch gerade dieser Satz bezeugt auch die Distanz zu jener vormodernen Ästhetik: Denn das Zusammenfinden zweier Poetismen, zweier poetischer Zartheitheiten, des schmetterlingsflügels und des seidenpapiers in einem einzigen Satz bedeutet eine eklatante Übererfüllung einer Konvention des Poetischen und deshalb deren Blosstellung oder Dekonstruktion. Und dafür sprechen auch die schrankenlose Phantastik dieses Bildes, dem, alltäglichen Wirklichkeitsbegriff vorausgesetzt, keinerlei Plausibilität eignet, und das deshalb nichts anderes als poetisch sein kann, wie auch die Verse der tag legt ein blaues kleid/ in unserem garten zurecht, die allzu ostentativ poetisch sind, um sich nicht selbst als abgegriffene Münze zu denunzieren.

Wird dieses Wechselspiel zwischen Zeitgemässem und Unzeitgemässem und zwischen verschiedenen Stilregistern einmal deutlich, dann gewinnt die wiederkehrende Formel (du schreibst es) zentralen Sinn. Sie eröffnet sowohl die modern-zeitgemässen - erinnert sie doch an die in der Modernen fast zu Tode gerittene Reflexion auf die Sprache oder auf den Vorgang des Schreibens - als auch die unzeitgemässen, jener Modernität widersprechenden Aspekte des Gedichtes. Denn bedeutet dieses du schreibst es, dass das aufgeschrieben wird, was geschieht? Oder bedeutet es, dass nur aufgeschrieben wird, so dass es also gar nicht geschieht oder nur als Aufgeschriebenes?

Beides ist möglich, und beide Möglichkeiten werden durch bestimmte Momente des Gedichtes nahegelegt: etwa auch durch die Zweideutigkeit der Verse: wie schön die blätter/ so blatt
um blatt zu erwarten, die nicht zufällig im Unklaren darüber lassen, welche Blätter hier erwartet werden: die Blütenblätter der Rose oder die Blätter, auf die geschrieben wird. Und so gehört es zu dem schönen Schweben dieses Gedichtes zwischen Verschiedenem, auch zwischen verschiedenen literarischen Zeitaltern, dass der Vers das wort kommmt aus der rose, eben im Zusammenhang mit dem zweideutigen du schreibst es, die sagen wir, vormoderne poetologische Ansicht, dass die Worte die Dinge selbst aussprechen, sowohl bestätigen kann (wenn man das, was der Fall ist, aufschreibt), als auch widerlegen könnte (wenn man das, was da behauptet wird, nur schreibt; so dass die Rosen in einem Gedicht eigentlich nur aus dem Wort rose kommen; in Anspielung vielleicht auf das zum Gemeinplatz gewordene Wort Gertrude Steins a rose is a rose is a rose). Zeitgemässes oder Modernes und Unzeitgemässes oder Vormodernes kreuzen sich in jener Formel auch insofern, als deren Wiederkehr sowohl als ein nüchtern-reflektierendes Sich-Selbst-Ins-Wort-Fallen gehört werden kann wie auch als beschwörende Litanei (also als eine sakrale Urform des Poetischen).

Auch der regelmässige Bau der Strophen und die Wiederholung von Worten, Motiven und Zeilen, die dem Prosaisch-Nüchternen entgegengesetzt sind, gehören zu dem Widerspruch zwischen Zeitaltern und Poetiken, der in diesem Gedicht offenbar wird. Und wie seltsam, verquer und halb unsinnig oder agrammatisch das Gedicht endet!: vielleicht daß der lerche ihr/ flug ihn wieder bindet
Das klingt einerseits so, als ob sich das Agrammatische mancher Modernismen hier selbst bezeichnen wollte, andererseits auch so, als ob die Grammatik des Wiener Dialekts herbeizitiert würde. Ob das Gedicht damit zum Schluss kommt, dass sich seine Poesie, ja seine Sprachlichkeit dem Zweifel oder gar einer Art von Lächerlichkeit ausliefert?

