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MARCEL REICH-RANICKI
ODER DIE KRITIK EINER LITERATURKRITIK


© by Franz Josef Czernin


6. KAPITEL
DIE WIRKLICHKEIT DER MORAL ALLER GESCHICHTEN IST IHR ENGAGEMENT


Von jemandem, der moralische Forderungen artikuliert, also Sprache auf bestimmte Weise gebraucht, sollte nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden, dass er diese Forderungen erfüllt, indem er sie aufstellt. Dementsprechend: wenn jemand moralische Forderungen aufstellt, indem er sprachlich handelt, kann er diese moralischen Forderungen auch damit nicht erfüllen, wie er sprachlich handelt. Und wenn jemand auch sprachlich so handelt, dass er keine moralischen Forderungen aufstellt, so kann er doch damit, wie er sprachlich handelt, moralisch handeln.
Vor dem Hintergrund dieser Festlegungen und unter der (ja immerhin anzweifelbaren) Voraussetzung, dass das Ethische im Zusammenhang des Ästhetischen überhaupt eine Rolle spielt, sei die bekannte These wiederholt: Wird ein künstlerischer Text hergestellt, dann wird um so moralischer gehandelt, je ästhetischer in dem Text gehandelt wird, je mehr also der Text glückt; und wird ein künstlerischer Text hergestellt, dann wird um so unmoralischer gehandelt, je weniger ästhetisch in dem Text gehandelt wird, je weniger also der Text glückt. Mit anderen, bekannten Worten: in der Kunst, insbesonders in der Literatur, besteht das Ethische im Ästhetischen; die Moral des Kunstwerks besteht aus seinem ästhetischen Wert. Mag auch, wenigstens nach Reich-Ranickis Ansicht, jemand wie Heinrich Böll mehr als ein Dichter sein, so wäre er dann, wenn er auf Kosten seines ästhetischen Handelns moralische Forderungen artikulierte, auch weniger als ein Dichter.
Das sind einfache und bekannte Gedankengänge, gleichsam das Einmaleins der Produktion und der Rezeption von Kunstwerken. Doch der grösste Teil des Umgangs mit Kunst im deutschen Sprachraum besteht offenbar darin zu versuchen, diesem Einmaleins auszuweichen, oder es zu vergessen bzw. seine Konsequenzen aus den Augen zu verlieren.

Der Literatur moralische Funktion so zu unterstellen, dass diese dabei an die Stelle der Moral des Ästhetischen tritt, ist aber nur eine Weise zu versuchen, den Bedingungen der künstlerischen Produktion oder Rezeption auszuweichen. Statt das ästhetische Gelingen der moralischen Funktion unterzuordnen, kann man das ästhetische Gelingen auch dem Aufstellen von wahren Aussagen unterordnen und etwa versuchen, aus ästhetischen Zusammenhängen Aussagen über etwas herauszulesen, und die Frage nach ihrer Wahrheit oder ihrem Informationsgehalt zum ästhetischen Kriterium zu machen. Damit aber missversteht man nur jenes Moment der Lesart Realismus, das darin besteht, lesend so zu handeln, dass man eine bestimmte Wirklichkeit jenseits des Verstehens des Texts voraussetzt, mit welcher man jenes Verstehen vergleichen kann.

