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MARCEL REICH-RANICKI
ODER DIE KRITIK EINER LITERATURKRITIK


© by Franz Josef Czernin


7. KAPITEL
MARCEL REICH-RANICKI UND DIE LYRISCHE DICHTUNG
(FAST EIN VERRISS)


© Franz Joseph Czernin

1

Des Schriftstellers jederzeit wiederholbare und brauchbare Handgriffe machen sein Handwerk aus, sein Metier, seine professionelle Vernunft, welche Teil hat oder haben sollte an der allgemeinen. Der goldene, wenn auch doppelte Boden dieses Handwerks und zugleich sein Stoff soll die Wirklichkeit sein, die der Schriftsteller mit Hilfe von Geschichten in den Kunst-Griff zu bekommen sucht, die er so artistisch und virtuos zu erzählen versteht, dass er sie überwältigend natürlich erzählt. Die imaginäre Wirklichkeit, die so entsteht, wird der wirklichen exemplarisch abgetrotzt, und bezieht sich somit auf sie. Denn genau darin besteht die Verantwortung und das Engagement des Schriftstellers und der allgemeine und öffentliche Nutzen der Literatur, die somit auch einen vernünftigen Sinn hat, den alle teilen könnten und sollten. Der vernünftige Sinn, diese Gesellschaft von Übereinstimmungen, dieser Common sense, ist der, den alles, was es wirklich gibt, haben könnte oder sollte, er ist sowohl die Moral als auch die überprüfbare Wahrheit unserer Geschichten. Diese moralische Wahrheit wie auch diese wahre Moral zeigen etwas von der wirklichen, aber doppelbödigen Geschichte und Gegenwart Deutschlands, die wiederum durch die Gegenwart der allgemein üblichen deutschen Sprache bezeugt wird, welche aber insofern nicht allzu gegenwärtig werden sollte, als sie selbst nur das Werkzeug ist, um auf das zu zeigen, was sie nicht ist. Die deutschsprachige Literatur jener deutschen Gegenwart zeigt auf die aktuelle Wirklichkeit des deutschen Sprachraums, an der wir alle Teil haben oder haben sollten, und sichert deshalb auch den Sinn, den wir (sind wir vernünftig) alle teilen oder teilen sollten, und dessen wir uns durch das Handwerk des professionellen deutschen Schriftstellers versichern können, der uns im übrigen auch erfreuen und ergötzen können sollte.

- Ja, Bruder Reich-Ranicki, kaum einer kann sich davon freisprechen, dass ihm das Mühlrad auch ungefähr so im Kopf herumgeht, wenn er sein Leben träumt oder seine Träume lebt und webt zwischen grammatikalischen und anderen Gewohnheiten, zwischen den Fragen und Antworten der Zeit, der Zeitung oder sonst einer Prosa des Jahrzehnts; und vielleicht ist es ganz gerechtfertigt, die Literatur unter so manchen Umständen vor allem als Fortsetzung eines solchen Träumens oder Webens anzusehen, aber zugleich als unterhaltende oder auch erbauliche, als moralische oder aber auch wahre Beschreibung aller dieser Dinge, die sich zwischen Himmel und Erde so selbstverständlich leben und träumen lassen. Denn warum soll nicht auch das Literatur sein, was jene Empfindungen, Einsichten, Anschauungen Voraussetzungen, Schlüsse usw., von denen wir alle zumeist zu leben glauben, im grossen und ganzen bestätigt? Warum soll die Literatur den Sinn, den wir meistens alle teilen, die Sprache, die wir meistens alle sprechen, die Wirklichkeit, die wir meistens alle vorzufinden übereinkommen, nicht bezeugen? Warum soll denn das Schreiben oder Lesen von Literatur im grossen und ganzen nicht so geschehen, wie uns allen unter den meisten Umständen geschieht? Wirkt denn nicht auch dieses Stück Literatur, das ich hier zu schreiben versuche, vor dem Hintergrund aller dieser fundamentalen Übereinstimmungen unserer gemeinsamen Lebensform?
Werde ich nicht selbst zu meinem eigenen Bruder Reich-Ranicki, indem ich mich oder ihn so anspreche, Vernunft, Grammatik und Argumente, aber auch die Realität - etwa die Realität der Rezensionen Reich-Ranickis - in Anspruch nehme, ja auch an eine Art Moral appelliere, und mit all dem auch die schöne und fruchtbare Gewohnheit ausübe, die zwischen dem unterscheiden lässt, was zu dieser Sprache selbst gehört, und dem, was mir als das vorschwebt, was ich allen meinen Brüdern, und also auch mir selbst, sagen will?
Dieser Aufsatz verweigert sich also womöglich keineswegs der Interpretation, von der Welt so zu schreiben, als gäbe es sie schon jenseits dieses schreibenden Entwerfens. Wahrscheinlich werden hier Dinge, Eigenschaften und Individuen zu bezeichnen versucht, so als stünden diese auch dazu zur Verfügung. Schon dass ich auch auf diese Schreib- bzw. Lesart angewiesen bin, bezeugt, dass wir, Reich-Ranicki und ich, auch in einem Boot sitzen.
Nein, ich behaupte nicht, dass man die Dinge nicht unter Umständen, und selbst unter literarischen Umständen, in vielerlei Hinsicht so sehen kann, ja sogar sehen soll, wie wir alle sie zumeist sehen; ich behaupte nicht, dass diese Not nicht auch eine Tugend sein kann. Und ich würde mir auch selbst widersprechen, wenn ich aus dieser Schrift schliessen wollte, dass ich unter allen Umständen einen fundamentalen und unüberbrückbaren Unterschied zwischen Schriften, die eine Wirklichkeit jenseits ihres jeweiligen Verständnisses in Anspruch nehmen lassen, und Schriften, die das nicht zu tun scheinen, behaupten wollte. Es ist nur der Unterschied zwischen Lesarten, und ob er als unüberbrückbar gedacht wird, hängt wiederum davon ab, wie jene Lesarten gelesen werden, also auch von den Texten, vor deren Hintergrund sie sich entwickeln.

Um es noch einmal und zum letzten Mal zu sagen: meine Kritik an Reich-Ranickis kritischer Literatur ist vielmehr die, dass er nicht hinreichend die Grenzen seiner Lesart erkennt, ihre Abhängigkeit von Common sense bzw. üblichem Sprach- und Weltgebrauch, und dass er damit auch das nicht gut genug begreift, was ihr widerspricht, und gerade deshalb nicht imstande ist, Reflexion und Vernunft hinreichend extrem zu bestimmen, sie noch dort zu erahnen, wo sie dem Common sense spotten, und andererseits aber auch nicht imstande ist, das fremde Andere, zum Beispiel Wahn und Irrationalität dort aufzuspüren, wo die Übereinstimmung mit dem Common sense das Gegenteil suggeriert.
Und das zeigt sich nicht nur allgemein in seiner Rezeption von Werken, die von unseren üblichen sprachlichen Gewohnheiten um mehr als ein bestimmtes Mass abweichen, sondern im besonderen in seiner Rezeption der Werke jener literarischen Gattung, für die solches Abweichen wohl näher liegt als für die anderen Gattungen: in seiner Rezeption lyrischer Dichtung.

2

In manchem erinnert Reich-Ranickis Begriff des Engagements an den Jean-Paul Sartres, wie er ihn in seiner berühmten Schrift Was ist Literatur? entwickelt.
Im Unterschied zu Reich-Ranicki hat aber Sartre die tatsächlich moderne Lyrik, ihre wesentlichen Traditionen rezipiert, und für ihn bedeutet ihre Sprache eine Herausforderung, die er leidenschaftlich und auf einigem theoretischen Niveau zu bewältigen sucht. Sartre versucht wenigstens, die literaturkritischen Konsequenzen der Tradition moderner Lyrik zu begreifen, einer Tradition, die er vor allem in den Werken Mallarmés und Valérys verkörpert sieht, beziehungsweise in allen Werken, in welchen deutlich wird, inwiefern ein instrumenteller und deskriptiver Begriff von Sprache, gerade um seiner theoretischen, etwa ontologischen, aber auch um seiner interpretations-praktischen Folgen willen, scheitert. Und Sartre gelingt dabei auch eine einleuchtende und genaue Beschreibung dieses rein dichterischen, nämlich weltentwerfenden Umgangs mit der Sprache, eine sprachphilosophische Reflexion dessen, was Gottfried Benn primäres Verhältnis zum Wort genannt hat. Man könnte also Reich-Ranickis unklares Beharren auf dem, was er literarisches Engagement nennt, viel leichter akzeptieren, wenn, wie bei Sartre, eine Reflexion verschiedener Sprechweisen und, damit verbunden, verschiedener Wirklichkeitsbegriffe stattfände. So zweifelhaft und brüchig Sartres idealtypische Unterscheidung zwischen der lyrischen Dichtung und den anderen literarischen Gattungen auch sein mag bzw. seine damit verbundene Vorstellung von Kommunikation und sein diffuser Begriff von Engagement, so nützlich ist sie wenigstens insofern, als sie jene Versuchung geringer werden lässt, der Reich-Ranicki so häufig unterliegt: Gerade lyrische Dichtung, aber auch Dichtung überhaupt, unmittelbar mit einer als vorgegeben gedachten Wirklichkeit bzw. bestimmten kommunikativen Zwecken kurzzuschliessen, und dann ontologische Vorannahmen und persönliches Engagement als einander wechselseitig implizierend anzunehmen, also das Voraussetzen von Wirklichkeit zu einer moralischen Frage zu machen und die moralischen Fragen zu einer vorausgesetzten Wirklichkeit.