*

Ist die Sonne der Poesie untergegangen, dann gehen ihre Monde auf: Gestirne, deren Widerschein sich einer unsichtbaren Lichtquelle verdankt; H.C.Artmanns Poesie ist eine solche indirekte Poesie geborgten Lichts, eine Poesie nach ihrem Untergang. Kaum etwas Wahres ist deshalb an dem Rezeptionsklischee, das Artmanns Werk als letzte Poesie eines letzten Poeten versteht oder gar als insularen Widerstand gegen die moderne, prosaische Welt begreifen will. Artmanns Dichtung lässt, wenigstens in seinen besten Gedichten, nicht auf einen Dichter schliessen, der dennoch und in quijoteskem Wahn auf die Poesie als auf ein Absolutes setzt, auf ihre Substanz etwa, ihre metaphysische Erkenntnisfähigkeit; Artmanns Poesie ist keineswegs spät oder gar zu spät gekommen; im Gegenteil ist sie eines der zahlreichen zeitgemässen Zeugnisse einer in der Moderne stark wirksamen, ja seit ihren Anfängen epochemachenden Erfahrung: Was einst als poetisch gelten konnte, ob nun unter dem Gesichtspunkt vorbestimmter Vokabularien, poetischer Techniken oder Verfahren, poesiegeeigneter Motive oder Gegenstände, besass für die Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr ohne weiteres Gültigkeit. Die poetische Sprache, die rhetorischen Figuren und Mechanismen, die Regeln und Vorschriften, die Gattungen und Genres, die Vers- und Strophenformen standen noch zur Verfügung, aber sie bedeuteten nichts mehr oder wenigstens nicht mehr das, was sie einmal bedeutet haben. Diese Erfahrung, deren sprachskeptisches Moment Artmann mit seinen Freunden der Wiener Gruppe teilte, kann - wie auch die Dichtungen von Achleitner, Bayer, Rühm und Wiener zeigen - zu verschiedenartigen Reaktionen führen; und das Spezifische von Artmanns Dichtung ist in der Art seiner poetischen Antwort auf diese so empfundene Lage zu finden. Diese Antwort fügt sich in eine Reihe anderer ein, und wird im Vergleich und im Verhältnis zu anderen Antworten verständlicher.
Ernst Jandls Poesie etwa antwortet auf andere und dennoch vergleichbare Weise, insbesonders in jenen Gedichten, die in einer, wie sie häufig genannt wird, heruntergekommenen Sprache reden. Auch Jandls Poesie mag von der Erfahrung der Verschlissenheit, Missverständlichkeit und Beschädigung der (poetischen) Sprache, ihrer Entfremdung ausgehen. Doch gerade aus dieser Verfassung gewinnt Jandl etwas anderes und dies auf unvorhergesehene Weise:

abendglanz

kommen wieder schon weg deren tagen
sein schon wieder der sonnen verschwunden
sein aber noch ein abglanz ein abendglanz
dass ich immer noch sehen ohne den elektrischen lichten
sehen was?
sehen was sehen ich nicht magen tu
aber immer noch mehr gut als schauen in spiegeln
wo den fratzen ich sehen den anspucken ich tu 10)

Aus der Not der Beschädigung entsteht die Möglichkeit neuartiger Konstruktion; Sprachlosigkeit schlägt um in eine neue Sprache, die ihre Gegenstände angemessen darstellen soll. Die Sprache ist wieder Ikone ihres Gegenstandes, sie wird aufs Neue in Kraft gesetzt, auch wenn sie ihre Gegenstände nur mehr auf bestimmte Weise darstellen kann, und vielleicht auch nur mehr bestimmte Gegenstände. Nicht anders verhält es sich etwa auch in der Prosapoesie Elfriede Jelineks. Der alltägliche oder auch literarische Sprachschutt und Phrasenmüll werden zu einer wahren Gerümpelplastik aufgetürmt, eben dies aber wird als adäquate Darstellung jenes verlorenen und verdorbenen, ja, infernalischen Welt nahegelegt, heisse diese nun Österreich, Hölle oder die Neue Kronenzeitung.11)

Doch der zweite Schritt, der Vorgefundenes zerlegt und auf neue Weise zusammenfügt, um angemessen darzustellen, unterbleibt in der Poesie Artmanns in hohem Maß.