Beiden Formen der Unterordnung des Ästhetischen ist der mangelnde Glaube an die Autonomie des Kunstwerks gemeinsam, eigentlich also der mangelnde Glaube daran, dass die Kunst eine eigene Art von Wert herstellt und zugleich auch eine eigene Art von Erkenntnis oder Wahrheit, die weder unmittelbar mit der Überprüfbarkeit von Aussagen zu tun hat, noch unmittelbar mit der Artikulation moralischer Forderungen. Begründet der dem Ästhetischen inhärente Zusammenhang zwischen Wert und Erkenntnis den Totalitätsanspruch von Kunst, dann ist das auch der mangelnde Glaube an die Berechtigung des Totalitätsanspruchs von Kunst.
Selbstverständlich wäre gegen diese Skepsis gegen die Autonomie und Totalität des Kunstwerks nichts einzuwenden, wenn diese Skepsis reflektiert und deutlich ausgesprochen würde und nicht versucht würde, die Kunst damit zu rechtfertigen oder gar zu retten, dass man ihr Ersatz-Funktionen unterschiebt: Macht man etwa den ja denkbaren sozialen oder seelischen Nutzen der Kunst zum Kriterium ihrer Qualität, so verhält man sich ähnlich wie diejenigen, die Religion damit zu verteidigen suchen, dass sie diese als eine Form psychosozialer Hygiene darstellen. Dass diese Form des Arguments stillschweigend sowohl der Kunst als auch der Religion ein negatives Urteil spricht, und nur ärmliche Surrogate für deren eigentliche Ansprüche zu bieten hat, scheint dabei vielen nicht deutlich zu werden.

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Reich-Ranickis Literatur-Euphorie, seine durchaus glaubwürdige Begeisterung, verdeckt, wie sehr er dazu neigt, sekundäre und kontingente Qualitäten des Kunstwerks zu primären und notwendigen umzudeuten und zugleich zu leitenden Kriterien seiner kritischen Auseinandersetzungen zu machen. In seinen Texten über Literatur herrscht die Tendenz, das Ästhetische sowohl der Moral als auch überprüfbarer Wahrheit so unterzuordnen, dass die Moral und die Wahrheit des Ästhetischen selbst nicht hinreichend konsequent und kompromisslos verfolgt werden; ja bezeichnend für seine Position ist vor allem, dass er beides - die moralische Forderung und die wahre Aussage über eine Welt - höchst unscharf miteinander verquickt. Die Moral - er nennt sie Kritik -, die literarische Texte enthalten sollen, besteht für ihn vor allem schon darin, dass sie sich auf die Wirklichkeit, die Gegenwart beziehen. Moralisch und kritisch ist die Lesart Realismus, weil sie scheinbar eine bestimmte Form von Information garantiert. Diese Form von Information soll dadurch zustandekommen, dass in der Literatur die Beschreibung dessen, was ist, und dessen, was sein sollte, einander voraussetzen sollen. Zugleich wird das, was ist, diese Gegenwart oder Wirklichkeit, selbst wiederum vor allem in moralisierbarer Form vorgefunden, nämlich als Ergebnis einer historischen oder sozialen Beschreibung und Bewertung vorbestimmt, also als Ansammlung von Zeichen des Sozialen aufgefasst. Und so zeigt sich jene unscharfe Verquickung dann darin, dass Reich-Ranicki in Kunstwerken nicht nur überprüfbare Wahrheiten im allgmeinen sucht, sondern überprüfbare moralische Wahrheiten (die Verbindlichkeit des Gewissens), aber auch wahre moralische Forderungen (die Verbindlichkeit etwa von Gesellschaftskritiken).

Reich-Ranickis Forderung an die Literatur, dass sie sich auf eine - wie immer vielfältig wiedergebbare - Wirklichkeit zu beziehen habe, und seine Tendenz, diese Wirklichkeit vor allem in den Begriffen von Geschichte, Soziologie (und das in ihrer mehr oder weniger dilettantischen Mischung, in der Sprache der Zeitungen) zu finden, ist also sowohl Folge als auch Ursache seines Moralismus, während seine Forderung an die Literatur, dass sie eine - wie immer vielfältig ausdrückbare - Moral oder Kritik zu enthalten habe, und seine Tendenz, diese Moral oder Kritik in den Begriffen zeitungsgemäss literarisierter historischer oder sozialer Analysen zu finden, sowohl Folge als auch Ursache seines Realismus ist.
Wiederum will ich nicht vergessen: Reich-Ranicki ist auch diesbezüglich unser aller Bruder, denn alle die für selbstverständlich erachteten und deshalb unklaren Bedingungen und Voraussetzungen unserer intellektuellen Kommunikation, ja unserer Lebensform insgesamt, und insbesonders unserer Lebensform als Kunst-Rezipienten, fördern gerade diese trübe Vermischung von Kategorien, welcher er so häufig unterliegt. Überall wird die Literatur (und jegliche Kunst) für etwas gehalten, das dem üblichen Begriff von Information unterliegt (für etwas, das Wahrheiten transportiert) oder wenigstens jenem Begriff folgend in Informationen übersetzt werden kann; und zugleich wird besonders die Literatur für ein Mittel der sprachlich artikulierten moralischen Forderung gehalten, die häufig allzu leichtfertig als ihre eigene moralische Verwirklichung hingestellt wird.