*

Wenn es wahr ist, dass sich Literatur, welche die Konventionen des üblichen Sprachgebrauchs vergleichsweise deutlich oder auffällig verlässt, vor allem anhand der lyrischen Dichtung begreifen lässt, dann lässt sich auch behaupten, dass manches von dem, was Reich-Ranicki an der Prosa der perhorreszierten Avantgardisten abstösst, deren Lyrisches ist - gesetzt, man versteht darunter, dass in der lyrischen Dichtung, eben um jenes Verlassens wesentlicher Konventionen üblichen Sprachgebrauchs, die literarische Konvention als Konvention immer deutlich bleibt. Die lyrische Dichtung ist der Bereich, in dem die Konventionen der Gattung nicht so leicht natürlich wirken, das heisst allgemein üblicher Sprache und dem Common sense gemäss, wie die Konventionen der anderen literarischen Gattungen. Sie sind von denen der üblichen Kommunikation viel deutlicher unterschieden als die des Romans, jedenfalls jenes Romans, der für Reich-Ranicki repräsentativ für die deutsche Nachkriegsliteratur ist.

In der lyrischen Dichtung spielen also der Alltagssprache (auch der Alltagsssprache als literarische Konvention) wie auch dem alltäglichen Begriff von Wirklichkeit entgegengesetzte Konventionen eine wesentliche Rolle. Reich-Ranickis Prosa-Ideal aber ist prosaisch und sein Lyrik-Ideal ist es auch. Die Beschränktheit und Einseitigkeit seiner Rezeption zeitgenössischer Literatur hat wesentlich damit zu tun. Die negativen Folgen dieses Mangels zeigen sich dementsprechend weniger deutlich in seinen Rezensionen von Prosawerken als in jenen lyrischer Dichtung. Während zum Beispiel für die meiste von ihm rezensierte Prosa die Trennung zwischen Sprache und Sache, und also diesbezüglich einiger Common sense immerhin einen brauchbaren Ausgangspunkt für eine Interpretation ermöglicht, kann man das für jegliche lyrische Dichtung nur sehr abgeschwächt behaupten - das heisst: dieses Moment spielt in ihr eine viel geringere Rolle. Die Trennung zwischen Sprache und Sache nämlich, die einschliesst, dass man eben über jenes primäre Verhältnis zum Wort nicht oder nicht stark genug verfügt, wird hier - ich möchte sagen: aus gattungsimmanenten Gründen - häufig zu einem ästhetischen Hindernis.

Natürlich gibt es, von dem aus gesehen, der Lyrik verfasst, als Aspekt seiner Strategie, so etwas wie die Intention auf einen Gegenstand und den Versuch, diesen Gegenstand wiederzugeben, und insofern also das Moment der Trennung zwischen Sprache und Sache. Starrt man aber auf diesen Gegenstand, jagt man seinem Vorschweben mit Hilfe der Sprache nach, versucht man ihn zu beschreiben, dann verliert man das von Novalis in seinem Monolog so genannte Eigenthümliche der Sprache aus dem Sinn, jenes Moment, von dem aus die Sprache "eine Welt für sich ausmacht", und sich in ihr vielleicht eben deshalb "das seltsame Verhältnisspiel der Dinge spiegelt", weil sie "mit nichts als mit sich selbst spielt". Als ob man Wirklichkeit oder Erfahrungen gerade dann wiederfände oder zu allererst herstellte, wenn man sich der Sprache selbst hingibt, der wechselwirkenden Entfaltung von Klang oder Schriftbild, Grammatik und Sinn; als ob durch dieses anscheinend so immanente Spiel gerade jener Gegenstand wiedergegeben oder hergestellt würde, nach dem man immer sucht; der Gegenstand, den man nicht finden kann, wenn man glaubt, man könne ihn einfach mit Hilfe jener Verfahren benennen oder zeigen, mit deren Hilfe man sonst, in der alltäglichen Prosa, Gegenstände zu benennen oder zu zeigen glaubt; als ob man gerade dann unwillkürlich zum Spielball der sprachlichen Mechanismen würde, wenn man versucht, etwas mit Hilfe dieser oder jener Form ausdrücken; als ob man dann nur fälschlich glauben würde, wort- sprach- oder sachmächtig zu sein.
Die ernsthafte Kontemplation dieser Möglichkeit wäre ein fruchtbringender Kern jener literarischen Sprachkritik, die Reich-Ranicki so leicht als langweilige, pedantische Experimente denunziert, und der er, und das wird in seiner Rezeption von lyrischer Dichtung am deutlichsten, die Tugenden der Direktheit, des Unverblümten entgegenzusetzen versucht. Davon aber, dass diese Tugenden in der lyrischen Dichtung zumeist Nöte oder Laster sind, will er zu wenig wissen.

Man muss aber zugeben: er will davon auch nicht weniger wissen als die meisten von ihm rezensierten Lyriker. Überhaupt herrscht in der deutschsprachigen Lyrik seit 1945 das unreflektierte Vertrauen auf die übliche Sprache vor, auf ihre, blindlings vorausgesetzte, Fähigkeit, direkt zu benennen, und damit auch die ängstlich-beflissene, aber auch ungeduldige Sicht auf als so und so existierend vorausgesetzte Dinge, also der unbegriffene Drang nach dem Gegenstand. In einer Art Voyeurismus versucht man, sich des Gegenständlichen paradoxerweise dadurch zu bemächtigen, dass man es, offenbar ohne dabei hinreichend zu wissen, was man tut, von sich selbst entfernt, also als Beschreibbares, Vorstellbares und sprachlich Abbildbares festsetzt. Die Nacktheit der Venus, die man so zu Gesicht bekommt, ist aber, wie Octavio Paz in ähnlichem Zusammenhang einmal zu Recht feststellt, kaum die Nacktheit ihrer Schönheit. Es ist wohl nur die entblösste und blossgestellte, um einen guten Teil ihrer Wirksamkeit und Wirklichkeit, also die um ihren Eros Betrogene, welche, durch Reflexe grammatikalischer und anderer sprachlicher Gewohnheiten zum Objekt gemacht, als Trugbild vorschwebt.

Das unreflektierte Vertrauen in den üblichen Rahmen des Sprechens zeigt sich insbesonders in der Lyrik, die von Reich-Ranicki bevorzugt wird, auf vielerlei Weise: zum Beispiel als räsonierender Aphorismus, als Spruchweisheit, verbunden häufig mit einzelnen Bildern oder Metaphern, welche wiederum durch angebliche Beobachtung gerechtfertigt werden und sogleich als angeblich uneigentliche Rede von der angeblich eigentlichen und zentralen ableitbar sind; als lyrisches Notat, mit dem Anspruch, unmittelbar Gegenwärtiges subjektiv wiederzugeben, also als Wiedergabe eines angeblich beobachteten äusseren oder inneren Vorgangs (diese Beobachtungen werden dann in Rezensionen häufig als genau oder präzis bezeichnet; es wäre eine eigene Studie wert, den Missbrauch des Begriffs der Genauigkeit in der gegenwärtigen Literaturkritik zu untersuchen); oder es zeigt sich jenes unreflektierte Vertrauen auch in der so häufig beanspruchten Wiedergabe sogenannter Erinnerungen. Beispielhaft dafür sind die angeblichen Kindheitserinnerungen. Man hält sie wohl per se für "lyrisch", obwohl sie zumeist in nichts anderem bestehen als im Aufzählen von Klischees, alltäglichen und lyrischen, die fälschlich für den Ausdruck von etwas Einmaligem oder Individuellem gehalten werden. Da wird immer von dem Wald, der so tief war, dem Heu das so gut gerochen hat, den Äpfeln die so gut geschmeckt haben, oder aber natürlich von der Grosstadtstrasse, die so schön hässlich verschmutzt war, erzählt, oder gegebenenfalls auch von den Wörtern, die man so heftig oder frisch empfinden konnte. Da werden diese Stunden der wahren Empfindung beschrieben, aber in einer allzu selbstverständlichen Sprache, die das angeblich Heraufzubeschwörende hinterrücks entkräftet. Tatsächlich triumphieren nur entweder Idylle und Sentimentalität, oder eben Anti-Idylle und Anti-Sentimentalität. Der Preis dafür: das angebliche Bild verwandelt sich, ohne dass das der Schreibende oder der Lesende bemerken, in seinen Rahmen, der von sich selbst spricht und das Bild zugleich dementiert. Und es ist diese Art von Dementi (zwischen Sprachgebrauch und der angeblichen Aussage) für die Reich-Ranicki deshalb häufig allzu unempfindlich bleibt, weil er, so als ob nicht auch das angebliche Werkzeug durch die Art, in der es verwendet wird, etwas aussagen würde, auf den Gegenstand starrt, als wäre der die unmittelbare und unvermittelte Erscheinung einer Wahrheit.

Diese, seine kritische Schwäche zeigt sich aber auch darin (und das eher in den letzten 10 Jahren), dass er in einigen Rezensionen (etwa in jenen der Gedichte von Ulla Hahn) die angebliche überzeitliche Verfügbarkeit lyrischer Schreibweisen sanktioniert; von Schreibweisen, mit deren Hilfe man entweder vergeblich vergangene literaturhistorische Zeitalter zu revitalisieren versucht (und sich also dem Epigonalen preisgibt), oder sich damit zufrieden gibt, so zu tun, als könne man neuen Wein in alte Schläuche füllen; als könnte das, was man als neuen Inhalt oder Stoff von der Sprache des Gedichts abtrennt, zeitgemässe Gedichte garantieren. So wird aber nur der alte, unreflektierte Dualismus zwischen Form und Stoff aufgewärmt. Ein Dualismus, dem auch Reich-Ranicki häufig anhängt, und durch den er nicht zufällig gerade in seinem Plädoyer in Sachen Lyrik, klassisch-journalistisch und zugleich klassisch-philisterhaft, auch die Lyrik als Verpackung von Inhalten begreift: "Zu oft haben sie [die Lyriker] der Tyrannei gedient und zu viele Torheiten sind im Laufe der Jahrhunderte von ihnen in bisweilen attraktiver Verpackung angeboten worden..." - Lyriker aber, über die sich so etwas sagen lässt, sind keine.