Ist Artmanns Poesie also das Zeugnis eines Traditionalismus, der sogar noch die ihm zeitgenössischen Verfahren erfasst und diese auf die überlieferten und vergangenen bezieht? Auch dieses Klischee der Artmann-Rezeption birgt wenig Wahres. Nicht mehr Wahres jedenfalls als ein im Wortsinne oberflächlicher Begriff von Tradition erlaubt. Denn Tradition haben, das hiesse doch eigentlich, mit den und durch die überlieferten Formen und Ästhetiken deren produktive Kräfte aufzuspüren und zu verwandeln. Und dieser Begriff von Tradition setzt Kontinuität und Kommensurabilität, ja eine Tiefenordnung und -entwicklung kultureller Zeiträume voraus. Artmanns Dichtung jedoch ist die implizite Negation eines Kulturbegriffs, der innere Logik oder Entwicklung der Künste erlaubt und der verlangt, Substanz in einer Dialektik von Bewahren und Verwandeln zu erhalten. Denn in Artmanns Poesie wird Tradition vor allem auf Formen, ja auf Reize reduziert. Diese Formen, diese Reize werden ausgestellt, sie sind der Mond, der die untergegangene Substanz der poetischen Sonne reflektiert. Doch wie geschickt diese gesuchte Oberflächlichkeit so etwas wie Gehalt oder Tiefe vortäuscht, wie verfänglich und verführerisch diese Oberfläche ist; wie durch sie das immer noch irgendwie vertraute Poetische, so wie es uns überliefert scheint, evoziert wird! Das Wohlfeile, das Heruntergekommene ihrer eigenen Mittel verbirgt Artmanns Poesie, wenn auch nicht gänzlich (sonst wäre sie nichts als epigonal oder auch nur Parodie), sondern, wie in dem zitierten Gedicht, in so feinfühliger wie aufspürbarer Weise. So wird in dieser Poesie eine subtile Subversion in Szene gesetzt. Man wird zu ihr verführt, auf dass man die Zeichen der Zeit erkenne; im besten Fall wird man dazu gebracht, die Naivität der eigenen Wirklichkeits- oder Welterfahrung zu begreifen: das Trugbild einer Erfahrung, die eigentlich keine mehr sei.129

Nein, Artmanns Gedichte haben eigentlich keinen Gegenstand oder, wie man hier besser sagen würde, haben ihre Gegenstände in geringem Maß; oder wenn sie doch einen Gegenstand in hohem Maß haben, dann nur den, keinen haben zu können.

Keine Verzweiflung aber wird darüber fühlbar, kein Drama wird daraus gemacht und auch kein geheimnisumwitterter Ernst. Der Inhalt dieser Poesie ist vor allem ihre Form und die Tatsache, dass dem so sei; und dennoch ist da nichts vom Hautgout eines Ästhetizismus à la Huysmans oder George, nichts vom Eingeweihtenstolz auf raffinerte, der Menge unzugängliche artistische Genüsse. Artmanns Verse sind vor allem leichtsinnige Kratzfüsse, Verbeugungen oder Handküsse; hier wird durch Blumen gesprochen, doch, was durch Blumen spricht, das, worum hier poetische Kränze geflochten werden, das ist so viel, so wenig wie nichts. Ein Austausch graziöser Höflichkeiten (doch ohne Hof) oder von Grobheiten und Deftigkeiten (doch ohne Ziel und Zweck, sich selbst überlassen), von Posen aller Art (die einander in den Arm fallen oder auf den Arm nehmen), von Floskeln und Formeln findet statt, die, wie subtil verschleiert auch immer, fühlen lassen, dass sie Floskeln und Formeln sind. Diese Poesie prätendiert auf das Hohe, ja manchmal auf ihre Hoheit, auf ihr königliches Amt, doch pocht sie zugleich schön verstimmt auf dessen Hohlheit; sie überlässt sich dem Niedrigen oder Trivialen, doch enthebt sie es aller seiner sozialer Schwerkräfte. Denn mit nichts unter ihrer Sonne, das heisst, unter ihrem Mond, soll da Sinn-Staat zu machen sein. Es soll ja überhaupt nichts dahinter sein, keine Welt hinter den tausend Buchstaben, hinter ihrem zierlichen und anmutigen Selbstvergnügen, ihrem zeremoniellen Tanz.