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Nun ist es aber keineswegs so, dass Reich-Ranicki einfach ein Banause ist, ein nichts als Stoff-Gläubiger, der Literatur mit Information verwechselt oder mit moralischer Erbauung, Forderung oder Kritik; er ist keineswegs ein Kritiker, der immer und überall über die Moral des Ästhetischen hinwegsieht. Ganz im Gegenteil gibt es zahlreiche Rezensionen, in denen er darauf hinweist und auch plausibel macht, dass moralische Forderung, Erbauung oder Gesellschaftskritik, oder aber auch Information über die Wirklichkeit allein nicht hinreichen, um Literatur herzustellen. Er weist häufig und detailliert in seinen Kritiken auf den Unterschied zwischen blosser Behauptung und tatsächlicher Darstellung hin. Sein kritischer Witz lebt davon, dass er die Komik des Unterschieds zwischen anspruchsvollen grossen Worten oder Behauptungen und deren mangelhafter Darstellung zeigt. (Ich habe schon erwähnt, wie geistreich und witzig er etwa die Schwächen eines Schriftstellers wie Peter Handke aufdeckt, seine frömmelnden, sektiererischen und falsch- prophetischen Züge.)
Reich-Ranicki unterscheidet also oft sehr überzeugend zwischen besseren und schlechteren Darstellungen der von ihm geforderten Thematiken, er hat manchmal durchaus differenzierte Vorstellungen davon, wie sich der Stoff mit dem, was er Form nennt, zu verbinden habe. Und gegebenenfalls betont er sogar die Autonomie der Kunst und warnt vor der Gefahr, die dann auch für ihn darin besteht, "dass das literarische Werk zum Vehikel unmittelbarer politischer und zeitkritischer Gedanken degradiert wird", also "die Eigenart und Eigengesetzlichkeit der Kunst ignoriert".

Aber das alles gelingt ihm bezeichnenderweise nur in einem bestimmten Rahmen; nämlich nur dann, wenn der Text ihm zu garantieren scheint, dass die fundamentale Todsünde nicht begangen wird, nämlich die Deutung, die Wirklichkeit (also unter Umständen auch die Wirklichkeit oder Wirksamkeit einer Moral) sei erst etwas, das durch das oder mit dem Schreiben oder Lesen des Texts hergestellt wird. Argwöhnt er das Kündigen des Gesellschaftsvertrags mit der Realität (Adorno), dann bewertet er es moralisch negativ, eben als eine Art Verbrechen, als Verbrechen, von dem er aber so tut, als wäre es ein Verstoss gegen eine natürliche Ästhetik. Manchmal bezeugen auch seine Polemiken gegen das, was er undifferenziert als Avantgarde verunglimpft, seinen diesbezüglichen Moralismus.
Und dass er diese, seine moralische und realistische, Rahmenbedingung nicht hinreichend als solche begreift, bringt es mit sich, dass seine kritischen Schwächen eben einerseits darin bestehen, sich einerseits durch die angebliche Dignität des Stoffs bestechen zu lassen. Diese Dignität des Stoffs hat natürlich nicht unbedingt mit der traditionellen Vorstellung von ihr zu tun. Das Darzustellende der heutigen Literatur besteht wohl häufiger in den, nach Alltagsbegriffen, armseligsten Dingen als in den grossartigen oder sublimen. Häufig herrscht hier ein Symbolismus der kleinen, unauffälligen und alltäglichen Dinge, der Nähe zur Realität, zum sogenannten wirklichen, überprüfbaren Leben signalisieren soll. Wie viele Schriftsteller und Kritiker lässt sich auch Reich-Ranicki von der Idee der Bestandsaufnahme, dem sogenannten Faktischen bestechen.
Andererseits lässt er sich mehr, als seinem kritischen Empfinden guttut, von guten Absichten irreführen, von der sogenannten Menschlichkeit usw. Das angeblich Faktische und das angeblich Moralische zusammen verleihen seinen Kritiken manchmal einige Sentimentalität, die er allerdings hinter spröder Diktion und Lakonismus zu verbergen versucht. Und gerade in diesen beiden Eigenschaften und in ihrer Funktion gleicht seine Schreibweise häufig der seiner bevorzugten kritischen Gegenstände.