*

Allen diesen grundsätzlichen Fehleinschätzungen zum Trotz sind Reich-Ranickis Rezensionen lyrischer Dichtung keinswegs durchwegs unsinnig. Wie auch sonst bewährt sich hier seine Fähigkeit zu differenzierter historischer Klassifikation, aber vor allem auch seine Fähigkeit, wie es Robert Musil ausdrückt, à la baisse zu spekulieren, so etwas wie seine desillusionierte Lebensklugheit ins Spiel zu bringen. Falsche Prätentionen, etwa falsche Feierlichkeit, falsches Pathos entgehen ihm daher häufig auch in der Lyrik nicht.
Ein gutes Beispiel dafür ist seine Kritik der Lyrik Stefan Hermlins (Stefan Hermlin, der Poet). In dieser Kritik werden literaturhistorische, soziale und psychische Bedingungen des Hermlinschen Schreibens sinnvoll koordiniert und überzeugend kritisiert. So untersucht Reich-Ranicki das Vokabular Hermlins und begreift es als Hinweis auf die Absichten des Dichters: "Vor allem liebt er das Poetische schlechthin. Er hat offenbar das dringende Bedürfnis, das Dasein zu stilisieren.
Was er schildert, wirkt malerisch und dekorativ. In Hülle und Fülle bietet er uns: Kathedralen, Paläste und Türme, Brunnen, Fontänen und Schwäne, Haine, Hügel und Gestade, Fahnen, Marmor und Glocken." Und Reich-Ranicki kommt zu dem Schluss: "Alles in allem: eine Lyrik voll krampfhafter Wendungen, banaler Verse, pathetischer Töne, konventioneller Symbole, blasierter Posen."

Ähnlich wie der über Stefan Hermlin ist auch der Aufsatz Ingeborg Bachmann oder die Kehrseite des Schreckens ein Beispiel für Reich-Ranickis Fähigkeit, die Physiognomie einer Schreibweise differenziert zu beschreiben. Einerseits mit Hilfe einer Analyse der Einflüsse gewisser historischer und zeitgenössischer Traditionen auf Ingeborg Bachmanns Texte, andererseits mit Hilfe von Ansätzen zu einer systematischen Analyse von Bachmann-typischen Vokabeln und einer Deutung der Bachmannschen Tonfälle.
Aber dieser Aufsatz versucht zugleich noch etwas anderes zu leisten: Er will Ingeborg Bachmanns Ruhm bei Lesern und Kritik deuten, einen Ruhm, der Reich-Ranicki nicht recht geheuer ist. Denn Reich-Ranicki fühlt sich von der Lyrik Ingeborg Bachmanns nicht nur angezogen, sondern auch abgestossen. Und das Ergebnis dieser Zwiespältigkeit ist ein Aufsatz, in dem deutlich wird, dass sich Reich-Ranickis grundsätzlicher Mangel an Sprach- und Wirklichkeitsreflexion in seiner Rezeption von Lyrik besonders negativ auswirkt.
Mit Recht sieht Reich-Ranicki in der Lyrik Ingeborg Bachmanns eine Integrationsfigur, eine Integrationsformel, in der sich verschiedene, ja gegenläufige Traditionen verbinden; mit Recht führt er den beinahe universellen Erfolg der Bachmann auf ihre Fähigkeit zurück, verschiedene Traditionen zu integrieren: "Ingeborg Bachmann enttäuscht weder die Anhänger der Tradition noch die der Avantgarde. Sie verdankt viel der klassischen Dichtung und nicht weniger der zeitgenössischen. Aus dem harten Kontrast und dem häufigen Wechselspiel zwischen gewohnten Rhythmen und ungewohnten Assoziationen, zwischen altvertrauten Motiven und überraschenden Bildern, zwischen überlieferten Formen und heutigem Lebensgefühl ergeben sich wesentliche Reize und Schönheiten ihrer Lyrik."
Mit Recht auch misstraut Reich-Ranicki diesem Erfolg und verdächtigt die Bachmannsche Integration, allzu glatt alle Seiten zu bedienen, zum Beispiel sowohl den konservativen Holthusen als auch den avantgardistischen Heissenbüttel: "Wird die Lyrik der Ingeborg Bachmann bewundert, obwohl oder weil sie grosse Vokabel liebt? Oder ist es vielleicht so, dass unter den Enthusiasten ihrer Dichtung die einen diese Vorliebe schätzen, während die anderen sich mit ihr nur abfinden?"
Reich-Ranickis Analyse der Schreibweise und der Rezeption von Ingeborg Bachmanns Lyrik gäbe ihm Mittel in die Hand, die modischen und epigonalen Züge dieser Dichtung herauszuarbeiten; etwa ihre angeblich antinomischen Züge als allzu geschickt arrangierten Kompromiss zwischen zeitgenössischen und traditionellen Schreibweisen zu begreifen, oder das Ergebnis der Vermischung von heutigem Lebensgefühl und klassizistischem Pathos als Aspekt der Sentimentalität vieler ihrer Verse. Reich-Ranicki aber, der immerhin ahnt, dass die Lyrik Ingeborg Bachmanns häufig überschätzt wird, schlägt im Verlauf dieser Rezension einen ganz anderen Weg ein, um seine Zweifel an ihrer Qualität zu artikulieren. Es ist, wie ich glaube, der denkbar ungeeignetste Weg, zugleich ist es aber jener, der bezeugt, dass sich seine prosaische Haltung, mit all ihren in diesem Aufsatz beschriebenen Voraussetzungen und Momenten, angesichts lyrischer Dichtung zu einem fundamentalen Missverständnis auswachsen kann.
Reich-Ranicki: "Dass es einer Lyrikerin vom Typ der Ingeborg Bachmann geradezu widerstrebt, die historischen, gesellschaftlichen und moralischen Gegebenheiten zu benennen, auf die derartige Verse abzielen, ist begreiflich. Wir müssen es respektieren. [...] Ihre metaphorischen Formulierungen jener Gegebenheiten sind vage und deshalb umfassend genug, um allerlei Deutungen zu rechtfertigen. Und da, wo verschiedene Inhalte unterstellt werden, fühlt sich letztlich niemand betroffen. Im Gegenteil: diese Lyrik ermöglicht es jedermann, sich, ungeachtet seiner Anschauungen, mit ihr zu identifizieren. [...] Der Ernst der zeitkritisch- moralischen Akzente unterliegt nicht dem geringsten Zweifel."
Hier wird es ganz deutlich: Reich-Ranicki will die Sprache wiederfinden, in der er gewohnt ist, seine Wirklichkeit zu beschreiben. Und also setzt er blindlings voraus: dass jene historischen, gesellschaftlichen und moralischen Gegebenheiten existieren, dass sie unabhängig von ihrer Benennung existieren, und dass man sie entweder wörtlich und also direkt, oder metaphorisch und also indirekt benennen kann. Behauptet wird dann (nicht gerade logisch konsequent), dass die Lyrik Ingeborg Bachmanns auf jene Gegebenheiten abzielt, jene Gegebenheiten aber nicht benennt, indem sie sie metaphorisch benennt. Damit wiederum wird impliziert, dass es eigentlich nur eine Form des Benennens gibt, die ihren Namen verdient: das wörtliche Benennen. Was für eine Erkenntnismöglichkeit Literatur und insbesonders lyrische Dichtung bieten können soll, ja welche Daseinsberechtigung sie überhaupt haben kann, muss angesichts solcher Annahmen völlig unklar bleiben.
Wegen aller dieser Missverständnisse, Unklarheiten und Inkonsequenzen begreift Reich-Ranicki auch nicht, dass eine Kritik an der Lyrik Ingeborg Bachmanns viel plausibler gerade umgekehrt begründet werden könnte: dass man gegen viele ihrer Gedichte einwenden könnte, sie liessen sich allzu leicht als metaphorische und würdevoll stilisierte Gesellschaftskritik lesen, welche die Dominanz der angeblich wörtlichen Rede, also des üblichen Sprachgebrauchs, nicht ernsthaft antastet, sondern in ihrem weihevollen Verblümen noch bestätigt; dass man also bemerkt, Ingeborg Bachmann benenne für ihre eigenen Begriffe etwas metaphorisch, das sie auch wörtlich benennen könnte, und insofern nicht nur die Möglichkeiten lyrischer Dichtung nicht weit genug treibt, sondern damit, sucht man eine solche, vielleicht auch nicht die Kritik an der Gesellschaft.

Obwohl er sie doch eigentlich als Verschleierungsmanöver begreift, lobt Reich-Ranicki dann aber einige Metaphern in Bachmanns Werk, etwa die schrecklich abgeschmackte: Nachgeburt der Schrecken und die Formel die auf Widerruf gestundete Zeit: "Derartige Metaphern [...] gehören zu den wenigen bedeutsamen Prägungen der deutschen Literatur seit 1945." Wiederum: Gerade gemäss seinen eigenen Voraussetzungen muss völlig unklar bleiben, was diese Metaphern bedeutsam machen soll. Ausser man unterstellt, dass Reich-Ranicki bedeutsam und berühmt oder populär gleichsetzt.