Und worin bestünde dann der Wert dieser Dichtung? Zum einen darin, dass ihre Leere - die diejenige aller Welt sein soll und also auch die der Poesie - so anmutsvoll, so glänzend arrangiert ist, dass dieses Nichtige, wie von selbst unausweichlich und universell zu werden scheint, evident und ubiquitär. Und zum anderen darin, dass diese Leere geradezu begehrenswert und anziehend wird; kaum einmal schien das Sinnlose und Substanzlose verführerischer, ja köstlicher; kaum einmal hat eine Dichtung sich selbst und damit auch uns souveräner und heiterer der Leere anheimgegeben. Nirgendwo sonst ist das Nichts ein frischer Wind, der all das zu versprechen scheint, was die Worte nicht halten wollen.

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1) H.C. Artmann, Das poetische Werk, Hg. von Klaus Reichert, Band VI Epigrammata & Quatrainen, Berlin, München und Salzburg 1994, Seite 11.
2) So werden sie jedenfalls in einer Editiorischen Notiz vom Herausgeber Klaus Reichert bezeichnet.
3) op. cit., Band VI, Seite 75.
4) Vergleiche zum Beispiel: Marian Szyrocki, Die deutsche Literatur des Barock, Stuttgart 1979, Seite 29f.
5) op. cit, Band V.
6) op.cit., Band IV.
7) op. cit, Band IV, :: deutsche ansprache für das einhorn, Seite 5.
8) op. cit, Band IV, Seite 19.
9) op. cit, Band V, Seite 18.
10) Ernst Jandl, der gelbe hund, Darmstadt 1980, Seite 128.
11) Und es ist auch diese Haltung, die in Artmanns Poesie keinen Platz lässt für über das Ästhetische hinausreichende Hoffnungen. Keine Utopie am Horizont, keine politische, keine gesellschaftliche, und auch keine des individuellen Lebens, nicht einmal eine negative. Und denkbar fern stehen deshalb auch diese Gedichte dem Pathos der deutschsprachigen Nachkriegslyrik, etwa Christine Lavants oder Ingeborg Bachmanns, und schon gar der biederen Authentizitäts- und prosaisch-politischen Alltagsgläubigkeit neuer Sensibilitäten der siebziger und achtziger Jahre.
12) So gehört die missverständliche Vorstellung, die in Artmanns Gedichten den letzten Ritter des Poetischen am Werk sieht, zu dem, was diese selbst erheischen, nämlich als Verstehensmoment herausfordert. Die Nostalgie und Sentimentalität, die durch das Historisierende der Oberfläche evoziert werden (und der manche Gedichte auch selbst erliegen), sind Teil der Ästhetik. Diese verlangt, den falschen Schein für bare Münze zu nehmen, und den Weg zurückzulegen von der naiven Identifikation des Begriffs mit der Sache zum Bewusstsein unüberbrückbarer Distanz zwischen ihnen. Artmanns Poesie setzt sich gleichsam unter Anführungszeichen, lässt die Hinfälligkeit ihrer poetischen Mittel fühlbar werden und den Gegenstand (diesen Gott aller gläubigen Poesie) einen guten Mann sein.


 
 



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