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Alle diese Züge der Reich-Ranickischen Kritik kristallisieren sich besonders deutlich an seinem Gebrauch und auch seiner Diskussion des Wortes Engagement heraus. Hier zeigt sich sein ontologisierender Moralismus wie auch sein moralistischer Realismus an einigen auffälligen Inkonsequenzen und Stereotpyen, die deshalb so interessant sind, weil sie symptomatisch für das Klima von Halb- oder Missverständnissen sind, aus denen die Literatur und ihre Kritik sehr häufig bestehen.
Reich-Ranicki zitiert aus einer Vorlesung Ingeborg Bachmanns: "Die Kunst gibt uns die Möglichkeit zu erfahren, wo wir stehen, wie es mit uns bestellt ist und wie es mit uns bestellt sein sollte." Und Reich-Ranicki, der hier das Gewicht vor allem auf das moralische Moment legt, das sich für ihn in Ingeborg Bachmanns Bemerkung durch das Wort sollte ausdrückt, fügt hinzu: "So könnte, beispielsweise, das ganze Programm der engagierten Literatur lauten." Abgesehen von der so täuschenden facon de parler, dass es die Literatur sei, die ein solches Programm hätte, und nicht einzelne Schriftsteller wie Marcel Reich- Ranicki: Wenn man Ingeborg Bachmanns Bemerkung genau liest, dann drückt sie nicht nur ein moralisches Programm aus, sondern auch ein realistisches. Und es ist eben diese Mischung, die dieses Zitat für Reich-Ranicki so anziehend macht.