Ausserdem setzt Reich-Ranicki in jener zitierten Passage voraus, dass das vieldeutige Gedicht, jenes Gedicht, das nicht zu einer Deutung zwingt, niemanden betroffen macht, und dass diese Tatsache negativ zu beurteilen ist. Dass Reich-Ranicki damit einerseits auch eigenen, besseren Einsichten widerspricht, und andererseits so gut wie alle lyrische Dichtung negativ beurteilen müsste, und a fortiori so gut wie alle Dichtung der letzten 150 Jahre, scheint er nicht zu bemerken.
Als halbherzige Kompensation für die so missverständliche Artikulation seiner Zweifel an der Qualität der Bachmannschen Lyrik lobt Reich-Ranicki ihre Beherrschung des Handwerks. Ohne es wahrzuhaben, lobt er dabei eigentlich die epigonalen Züge ihres Werks, die Tatsache, dass man Ingeborg Bachmanns Lyrik allzusehr ihren Glauben anmerkt, zwischen den alten Schläuchen und dem neuen Wein unterscheiden zu können bzw. sich, postmodern d'avant la lettre, aus einer Art Warenhaus lyrischer Gesten und Tonfälle bedienen zu können.

Reich-Ranicki, der in der Literatur und auch in der lyrischen Dichtung nach dem sucht, was er so unglücklich als Klartext bezeichnet, behauptet, dass in der Lyrik verblümt oder mit verdeckten Karten gespielt wird; aber andererseits offenbar in der wirklich bedeutenden Lyrik doch auch wieder nicht. Denn über die Lyrik Günter Kunerts schreibt er: "Die Gedichte aus den Jahren 1974 bis 1977, zusammengefasst in Kunerts reifstem und radikalstem Band, `Unterwegs nach Utopia', gehen die aktuellen Fragen frontal an, benennen sie ganz ohne Umschweife:

An den Wurzeln der Standpunkte
hat die Fäulnis gesiegt
Eine andauernde Vergiftung durch Worte
Eine fortwährende Angst vor der Angst
zieht alles nach sich."

Und da er die Behauptung wörtlicher Rede mit der Behauptung einer überprüfbaren Wirklichkeit kurzschliesst und also für die zwischen Wörtlichkeit und Metaphorik schwebende schöpferische Potentialität der sprachlichen Einbildungskraft so wenig Sinn hat, glaubt er in diesen Zeilen die direkte Benennung von Wirklichkeit feststellen zu können, die Benennung ohne Umschweife.
Dass die zitierten Zeilen, gerade wenn man die Existenz von wörtlicher Rede und einer Wirklichkeit voraussetzt, hochgradig metaphorisch sind und die Metaphern schreckliche Klischees, entgeht ihm. Und das kann einem wohl nur dann geschehen, wenn man über die Sprache einfach hinweggeht, um nur auf das zu achten, von dem man zu wissen glaubt, dass sich die Worte darauf beziehen. Bemerkt man das potentiell Metaphorische nicht mehr, dann bildet man sich ein, dass die aktuellen Fragen frontal angegangen werden und dass sich da jemand ohne Umschweife äussere.
Und also glaubt Reich-Ranicki zu loben, wenn er schreibt: "Gegen Ende der Sammlung werden die Verse Kunerts noch persönlicher und direkter. `Nacht heisst die letzte Zuflucht/Finsternis und freiwillige Abwesenheit'". Mit Verlaub: Ich sehe hier nur eine Folge von grossen Worten. - Reich-Ranicki weiter: "Im letzten Gedicht bekennt er: `Etwas blutet aus/ Etwas bricht zusammen.' Diese Gedichte stammen aus dem Jahr 1977. Bleibt hinzuzufügen, dass Kunert im Januar 1977 aus der Mitgliederliste der SED gestrichen wurde..." Und darauf folgen noch einige Einzelheiten zu Kunerts Biographie. Schliesslich wird Günter Kunerts Lyrik so beschrieben: "Da Kunert sich in vielen seiner neueren Gedichte keinerlei formale Zwänge auferlegt und meist auf jeglichen Sprachschmuck verzichtet, treten die inhaltlichen Elemente in den Vordergrund: Nichts lenkt von dem ab, was er dem Leser zu sagen hat." -
Gedankenloser, aber auch Metier-ferner kann man das nicht sagen. Die Wirklichkeit, die Kunerts Lyrik angeblich so direkt ausdrückt, ist also tatsächlich zunächst diejenige der Berichterstattung, sie besteht aus dem durchschnittlichen Reim, den sich der Common sense auf das macht, was er für Wirklichkeit hält. Es ist die Wirklichkeit der Zeitungen. Und in Reich-Ranickis Lesart wird Kunerts Lyrik zu einem Teil dieser Berichterstattung. Vielleicht zu Recht. Wenn aber zu Recht, dann ist es nur Reich-Ranickis mangelnder Sprach- und Weltkritik zuzuschreiben, dass ihm dieser Umstand nicht fragwürdig wird. Nichts scheint er von der Erfahrung zu ahnen, die gerade die besten Schriftsteller bewegt, und die darin besteht, dass das angeblich Wörtliche, Klare (der Klartext) sich als das Verschlüsseltste, als das aller Unverständlichste zeigen kann: als die tatsächlich unverständliche Nachricht, welche die Kommuniziernden austauschen, während sie so tun müssen, als verstünden sie.

* (PARAPHRASEN)

Ganz bezeichnend für jenen Mangel an Sprach- und Weltkritik ist Reich-Ranickis Technik in seinen Rezensionen von Lyrik Verse zu zitieren und sie einfach zu eigenen Sätzen zu vervollständigen. Seine Versuche, Verse zu verstehen, bestehen vor allem daraus, sie zu paraphrasieren und ins Feuilleton einzupassen: "Er [Kunert] protestiert gegen `Lawinen aus Gleichgültigkeit' und gegen `wachsende Schichten von Fremdheit und Staub', er sieht `abgeholzte Träume wälderweit', er preist `den alleinseligmachenden/ den Widerspruch', er verkündet knapp und klar,

„dass die Kunst
rasch verfliegt, wo die Freiheit erstickt,
denn die eine ist nichts als der Atem
der anderen.“

Und offenbar ist es Reich-Ranicki ganz selbstverständlich, diese Verse, ihren Sinn einfach mit dem Sinn seiner essayistischen Prosa - die ja, eben prosaisch, der Alltagssprache viel näher ist - auf eine Fläche zu bringen. Und wie seltsam (aber auch folgerichtig), dass er gar nicht auf die Idee kommt, dass die Mühelosigkeit mit der er die Zitate in seine Interpretation einbinden kann, gegen Kunerts Verse sprechen könnte; wie seltsam, dass er sich nicht fragt, warum Kunert nicht gleich essayistische Prosa verfasst oder Leitartikel, wenn es eine so geringe Rolle spielt, dass seine Verse Verse sind.

Ich habe schon erwähnt, dass die Spekulation auf die Übersetzbarkeit oder Paraphrasierbarkeit von Gedichten innerhalb einer Sprache dennoch eine wesentliche Möglichkeit, sie zu verstehen zu versuchen ist, und wohl ein notwendiges Moment für jede Interpretation. Nur müsste die Differenz zwischen dem zu Paraphrasierenden und der Paraphrase deutlich werden und auch mitbedacht. Wird die Auslegung eines Texts unmittelbar als seine Fortsetzung missverstanden, dann begibt man sich gerade jener Möglichkeiten des Verstehens, die darin gründen, dass man verschiedene Weisen, Sprache zu gebrauchen, aufeinander anwendet, miteinander ins Spiel bringt. Die verschiedenen Aggregatszustände der Sprache, das Gefälle zwischen verschiedenen Formen des Sprachgebrauchs kann dann nicht mehr als die Erkenntnisenergie wirksam werden, die notwendig sein mag, um mit Texten fruchtbar umzugehen.

* (KONKRETES)

In einem Aufsatz über einen Lyrik-Band von Günter Grass verbinden sich Reich-Ranickis bedingter Realismus-Reflex und seine Abneigung gegen das, was diesen Reflex relativieren könnte, mit einem naiven Begriff des Konkreten, des Sinnlichen in der Literatur. Und auch mit dieser Naivität steht er nicht allein; sie ist in der zeitgenössischen lyrischen Dichtung und in ihrer Kritik weit verbreitet.
Reich-Ranicki lobt Grass' Gedichte so: "Er geniesst die Gegenständlichkeit unserer Welt, deren unvoreingenommene Darstellung schockieren soll. Auch seine neuen Gedichte gehen von Gegenständen und Beobachtungen aus, sie kreisen um bestimmte Vorfälle und Personen, sie wollen vor allem Situationen und Zustände verdeutlichen. Immer entzündet sich seine Phantasie am Konkreten und kehrt, in welche Bereiche sie uns führen mag, schliesslich doch zum Konkreten zurück."

Was ist denn eigentlich dieses Konkrete, wenn man gerade ein Gedicht schreibt oder liest? Man sollte doch meinen, dass das nicht von vornherein so klar ist. Offenbar ist es für Reich- Ranicki selbstverständlich das, was durch Worte evoziert wird, die sinnlich wahrnehmbare Gegenstände bezeichnen. Würde es nicht genauso naheliegen, das als Konkretes aufzufassen, was optisch und akustisch konkret vorhanden ist, wenn man schreibt oder liest, also diese Art von Gegenständlichkeit zum Ausgangspunkt zu nehmen? Das, was Reich-Ranicki hier selbstverständlich und unvermittelt als Konkretes supponiert, das kann doch gerade vom Standpunkt dessen, der Gedichte schreibt, das, wörtlich verstanden, nicht Begreifbare oder Abstrake sein. Und was wird nun eigentlich durch Worte evoziert, die sinnlich wahrnehmbare Gegenstände bezeichnen? Sind es die bezeichneten Gegenstände selbst oder wenigstens gleichsam ihr Wesen, vermittelt durch strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Zeichen und Bezeichnetem? Oder sind es die inneren Bilder, die erscheinen und jenen bezeichneten Gegenständen mehr oder weniger ähneln? Oder ist es die Erinnerung an das, was man erlebt hat, als man mit jenen Gegenständen umgegangen ist?

Und wenn es das alles sein soll oder einiges davon, wie oder in welchem Sinn konkret erscheint das im Zusammenhang eines Gedichts, das per definitionem Sprache und Begriff enthält, also aus gerade den Voreingenommenheiten besteht, von denen Reich-Ranicki Grass' Lyrik ohne weiteres freispricht? -

Solche Fragen werden von Reich-Ranicki nicht gestellt. Jemand gebraucht Wörter, die normalerweise Dinge bezeichnen, die man sinnlich wahrnehmen kann, und schon geniesst er die Gegenständlichkeit der Welt selbst. Aber er geniesst eben nicht die Wörter, sondern andere Dinge: "Farben, Töne und Gerüche, Reminszenzen, Impressionen und Visionen, Ausdrücke, Einfälle und Gegenstände werden gesammelt und aufgezählt, aneinandergereiht und montiert." Wenn dem so wäre, wenn man alle diese Dinge tatsächlich montieren könnte, dann wäre die Welt selbst das Gedicht, von dem Reich-Ranicki spricht. Eine Konsequenz, die für Reich-Ranicki eigentlich ziemlich fern liegen müsste.

Mallermé hätte da wohl polemisch geantwortet: Man macht Gedichte nicht aus der Welt, nicht aus Reminiszensen, Impressionen und Visionen und Gegenständen, sondern aus Wörtern, vielleicht gerade aus den Voreingenommenheiten, von denen Reich-Ranicki Grass' Lyrik freispricht, um damit aber nur das Klischee konkreter Sinnlichkeit zu strapazieren.

Es ist ja wiederum nicht so, dass Reich-Ranickis Ansichten zum Konkreten in der Lyrik völlig unsinnig wären, dass sie überhaupt keinen Wert haben können.
Ich will also nicht behaupten, dass in einer Dichtung, nicht verschiedene Begriffe oder Erfahrungen dessen, was konkret ist, durcheinanderspielen können oder sollen. Vielleicht ist sogar der Standpunkt fruchtbar, dass es keine ästhetische Maxime gibt, mag sie für sich allein betrachtet so obskur sein wie sie will, die nicht zu einem Extrem eines Denkens im oder über das Gedicht werden kann. Was Reich-Ranicki wiederum vorzuwerfen ist: dass er aus Möglichkeiten des Verstehens blindlings akzeptierte Wirklichkeiten macht. Eine Dichtung oder eine Kritik, die das Konkrete schon damit wiederfindet, dass Worte gebraucht werden, die sinnlich wahrnehmbare Dinge so benennen, wie sie normalerweise benannt werden, eine solche Dichtung, eine solche Kritik verfällt dem Schein, ja dem Wahn der Unmittelbarkeit; ein Wahn, der unwillkürlich auch das Gegenklischee heraufbeschwört, die ebensowenig konsequent bedachte Antithese. Denn Reich- Ranicki lobt Günter Grass' Gedichte auch so: Für seine Lyrik [...] ist häufig etwas Prosaisches charakteristisch. Hier wird festgestellt und mitgeteilt, benannt und veranschaulicht." - Wie kommt es, dass Reich-Ranicki nicht auffällt, wie schrecklich abgeschmackt in diesem Zusammenhang das Wort veranschaulicht ist? Klingt es hier nicht so ähnlich wie umfunktionieren, also wie ein Gemisch aus Brecht-epigonaler und deutschlehrerhafter Didaktik? Diese Taubheit für die Konnotationen eines Sprachgebrauchs ist ein Symptom für Reich-Ranickis widersprüchlichen Begriff des Konkreten in der Dichtung. Einerseits gibt ihm die lyrische Dichtung sinnlich- konkrete Beispiele oder Illustrationen für Gedanken oder Ideen (die eben veranschaulicht werden), andererseits, und im Widerspruch dazu, glaubt er daran, dass in der lyrischen Dichtung die sprachlose, aber sinnlich wahrnehmbare Welt unmittelbar wiedergegeben wird.

* (GEFÜHLTES)

Ist Reich-Ranickis kritische Methode manchmal wahnhaft, so hat sein Wahn insofern Methode, als ein Missverständnis das nächste hervorruft: das Klischee der konkreten Sinnlichkeit verbindet sich wie von selbst mit dem Klischee der im Vergleich zu den Dichtern anderer literarischer Gattungen grösseren Emotionalität der Lyriker. Und so behauptet Reich-Ranicki in seinem schon zitierten Aufsatz über Ingeborg Bachmann:
"Aber ihr vornehmlich lyrisches Talent trieb sie immer wieder zu einer nur im Emotionalen verankerten Fragestellung." - Abgesehen davon, dass nichts dafür spricht, dass das auf Ingeborg Bachmann zutrifft: nach Reich-Ranicki bedingt lyrisches Talent also vor allem Emotionalität, Nicht-Denken, Prosa aber - diesen Umgekehrschluss zieht Reich-Ranicki häufig - Denken, rationale Fragestellung, Vernunft.
In seinem Aufsatz Plädoyer in Sachen Lyrik, klingt das so: "In der Prosa wird mit offenen Karten gespielt, in der Lyrik hingegen oft mit gezinkten. Bei ihr fanden immer schon jene Unterschlupf, die nichts zu sagen haben, doch unbedingt gehört werden möchten, die singen wollen, weil sie nicht denken können, die dichten müssen, weil ihnen das Schreiben unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet."
Zunächst einmal: Kann diese griffige Antithetik von Denken, Schreibenkönnen und Etwas-zu sagen-Haben versus Dichten und Singen wirklich besonders häufig als Antithetik zwischen der Lyrik und dem Rest der Literatur behauptet werden? Finden jene, die nicht Denken können, nicht überhaupt häufig in allen Künsten Unterschlupf? Ist es wirklich gerade die Lyrik, die Dumme und Dilettanten besonders anzieht? Haben die Sätze der meisten Prosa, nur weil sie regelrecht gebaut sind, mehr mit der Kunst des Denkens gemeinsam als die meisten Verse, nur weil Verse dem, was man normalerweise unter Denken versteht, häufig nicht sehr ähnlich sehen?
Dagegen spricht vieles, und gerade Reich-Ranickis eigenen Prämissen zufolge, auch die Häufigkeit der Kombination von Philosophie, Essayistik und Literaturkritik und lyrischer Dichtung, also zwischen den Sprachformen, die gerade er mit Denken und Vernunft identifiziert, und dem Dichten. Reich-Ranicki selbst erwähnt einige Absätze weiter unten: "Anders als die Romanciers oder die Dramatiker sind die Lyriker immer zugleich die Kritiker der Lyrik." - Was will also Reich-Ranicki mit diesem Widerspruch sagen? Unterläuft er ihm nicht einfach? Oder bilden sich die meisten Lyriker nur fälschlich ein, ihre Vernunft zu gebrauchen, wenn sie als Kritiker der Lyrik auftreten? Oder dankt ihre Vernunft ab, wenn sie gerade Lyrik verfassen?
Und wenn man schon glaubt, eine Lyrik-spezifische Dummheit erkennen zu können: wie kommt es dann, dass man nichts von der Prosa-spezifischen Dummheit sieht: von ihrer dummen Wirklichkeitsgläubigkeit, ihrem Mangel an Sprach-Philosophie, ihrer blinden Weltbezogenheit, ihrer biederen und selbstverständlichen Angepasstheit an die üblichen Kommunikationsgewohnheiten, von ihrem geradezu infantilen Identifikationsbedürfnis mit den Zuständen und Gedanken, die sie in bestimmten sprachlichen Formen wiederzufinden glaubt?

Das Entscheidende ist hier nicht dieser Streit zwischen gleichermassen zweifelhaften Argumenten, sondern dass Reich- Ranicki die Dummen und Unfähigen vor allem dort zu sehen beliebt, wo ihm der übliche Umgang mit der Sprache abgeht. Wo er diesen Umgang vermisst, da kommt ihm leicht der Verdacht, dass nur intellektuelle Dürftigkeit getarnt wird oder eben die Schwierigkeiten, die da jemand mit dem Handwerk des Schreibens habe. Das Spiel mit offenen Karten ist dagegen offenbar das der Prosa, in dem sich der intellektuelle Wert einer Äusserung herausstellen kann, da man angeblich nur in ihr das sagen kann, was man meint: "Was sich in der Prosa als unverkäuflich erwies, das wurde von vielen Autoren in Versen feilgeboten und auch an den Mann gebracht. Was zu töricht war, um gesagt zu werden, haben sie gern gesungen."
Und dann zitiert Reich-Ranicki aus Goethes "Maximen und Reflexionen": "Künste und Wissenschaften erreicht man durch Denken, Poesie nicht; denn diese ist Eingebung." Diese Maxime ist für ihn, und vielleicht mit Recht, zweifelhaft, obwohl er doch in dem Aufsatz über die Lyrik Ingeborg Bachmanns selbst behauptet, dass das lyrische Talent seine Fragestellungen vor allem im Emotionalen verankert. Zu dieser Unklarheit kommt noch eine andere. Denn er setzt diese Maxime mit einer anderen gleich, die aus Goethes Gesprächen mit Eckermann stammt: "Je inkommensurabler und für den Verstand unfasslicher eine poetische Produktion, desto besser." - Ich meine: Die beiden Maximen kann man keineswegs ohne weiteres gleichsetzen, und es ist charakteristisch für Reich-Ranickis in diesen Fragen unscharfe Unterscheidungen, dass er das ohne Weiteres tut. Denn die erste Maxime spricht davon, wie Poesie zustande kommt, und die zweite von der Wirkung der Poesie. Und da meint Goethe wohl vor allem: Je weiter die Poesie von der Prosa, dem üblichen Verstehen entfernt ist, desto eher ist ihre Wirkung poesiegemäss. Das ist ein romantisches und zugleich modernes Wort des alten Goethe, das auf die Eigengesetzlichkeit poetischer Gebilde verweist, darauf, dass sie nicht in den Raum passen, in dem unsere üblichen Verstehensbegriffe dominieren.