Eine speziellere Konsequenz oder Anwendung von Reich-Ranickis moralischem und realistischem Programm zeigt sich auch in dem Aufsatz Engagierte Literatur - wozu?, in dem er zunächst Max Frisch als Kronzeugen für seinen Begriff des Engagements aufruft. Wenn man aus den Zitaten aus einer Rede Max Frischs schliessen kann, ist schon dieser Zeuge bzw. seine Zeugenschaft zweifelhaft, und bedarf es einiger interpretatorischer Anstrengungen Reich-Ranickis, Max Frischs Ansichten zu diesem Thema in die gewünschte Richtung zu biegen. Der entscheidende Bruch in Reich Ranickis Argumentation erfolgt aber mit diesen Sätzen: "Das also wäre die Aufgabe und das Ziel des Engagements: die Welt in Frage zu stellen. Literatur als Kritik des Lebens. Oder bescheidener formuliert: als Auseinandersetzung mit der Gegenwart, als Reaktion auf die Wirklichkeit. Wozu, in wessen Namen, zu wessen Gunsten? Nichts scheint mir heute irriger als die Vermutung, die engagierte Literatur sei Werkzeug einer Ideologie oder bedeute Identifikation mit einer politischen Richtung, einer Weltanschauung, einer Partei, einem Programm. Womit also?" Und er lässt dann Hans Erich Nossak antworten: "Wenn überhaupt von einer Tragödie des Menschen gesprochen werden darf, dann ist es die, dass sich seine Institutionen und Erfindungen immer wieder verselbständigen und ihn zu Material machen. Gegen diese gefährliche Vertauschung von Mittel und Zweck haben sich die Künstler aller Zeiten zur Wehr gesetzt. Für den Menschen gegen den Apparat. Für den einzelnen gegen die Institution. Hier liegt unser Engagement auch dann, wenn kein Wort über Politik fällt." Abgesehen davon, dass hier wieder die Kritik an dem Leben unversehens zu der bescheideneren Reaktion auf die Gegenwart oder die Wirklichkeit und die Auseinandersetzung mit beidem abgeschreckt worden ist: Was hilft es hier, zugleich flink und angepasst, der Literatur wiederum eine Funktion zu unterschieben, eine Aufgabe? Ist es wirklich notwendig, der Literatur immer gleich mit solchen Formeln ins Wort zu fallen? Wäre es nicht, wenigstens zur Abwechslung, einmal besser, die Lücke freizulassen, die gerade durch die Literatur entstehen könnte? Vielleicht hat - die entsprechenden Wirklichkeitsbegriffe zugebilligt - die Literatur unter Umständen die Wirkung, den Einzelnen gegen die Institutionen zu verteidigen. Aber kann man zum Beispiel Becketts Endspielen diese Wirkung ernstlich als die entscheidende oder wesentliche zusprechen? Oder Kafkas Prosatexten oder Borges' metaphysischen Erzählungen?
Und ausserdem: entspricht es denn keiner Weltanschauung, wenn man für den Einzelnen kämpft und gegen Institutionen? Entspricht es nicht schon einer Weltanschauung, den Einzelnen als Einzelnen zu begreifen und fein säuberlich von den Institutionen zu trennen, diesen Konflikt zu konstruieren und zu behaupten? Und entspricht es nicht noch viel mehr einer Weltanschauung, wenn man diesen Kampf in der Literatur wiederfindet?

Und selbst wenn man über die weltanschaulichen Grundlagen für Nossacks von Reich-Ranicki gebilligte Formel hinwegsieht und über die Problematik von Reich-Ranickis Identifikation der Absichten des Künstlers mit seinem Werk: Kann man die Tätigkeit eines Künstlers wirklich hauptsächlich auf diese Formel bringen? Haben sich - ich greife hier aufs Geratewohl einige berühmte Namen heraus - Goethe, Bach, hat sich Joyce, hat sich Proust in erster Linie gegen Institutionen zur Wehr setzen und für den Einzelnen kämpfen wollen? Klingt es nicht so grosspurig wie lächerlich, hier mit ja zu antworten?
Und liegen die Dinge heute so anders? Ist es heute zwangsläufig so, dass sich die Kunst oder die Künstler gegen Institutionen zu wehren haben? Und vor allem: Ist die Kunst überhaupt das geeignete Mittel, sich gegen Institutionen zugunsten des Einzelnen zur Wehr zu setzen? Gäbe es da nicht bessere, effizientere Möglichkeiten? Und wenn man Kunst als Kampf gegen bestimmte Züge einer vorausgesetzten Wirklichkeit auffasst, warum dann nicht als Kampf gegen den Tod (wie etwa Canetti das von seiner Kunst behauptet) oder als Kampf gegen den Nationalismus, gegen die Trauer, gegen die eigene Verblödung? Reich-Ranickis Formel ist einfach ein Klischee, und dieses Klischee ist natürlich wohlfeil. Man hört es in verschiedenen Varianten: Der Künstler ist ein ein heroischer Aussenseiter, das heroische Individuum, oder auch der Unruhestifter und Rebell; jedenfalls der, der es mit dem Drachen der bösen kollektiven Mächte und Kräfte, insbesonders mit dem Drachen Staat, aufzunehmen versucht. Nun, in diesem Bild besteht ja schliesslich die Lebenslüge der meisten sogenannten Intellektuellen, die ihre Funktion im sozialen System nicht hinreichend begreifen, und Reich-Ranicki unterstützt sie nach Kräften.