Wenige Zeilen weiter unten schreibt Reich-Ranicki unvermittelt: "Aber die Dichtung hat noch nie jemanden zu erlösen vermocht. Sie ist auch für die Belehrung wenig geeignet: Wer seine Zeitgenossen aufklären oder unterweisen möchte, der ist gut beraten, wenn er statt einer Ode einen Artikel oder eine Abhandlung schreibt. Und wer da meint [...] mit Versen liesse sich auf den Lauf der Dinge Einfluss ausüben, der macht sich rührende Illusionen. Nein, die Welt verändern können die Lyriker nicht." Aber warum ist hier plötzlich nur von Artikeln oder Abhandlungen die Rede, und nicht von Romanen, Erzählungen oder Theaterstücken? Können nun Romane, Erzählungen oder Theaterstücke die Welt genauso sehr verändern wie Artikel oder Abhandlungen oder so wenig wie die Lyrik? Wie kommt es, dass Reich-Ranicki glaubt, dass die Lyrik die desengagierte literarische Gattung per se ist? Ist nur oder vor allem die rührende Lyrik dazu verurteilt, eine rein innerliche Angelegenheit zu sein, betrieben von den unzuverlässigsten Kantonisten, die von Reich-Ranicki, unter Berufung auf die berühmte Skepsis Platons gegen die Dichter, offenbar als kindliche und kindische Irrationale hingestellt werden? Reich-Ranicki bedient damit genau das Klischee, gegen das er sich doch auch immer wieder wehren will. An diesen Reich-Ranicki wären also nicht nur alle Verse als Form des Denkens verloren, sondern auch alle Zeugnisse von Dichtern, die gerade das Kalkulierende ihrer Tätigkeit beschreiben. Weiss er nichts von der Verwandschaft zwischen Lyrik und Mathematik, nimmt er die Hölderlinsche Forderung nach Nüchternheit nicht ernst? Kennt er weder Poes, noch Baudelaires, noch Valérys Schriften zu diesem Thema? Weiss er nichts davon, dass gerade jene Dichter abendländischer Tradition, die wir heute als bedeutendste ansehen, das rationale Element, das Kalkül betonen, wenigstens so sehr wie das Irrationale?
Ich nehme an, dass er selbstverständlich von all dem weiss, all das kennt, und andere seiner Bemerkungen lassen auch darauf schliessen. Diese Formulierung soll ein Ausweg aus einer theoretischen Not sein, sie ist unwillkürlicher Ausdruck seines theoretisch unbewältigten Verhältnisses zu den sprachlichen Formen, die gerade, aber vielleicht auch ausschliesslich, dem Common sense zufolge unvernünftig sind.

* (SUBJEKTIVITÄT)

Und nochmals: ein Klischee ruft das nächste hervor. Die angeblich konkreten Dinge, die gleichsam unter Umgehung der Sprache, veranschaulicht werden und somit auch angeblich dazu führen, Fragen im Emotionalen zu verankern, führen dazu, dass die lyrische Dichtung so besonders subjektiv sein soll: "Denn was immer Grass behandeln mag - seine Sprache büsst eher die Anschaulichkeit ein als ihren so charakteristischen "Stallgeruch": Sie bleibt "stubenwarm" selbst dann, wenn sie die politische Terminologie [...] reichlich und genüsslich verwendet." Diese metaphorische Beschreibung des angeblich Individuellen einer Schreibweise ist nicht zufällig sowohl hilflos als auch wenig glücklich. Sie lässt sich auf die Trivialität reduzieren, dass nur Günter Grass wie Günter Grass schreibt. Und wie günter-grasshaft Günter Grass schreibt, das zeigt sich besonders in seiner Lyrik. Und das wiederum soll irgendwie damit zu tun haben, dass sich in der Lyrik mehr als in den anderen literarischen Gattungen ein Subjekt ausdrückt. Nirgends, angeblich, zeigt sich Günter Grass selbst so sehr wie in seiner Lyrik.
Was liegt dieser Ansicht Reich-Ranickis zugrunde, dieser Ansicht, die ja zweifellos von den meisten geteilt wird? Ich glaube: auch Reich-Ranicki verwechselt ungewöhnliche sprachliche Ausdrucksweisen mit Subjektivität und Subjektivität mit Ausdruckszwang. Offenbar tendieren für ihn Lyriker so sehr dazu, sie selbst zu sein, dass sie auch dazu tendieren, Wahnsinnige zu sein, weil sie sich nicht der üblichen sprachlichen Konventionen bedienen. Sie reden irre und nur von sich selbst. Ihre Sprache wird, wie etwa bei Schizophrenen, zum Symptom ihrer Selbst. Sie entblössen sich und provozieren damit die Umwelt. Welche Funktion in diesem Amoklauf haben dann aber die komplexen, wiederholbaren und wiedererkennbaren Konventionen, aus denen die lyrische Dichtung auch besteht? Warum werden für das lyrische Spiel so komplizierte und vielfältige Regeln aufgestellt, anstatt einfach losbrüllen und sich tatsächlich zu exhibitionieren?
Die Identifikation von Rationalität mit bestimmten sprachlichen Formen führt Reich-Ranicki auch zu der Identifikation dieser sprachlichen Formen mit Objektivität. Deshalb ist für Reich-Ranicki die Lyrik, die ja dazu tendiert, diese sprachlichen Formen zu verlassen, diejenige literarische Gattung, in der sich das empirische Subjekt, die Person des Schrifstellers am direktesten ausspricht. Und obwohl er doch am Anfang seines Plädoyers für die Lyrik geschrieben hat, dass die Lyrik oft mit gezinkten Karten spielt, schreibt er jetzt: "Der Lyriker verbirgt sich nicht im Gedicht, er muss sich in ihm stellen. Das Gedicht ist die riskanteste, die schamloseste aller literarischen Formen. [...] Lyriker sind professionelle Exhibitionisten - nur dass sie nicht etwa ihre Blösse poetisieren, sondern sich in der Poesie blosstellen." - Ist die Lyrik also eine Art Pornographie des Innen- oder Seelenlebens? Was für Mühen haben Lyriker, Essayisten und Philosophen nicht auf sich genommen, zu verstehen und zu beschreiben, dass die lyrische Dichtung, wie jede, nur dann ihren Namen verdient, wenn man gerade nicht dem Irrtum verfällt, sie für den unmittelbaren Ausdruck eines empirischen Subjekts oder des Persönlichen zu halten. Man könnte hier zahllose Zitate anführen und auch zahllose Werke, die gerade den objektivierenden, den weltentwerfenden Charakter der Poesie bezeugen.
Das Lyrische Ich ist nicht vor allem das emotionale Pendant zum autobiographischen Ich, zu jener Erfindung der Kunst, die es sich zur Arbeitshypothese macht, die Geschichte eines Ich wahrscheinlich oder natürlich erscheinen zu lassen. Das lyrische Ich hat viel mehr mit dem transzendentalen Subjekt der Philosophen gemeinsam, oder mit dem kollektiven Selbst mancher Psychologen und Soziologen als mit dem Versuch der sprachlichen Selbstdarstellung einer Person. Am Ende oder als Gegengift gegen Reich-Ranickis so populäre Konzeption wäre es am angemessensten, die so berühmte und berüchtigte, vieldeutige und tiefsinnige Entität des Ich auf seine grammatikalische Rolle als Pronomen unter anderen Pronomen zu reduzieren.

*

Für Reich-Ranicki drückt sich also in der lyrischen Dichtung in besonderem Mass ein Subjekt aus, das Persönliche oder sogar das Persönlichste, Privateste. Wenn auch nicht im Klartext, das heisst: in Prosa, sondern verschlüsselt. So verschlüsselt aber, dass es sich dabei exhibitioniert oder selbst darstellt.
Diese Ungereimtheiten und Oberflächlicheiten hängen in Reich-Ranickis kritischem System eng mit der Vorstellung zusammen, dass gerade die lyrische Dichtung als Hinweis auf die Eigenschaften ihrer Autoren zu lesen sei. Also interpretiert Reich-Ranicki Gedichte häufig ohne weiteres ad hominem: "Nirgends ist Grass, glaube ich, kühner und natürlicher, aufrichtiger und freimütiger als in der Lyrik."
Und das schliesst er offenbar daraus, dass er Grass' Lyrik selbst als natürlich, aufrichtig und freimütig erlebt.

Sehr bezeichnend in diesem Zusammenhang ist auch Reich-Ranickis Beschäftigung mit der Lyrik von Sarah Kirsch. Da wird wenig, viel zu wenig darüber gesagt, wie diese Gedichte gemacht sind, was sie bedeuten könnten, dafür aber direkt und klischiert von dem gesprochen, was die Gedichte angeblich ausdrücken oder bewirken. "Es ist eine Lyrik der grossen Gefühle und der mächtigen Leidenschaften [...] Charakteristisch für die Gedichte Sarah Kirschs ist nicht etwa die Vielfalt der Empfindungen, sondern deren Stärke, nicht der Reichtum an Stimmungen, sondern deren Heftigkeit."..."Ihre Skala reicht von der Erfüllung bis zur Verweigerung, von leiser Zärtlichkeit bis zu dröhnender Wut und gewaltigem Zorn, von der Seligkeit des Triumphs bis zur Bitterkeit der Niederlage." - Ist hier eigentlich von der Lyrik der Sarah Kirsch die Rede oder von Sarah Kisch selbst bzw. von Marcel Reich-Ranickis offenbar tumultösen Begegnung mit ihr?