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In seiner Polemik gegen Robbe-Grillet setzt sich Reich-Ranicki mit Robbe-Grillets Ansichten zum Engagement von Schrifstellern auseinander, und auch dabei werden einige der schon angedeuteten Züge der Reich-Ranickischen Kontamination von Moralismus und Realismus in ihrer Widersprüchlichkeit zu anderen leitenden Annahmen seiner Kritiken auffällig.

Nach Reich-Ranicki behauptet Robbe-Grillet, "der Schriftsteller sei zwar `engagiert', aber nur `insofern er Bürger eines bestimmten Landes, einer Epoche, eines Wirtschaftssystems ist, insofern er inmitten von sozialen, religiösen und sexuellen Regeln und Gewohnheiten lebt.' Er sei daher `nicht mehr oder weniger als alle anderen Menschen' engagiert." - Und gegen diese Ansicht Robbe-Grillets polemisiert Reich-Ranicki so: "Natürlich wirkt auch der Ingenieur, der Apotheker oder der Tischler `inmitten von sozialen, religiösen und sexuellen Regeln und Gewohnheiten', aber er befasst sich nicht mit ihnen in seiner beruflichen Arbeit. Der Schriftsteller indes kann es tun - wenn er es will und kann. Er hat also die Möglichkeit, die Fragen des Landes, dessen Bürger er ist, und der Epoche, in der er lebt, zu behandeln."
In der selbstverständlich-staatsbürgerlichen und allzu stereotpyen Formel von den Fragen des Landes, die der Schriftsteller in seinen literarischen Werken behandeln kann, wenn er engagiert ist, sind bezeichnende Undeutlichkeiten verborgen. Denn dieser Formel zufolge ist ein Schriftsteller dann engagiert, wenn er sich mit bestimmten Themen - Fragen des Landes - befasst, wenn er sie behandelt. Ein engagierter Schriftsteller ist hier also für Reich-Ranicki einer, der bestimmte Dinge wiedergibt oder ausdrückt, während der hier perhorreszierte nicht-engagierte, die verwerfliche Eigenschaft hat, ihnen auszuweichen, sie zu ignorieren, das heisst: über andere Dinge schreibt oder überhaupt nicht über Dinge. (Vielleicht schreibt er dafür zwischen Dingen oder schreibt einfach Dinge.)
Offenbar vermischt Reich-Ranicki hier sein Sprechen über engagierte Schriftsteller mit dem über Texte. Er scheint ohne weiteres vorauszusetzen, dass die Behandlung von bestimmten Themen bedeutet, dass der Schriftsteller, indem er sie behandelt, engagiert ist. So ähnlich wie manchmal ohne weiteres vorausgesetzt wird, dass das Aufstellen von moralischen Forderungen selbst ihre Erfüllung enthält.
Reich-Ranickis Sprachgebrauch wäre in diesem Fall nur damit zu rechtfertigen, dass man behauptet: das literarische Dar- oder Herstellen jener bestimmten Themen sei selbst die engagierte Handlung, auf die abgezielt werde. Und damit würde Reich-Ranicki, im Widerspruch zu seiner ganzen Haltung, aber wiederum implizieren, dass der Unterschied zwischen dem Schreiben und Lesen von Literatur und der Wirklichkeit jenseits der Literatur nichtig sei. Der Schreibende oder Lesende, der bestimmte Themen behandelt, sich schreibend oder lesend für bestimmte Fragen engagiert, verwirklicht auch schon das, wofür er sich engagiert.
Verlangt Reich-Ranicki aber von Schriftstellern Engagement, das sich auf bestimmte Dinge einer schon existierenden Welt ausserhalb des Schreibens des Texts bezieht, dann würde dieses Engagement damit zu etwas wie einer subjektiven Bedingung für die Moral des Ästhetischen, also für das Glücken des Texts. Es würde zu etwas wie der Kraft des Schriftstellers, die Moral des Ästhetischen leidenschaftlich und konsequent zu verfolgen, zu einer Art elan vital, zu etwas wie einer psychologischen Bedingung dafür, dass bedeutende Literatur entstehen kann. Ein so verstandenes Engagement wäre etwas Ähnliches wie Friedrich Schillers angebliche Schreib-Bedingung, die darin bestanden haben soll, dass er faule Äpfel in seiner Schreibtischlade aufbewahrt hat. So könnte man eine Bedingung für die Entstehung der Romane Dostojewskis in seinem Engagement für einen wirren und mystizistischen Panslavismus zu sehen; oder Ezra Pounds oder Luis-Ferdinand Célines faschistisches Engagement als eine Bedingung für die Entstehung wenigstens einiger ihrer Werke. - Ich halte diese Vorstellung des Engagements von Schriftstellern wenigstens in einigen Fällen für nicht unplausibel: aber für Reich-Ranicki, der das Engagement des Schriftstellers in dem, was dessen Texte behandeln, wiederfinden will, ist diese Vorstellung wohl nicht akzeptabel.

Nein, Reich-Ranicki will sicher nicht behaupten, dass Engagement deshalb damit definiert werden kann, dass sich ein Schriftsteller mit einer bestimmten (politischen, moralischen, sozialen) Sache engagiert befasst, eine solche Sache engagiert behandelt, weil die Realität dieser Sache durch dieses Befassen oder Behandeln verwirklicht wird; er glaubt nicht, dass das Kunstwerk, der Prozess seines Verstehens selbst, die Erlösungsmaschine darstellt, welche eine neu erfundene Welt oder, als deren Kehrseite, ein neu erfundenes Selbst aus sich entlässt. Und natürlich will er Engagement auch nicht zur subjektiven Schreibbedingung, zum Treibstoff für das Entstehen eines literarischen Werks reduziert sehen.

Engagement ist für Reich-Ranicki eben so etwas wie die Moral der Lesart Realismus, die Moral jener Lesart, die er - gelinde gesagt - für die fruchtbarste hält. So handelt der Schriftsteller schon dadurch moralisch-kritisch, dass er sich mit Hilfe seiner Texte auf eine bestimmte Wirklichkeit bezieht: "Bölls Engagement resultiert jedoch nicht aus einem gedanklichen System, sondern vor allem aus seinem Verhältnis zu der ihn umgebenden Realität. 1953 schrieb er: `Die Wirklichkeit ist wie ein Brief, der an uns gerichtet ist...Die Wirklichkeit ist eine Botschaft, die angenommen sein will - sie ist dem Menschen aufgegeben, eine Aufgabe, die er zu lösen hat.'" - Die Wirklichkeit also fordert und mahnt das Befassen mit ihr ein. - Reich-Ranickis Interpretation von Bölls Haltung und das Zitat aus Bölls Schriften geben wohl auch seine eigenen Ansichten wieder.

Doch wenigstens verbaliter ist er auch diesbezüglich nicht konsequent. Denn in seiner Polemik billigt er zu: "Aber Robbe-Grillet hat in einem gewissen Sinne schon recht, wenn er das `Poetische' als `Erfindung der Welt und des Menschen, ständige und immer wieder in Frage gestellte Erfindung' definiert. Und es hat schon seine Berechtigung, wenn er im `Politischen' die `Reduktion des Denkens auf Stereotype' und die `panische Angst vor jedem Zweifel' wahrnimmt." - Reich-Ranicki gibt hier Robbe-Grillet recht, aber weiss er auch, was er damit tut, schätzt er die Konsequenzen dieser Möglichkeit richtig ein? Wohl nicht. Denn wie könnte es sonst geschehen, dass er Robbe-Grillets Bemerkung "Und darum interessiert uns die Politik letztlich nur wenig" nicht in dem Kontext versteht, in dem er sie selbst zitiert, in dem die üblichen Formen des Interesses für Politik der gerade hier unterstellten Aufgabe des Schriftstellers widersprechen, "mit dem `Poetischen' jene `Reduktion des Denkens auf Stereotype' und die `panische Angst vor jedem Zweifel' zu bekämpfen?" - Wenn die Literatur als Erfindung der Welt und des Menschen aufgefasst wird, und dazu noch als immer wieder in Frage gestellte Erfindung, dann impliziert das doch, dass die Politik, die ja auch nach Reich-Ranickis Ansicht Kommunikation in Stereotypen bedeutet und panische Angst vor jedem Zweifel, nicht als solche interessieren kann, sondern ihre Formen von Kommunikation günstigstenfalls zum Material werden können, um jene Erfindung der Welt und des Menschen vorzunehmen.