Die unterstellten Eigenschaften jener, die die Texte schreiben und die Bedeutung der Texte werden miteinander vermischt oder miteinander identifziert, als ob sie dasselbe wären; Eigenschaften von Menschen und Eigenschaften von Gedichten werden gleichgesetzt. So als wäre das Gedicht eine Art Körper, und als würde die Art und Weise, wie jener Gedicht-Körper erscheint, so unmittelbar den seelischen Zustand dessen zeigen, der diesen Körper offenbar bewohnt, wie etwa ein bestimmtes Verziehen eines Gesichts Freude oder Trauer.

Vielleicht lässt sich das Ungereimte dieser so verbreiteten Betrachtungsweise, wie Lars Gustaffson einmal in einem Aufsatz vorschlägt, auf den doppeltdeutigen Gebrauch des Worts Ausdrücken zurückführen. Dass der Text angeblich (etwas) bedeutet oder ausdrückt, wird damit gleichgesetzt, dass sein Urheber etwas ausdrücken will, indem er den Text schreibt; damit der Text aber tatsächlich das ausdrückt, was sein Urheber ausdrücken will, muss er zu ihm gehören, muss er etwas von ihm sein - eine Eigenschaft, die er selbst hat.
Gustaffsson widerspricht dieser Vorstellung und erinnert an Diderots berühmtes Paradox über den Schauspieler, in dem Diderot behauptet, dass nicht nur das von dem Schauspieler ausgedrückte Gefühl ein anderes sein kann als das Gefühl, das er augenblicklich als sein eigenes wahrnimmt, sondern auch, dass eine wahre Identität zwischen beiden den Schauspieler überhaupt behindert.

Nicht nur Reich-Ranicki lässt häufig den Abstand zwischen Werk und Person ausser acht, diese Haltung ist für die übliche Literaturkritik, besonders für diejenige in Zeitungen symptomatisch. Die Haltung kommt nicht nur einem populären Voyeurismus entgegen und zugleich einer ebenso populären Autoritätsgläubigkeit, sondern sie appelliert auch an die offenbar immer noch vorhandenen Reste romantischen Genieglaubens. Sie träumt von heroischen Subjekten, die himmelhöher jauchzen und tiefer zu Tode betrübt sind als die gewöhnlichen Menschen und ausserdem die Fähigkeit besitzen, ihre extremen Zustände unmittelbar in Sprache zu verwandeln. Weil Reich-Ranicki die lyrische Dichtung als unmittelbaren Ausdruck lyrisch gestimmter Subjekte missversteht, vergisst er seine sonst oft sehr wohl vorhandene Nüchternheit, seine einigermassen illusionslose Sicht vieler Dinge und gerät ins Schwärmen über angeblich besonders in Lyrikern auffindbare ekstatische Zustände, die er dann allerdings häufig als Kehrseite ihrer moralischen Unzuverlässigkeit und ihrer mangelnden Vernunft auffasst.

* (BIOGRAPHIE)

Weil nun Reich-Ranicki die Bedeutung eines Texts so leichtfertig mit der Person des Autors, seinen Zuständen oder seinem Verhalten identifiziert, weil er dazu neigt, den literarischen Text und insbesondere die lyrische Dichtung unmittelbar als Ausdruck einer Autoren-Intention zu verstehen, wird für ihn die Biographie des Schriftstellers zum selbstverständlichen Ausgangspunkt, zum Fundament für dessen Werk. In dem schon zitierten Gespräch mit Peter von Matt sagt Reich- Ranicki: "Die Biographie des Schriftstellers ist sein fundamentales Kapital, mit dem er arbeitet - und daraus ergibt sich alles andere."
Was ist denn diese Biographie, was ist dieses Biographische eigentlich? Einfach die sich ständig vergrössernde Summe erlebter Augenblicke? Oder eher jene Form des Selbstumgangs, die uns zu ermöglichen scheint, uns über uns selbst selbstverständlich zu orientieren? Und worin besteht dieses selbstverständliche Orientieren? Einfach in einem zum grössten Teil sprachlosen Filtern von Ereignissen und in ihrem Anpassen aneinander zugunsten einer Gesamtsicht von ihnen? Oder doch eher in einer Art veristischer Erzählung, in einem unbewussten Naturalismus, der unter der Wucht der Umstände sich nicht erlauben kann, sein Literarisches zu bemerken?
In seinem Nachwort zu dem von ihm herausgegebenen Band Erfundene Wahrheit, deutsche Geschichten schreibt Reich-Ranicki: "Wer lebt, erzählt. Und wer erzählt, zählt auf: was er erlebt hat oder was er glaubt, erlebt zu haben; er lässt erkennen, was er erleben möchte und was er befürchtet, erleben zu müssen. Ein Bekenntnis und ein Geständnis steckt also insgeheim in jeder Erzählung." Und in einem Aufsatz über Prosa von Wolfgang Hildesheimer: "Eine Striptease-Tänzerin, die ihre Schamhaftigkeit nicht überwinden kann, hat ihren Beruf verfehlt. Und die Arbeit der Schriftsteller, zumal der Autobiographen, ähnelt ausserordentlich der jener Damen, die sich öffentlich enthüllen; nur dass sich die Schreiber anderer Mittel bedienen. Aber hier wie da gehört der Exhibitionismus zum Gewerbe." Wenn es den Exhibitionismus in der Literatur gibt, dann ist er ein künstlerisches Mittel, dann ist er Aspekt entweder bestimmter Formen von Literatur oder Aspekt einer bestimmten Deutung von Literatur. Die Exhibition wäre ein Modell des Schreibens oder Lesens, eine literarische Form unter vielen, und deshalb ein Modell von beschränkter Anwendbarkeit, das heisst eines, das nur für einige Werke oder auch nur einige Momente von Interpretationen brauchbar ist. Ein Kritiker, der sich auf Biographisches bezieht, sollte also wissen, dass er nicht ein Kunstwerk mit dem Leben vergleicht, sondern verschiedene Formen sprachlicher Äusserung.

Als ob der biographische Selbstumgang, also die autobiographische Form der Äusserung, die jene des Bekenntnisses oder des Geständnisses vielleicht enthält, mehr als eine unter einer Unzahl von Möglichkeiten des Umgangs mit sich selbst und a fortiori des deutenden Umgangs mit literarischen Texten wäre! Genausogut könnte man sagen: In jeder Erzählung steckt eine Bitte, ein Gebet, eine Anklage, ein Befehl, eine Frage, ein Zweifel usw.; aber auch eine Metaphysik, eine Religion, eine Wissenschaft. Ähnlich wie Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen davor warnt, um der Präokkupation mit einem bestimmten Gebrauch der Sprache willen, nämlich mit dem philosphischen und dem wissenschaftlichen, die Vielfalt der Möglichkeiten, Sprache zu gebrauchen, zu übersehen, sollte man Reich-Ranicki davor warnen, als Kern von literarischen Formen überall gerade das Biographische bzw. Bekenntnis oder Geständnis oder gar Exhibition zu vermuten. Reich-Ranicki denkt hier im Sinne jener zweifelhaften Aphorismen, die etwas auf etwas anderes mit der Formel reduzieren: Alles ist doch eigentlich... und dann folgen beliebige Prädikate wie politisch, gesellschatlich, religiös, natürlich usw., und dabei übersehen, dass in diesem Augenblick der eingesetzte Begriff, eben weil er alles umfassen soll, völlig entleert wird, und die Wirklichkeit, auf die er sich doch beziehen soll, zu einem amorphen Ding-An- Sich macht. - Selbst wenn man einmal annimmt, dass es so etwas gibt, wie die Übersetzung des eigenen Lebens in die Literatur: Reich-Ranicki neigt dazu, diese Möglichkeit zur Grundtonart seiner Betrachtungen von Literatur zu machen. Und so nimmt der Begriff der Biographie in seinen Kritiken eine ganz ähnliche systematische Stelle ein wie der Begriff Wirklichkeit: die Biographie ist für Reich-Ranicki die Wirklichkeit von einzelnen.

Dementsprechend sind Reich-Ranickis Aufsätze allzu häufig und durch das Bild dominiert, dass sich in literarischen Kunstwerken das Leben ihrer Autoren wiederspiegle. So ist dann zum Beispiel davon die Rede, dass Thomas Mann in den Buddenbrooks und in vielen Erzählungen seine Erlebnisse direkt übernimmt, aber auch sein Leben umsetzen kann, ohne dass Reich-Ranicki die Phrasenhaftigkeit seiner Ausdrucksweise zu bemerken scheint. Und im übrigen ist Reich-Ranickis Literaturgeschichtsschreibung, durch seine Präokkupation mit dem Biographischen manchmal seltsam getrübt. Etwa wenn er behauptet, dass im 19. Jahrhundert das Biographische im Roman immer grössere Bedeutung gewinnt, und dafür ausgerechnet Flaubert namhaft macht, nur um seiner berühmten Äusserung "Madame Bovary, c'est moi" willen, und dabei ausser acht lässt, dass Flauberts Ästhetik vor allem durch das Bemühen um künstlerische Objektivität geprägt war, durch das Ziel eines absoluten, reinen Texts bestimmt war.
Und ist diese Tendenz, ob durch Mallarmé oder Joyce vermittelt, für die zeitgenössische Literatur nicht mindestens so folgenreich wie die behauptete biographische? Und zeigt sich das nicht auch in so gut wie allen modernen Texttheorien? Man muss diesen Texttheorien nicht unbedingt glauben, aber man sollte sie zur Kenntnis nehmen, und sei es nur als Aspekt gerade der zeitgenössischen Literatur, die sie zu reflektieren versuchen.

Dass Reich-Ranicki, um seiner Vorliebe für das Autobiographische willen, und in Übereinstimmung zu seinem Beharren darauf, dass Literatur eine vorgegebene Wirklichkeit wiedergebe, das Ich einer Erzählung und das Ich ihres Autors miteinander identifiziert, verführt ihn in seiner Rezension von Max Frischs Montauk zu einem frappanten kategoriellen Fehler: "Aber `Montauk' ist weder eine Autobiographie noch ein Bericht oder ein Tagebuch. Der Band hält, was die Titelseite verspricht: eine Erzählung. Sie beginnt im Mai 1974 in New York. Zehn Jahre vorher hatte Frisch den Gantenbein-Roman abgeschlossen mit den Worten: `Leben gefällt mir'. Jetzt sagt er in einem Interview: `Leben ist langweilig, ich mache Erfahrungen nur noch, wenn ich schreibe.' Das scheint ernst gemeint, ganz ohne Koketterie. Doch sehr bald wird der düstere Befund widerlegt, Frisch darf Erfahrungen machen, ohne zu schreiben. Leben ist plötzlich wieder reizvoll, wenn auch nur für eine kurze Zeit..."
Merkt es Reich-Ranicki denn wirklich nicht? Ach, hätte er Frisch nur geglaubt: Wer sagt denn, dass die Erzählung von der Begegnung mit einer jungen Frau, die Frisch in Montauk beschreibt, eine Erfahrung ist, die anderswo zu einer anderen Zeit gemacht wird, als dann, wenn das Buch Montauk geschrieben oder gelesen wird?
Mag aber für die Deutung von Prosa das Biographische Deutungsschema wenigstens dann noch einige Berechtigung haben, wenn man es selbst als eine Prosaform unter anderen begreift, ist es im Zusammenhang mit der Deutung von Lyrik schon deshalb viel weniger brauchbar, weil die Lyrik eben keine Prosaform ist, und die ihr eigenen Konventionen das Vortäuschen von Unmittelbarkeit, von direktem Bezug auf eine Lebensgeschichte, sei sie sprachlich oder vorsprachlich, beinahe immer unmöglich machen.

*

Sein Lyrik-Ideal ist prosaisch und schliesst die Dominanz der Trennung zwischen Form und Inhalt, Sprache und Sache oder Gedicht und Wirklichkeit ein, und damit den ein für alle Male gegebenen Unterschied zwischen eigentlicher und übertragener Bedeutung; und also lobt er jene Lyrik, in der aktuelle Fragen frontal angegangen werden, und liebt vor allem die Gedichte, die sich leicht ins Feuilleton einpassen lassen. Im Widerspruch zu jenen Trennungen aber geniesst er in manchen Gedichten die Gegenständlichkeit der Welt selbst, ihr Konkretes mit Hilfe der Wörter, durch die sinnlich wahrnehmbare Gegenstände bezeichnet werden. Vielleicht weil der Lyriker seine Fragen vor allem im Emotionalen verankert, ist für ihn die Lyrik dennoch die literarische Gattung, welche die Dinge besonders subjektiv betrachtet; besonders in der Lyrik auch zeigt sich für ihn das Persönliche, Private, besonders in der Lyrik drücken also Personen unmittelbar ihre Gefühle aus, aber auch ihre Biographie, gerade die Lyrik ist für ihn in hohem Mass autobiographisch und bekenntnishaft, obwohl sie doch andererseits auch ein Spiel mit gezinkten Karten ist.

Man wird es nach all dem kaum glauben, aber in Reich-Ranickis Plädoyer in Sachen Lyrik gibt es auch ein Plädoyer für die Form: "Nein, das Gedicht kann sich schon deshalb nicht unter das schützende Dach der Form retten, weil es selber die Form ist: von ihr, nur ihr bezieht es seine Existenzberechtigung. [...] Die immer leidige, wenn nicht fatale Trennung von Inhalt und Form ist in der Lyrik gegenstandslos. Denn die Form - das ist schon der Sinn des Gedichts." - Abgesehen davon, dass das, wie Reich-Ranickis Rezensionen, und nicht nur von Lyrik, zeigen, ein Lippenbekenntnis ist, und über die Unklarheit seines Gebrauchs des Wortes Form hinwegsehend, kann man Reich-Ranicki hier nur recht geben.
Nur wie hängen die nächsten Sätze mit dieser Erkenntnis zusammen?: "Damit [dass die Form schon der Sinn des Gedichts ist] hängt es wohl auch zusammen, dass unsere Welt, deren Darstellung den Romanciers und in noch höherem Masse den Dramatikern so grosse und häufig unüberwindbare Schwierigkeiten bereitet, sich der lyrischen Formulierung nicht entzieht: Wo die Dramatiker verstummen und die Romanciers ratlos scheinen, da ist es ihnen, den Lyrikern gegeben, zu sagen, wie sie leiden, wie wir leiden." Soll das heissen, dass die Lyriker dank ihres "Formbewusstseins" die besseren Künstler sind? Ist es nicht viel plausibler anzunehmen, dass - akzeptiert man das einmal als Aufgabe der Kunst - die Schwierigkeiten bei der Darstellung unserer Welt in jeder literarischen Gattung gleich gross sind, wenn auch wahrscheinlich sehr verschiedenartig? Was Reich- Ranicki mangelndes Formbewusstsein nennt, das kann doch nur in jeder literarischen Gattung gleichermassen fatal sein, gerade wenn die Trennung zwischen Form und Inhalt immer fatal ist.

Und was führt Reich-Ranicki im Schilde, dass er die Lyrik so bevorzugt und pathetisch in Schutz nimmt: "Fragt sich nur, ob wir auf sie verzichten können, ob wir sie nicht doch brauchen, auch heute, gerade heute." Und offenbar, weil er mit der Lyrik keine ernsthafte Erkenntnisfunktion verbinden kann, soll ihr wenigstens psychohygienischer Nutzen zugesprochen werden. Und also behauptet Reich-Ranicki, dass sie mitunter imstande ist, "wenn auch nicht gleich die Welt zu verändern, so doch erträglicher zu machen." Da fragt sich allerdings auch, inwiefern diese angebliche Eigenschaft der Lyrik geeignet sein könnte, sie von anderen Künsten oder manchen anderen sozialen Tätigkeiten zu unterscheiden.

Nun, Reich-Ranicki will eben ein Plädoyer in Sachen Lyrik halten, er will, etwas gönnerhaft und anbiedernd, seinen schützenden Mantel über die Lyriker breiten: "Dieses eminente Formbewusstsein unserer Poeten trägt auch dazu bei, dass sich in den simplen Worten `Lyrik heute' mehr als ein Wunsch und Bekenntnis verbirgt - nämlich ein trotziges Programm. Poesie ist immer auch Protest und Auflehnung. Wer dichtet, der rebelliert gegen die Vergänglichkeit. [...] Daher die wachsende Rolle der Poesie in unseren Tagen: Ihr schwermütiger, von manchen noch nicht wahrgenommener oder mit dem obligaten Unbehagen registrierter Siegeszug hat hier seine tiefste Ursache. Es zeigt sich, dass die Antwort der Literatur, auf die wir inmitten der Bedrohung und Gefährdung warten, am ehesten ihre radikalste Gattung geben kann - eben die Lyrik."
Dieses Plädoyer wurde 1980 geschrieben. Ist damals die Rolle der Poesie bedeutender geworden? Wird sie womöglich seitdem noch bedeutender? Gab oder gibt es da tatsächlich einen Siegeszug? Wie kommt es dann, dass Lyrik in den angeblich seriösen und wichtigen Zeitungen kaum besprochen wird? Dass es überhaupt so wenige ernstzunehmende Auseinandersetzungen mit zeitgenössischer Lyrik gibt? In seinem Plädoyer fährt Reich-Ranicki damit fort, eine ganze Generation von ihm offenbar schutzbefohlenen Lyrikern zu loben: "Aber der Dichter, der seiner Zeit nachläuft, holt sie nie ein; er wird vielmehr von ihr überrannt. Der Dichter wiederum, der vor seiner Zeit die Augen verschliesst, verfehlt seine Aufgabe. Die Erben Heyms und Trakls, Benns und Brechts lassen sich weder das eine noch das andere zuschulden kommen." Der Kritiker lobt immer zu viel, stellt Reich-Ranicki einmal, und mit Recht, fest. Doch in seinem Plädoyer, in dem gute Absichten und Vorurteile mit wenig leidenschaftlichen und gründlichen Erfahrungen von Lyrik in gönnerhafte Bevormundung münden, lobt er gleich eine ganze Generation. Was ihm vorschwebt, wenn er lobt, das lässt sich ja aus seinen Rezensionen der Arbeiten von Lyrikern ersehen; Rezensionen, die über weite Strecken nur die Fortsetzung der Unklarheit, ja Verworrenheit seines Plädoyers sind; eines Plädoyers, das aus inkohärenten Teilen besteht, irgendwie zusammengeklittert aus verschiedenen Klischees, Zitaten und Paraphrasen. So geht es eben mit gut gemeinten, aber nicht hinreichend durchdachten Apologien. Die Verteidigung der lyrischen Dichtung gerät einfach schon dadurch zu einer Art Angriff, dass sie so oberflächlich und ungenau betrieben wird: Denn zeigt jemand, der ein Loblied singt, das aus unausgetragenen Widersprüchen und ihm offenbar selbst unmerklichen Brüchen besteht, nicht, dass er eigentlich auf den Gegenstand seines Lobs keinen Wert legt? Man merkt bei jedem Absatz dieses Plädoyers: die lyrische Dichtung ist Reich-Ranickis Sache nicht. Und wenn er die Lyrik am Ende seines Aufsatzes damit zu umarmen sucht, dass er unvermittelt ihre Schönheit lobt und ihren Nutzen in ihrer Schönheit sieht, dann würde ich am liebsten einem, allerdings irrationalen, Impuls folgen und die Lyrik vor einer Umarmung retten, die ich deshalb versucht bin, für tödlich zu halten, weil sie nicht nur missverständlich und oberflächlich ist, sondern auch diejenige, welche die meisten von uns ihr meistens angedeihen lassen würden, würden sie sich überhaupt einbilden, das Bedürfnis zu einer solchen Umarmung zu verspüren.


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