Sollte es aber so sein, dass Reich-Ranicki in jener zitierten Passage aus seiner Polemik gegen Robbe-Grillet weder von Texten spricht, deren Thematik garantiert, dass der Schriftsteller engagiert ist, noch Engagement als psychologische Bedingung dafür auffasst, dass Texte ästhetisch gelingen können, dann spricht er in jenen Passagen wohl davon, dass ein Schriftsteller in dem Sinn engagiert sein soll, dass sein Schreiben den Zweck hat, ihn oder andere zu veranlassen, auf bestimmte Weise im Bereich dessen, den er als Jenseits des Akts literarischen Schreibens festlegt, gesellschaftlich zu handeln. Mit anderen Worten: Engagement würde hier bedeuten, dass ein Schriftsteller moralische Forderungen an sich - und sei es die moralische Forderung die Realität jenseits des Schreibens oder Lesens als so und so vorhanden zu akzeptieren - oder andere aufstellt, zu deren Verwirklichung er sich oder andere mit Hilfe seiner Literatur aufruft.
Spricht Reich-Ranicki in diesem Sinn, dann tut er aber wiederum genau das, was er explizit zu tun verleugnet: Er unterstellt der Literatur bestimmte Zwecke und damit möglicherweise bestimmten Nutzen, er definiert die Funktion der Literatur als utilitaristisch und nimmt ihre Eigenständigkeit, auf die er in anderen Fällen doch besteht, nicht ernst. Dadurch verstimmt, dass Robbe-Grillet gerade in Hinblick auf die Eigenständigkeit des literarischen Texts auf der Trennung zwischen dem Engagement des Schriftstellers und der Wirkung oder dem Sinn des Texts besteht, dekretiert Reich-Ranicki böswillig und zugleich klischeehaft: "Es überrascht mich kaum, dass Robbe-Grillet nicht weiss, wozu seine Bemühungen nützlich sind. Dass er jedoch von sich auf die Gesamtheit der Schriftsteller und Künstler schliesst, scheint mir zumindest leichtsinnig zu sein. Solange Kunst Menschen zu erfreuen vermag, ist sie schon nützlich und erfüllt sie eine gesellschaftliche Funktion." - Diese Art von "Nutzen" hat ja Robbe-Grillet womöglich gar nicht in Zweifel ziehen wollen! Soll aber dieses Dekret eine ernstzunehmende Antwort sein? Erwartet Reich-Ranicki von uns, dass wir uns dieser Vision einfach gläubig unterwerfen? Ob die Kunst, und wenn ja in welchem Sinn, erfreut und erfreuen soll, ob dieses Erfreuen nützlich ist oder nicht, dahinter steckt doch eine ganze Reihe von klassischen kunstheoretischen Fragen! Ich glaube: in diesem armseligen Dekret verbirgt sich Reich- Ranickis (natürlich überaus verständliche) Ratlosigkeit, was den Nutzen von Literatur angeht, und zugleich sein Versuch, seinen Moralismus hinter einer harmlosen hedonistischen Formel zu verbergen.

Nur das seltsame, aber auch so allemein übliche Zusammenspiel von Realismus, Common sense, journalistischer Haltung, Befangheit in den Mechanismen der Öffentlichkeit und damit verbunden, die mangelnde Skepsis gegen den verbalen Moralismus der veröffentlichten Meinung, erklärt Reich-Ranickis Ärger darüber, dass sich Robbe-Grillet gegen das öffentliche Reden der Schriftsteller über ihren angeblichen gesellschaftlichen Nutzen oder den ihrer Kunst ausspricht und behauptet, dass der Schriftsteller wie jeder andere Künstler nicht wissen könne, wenn überhaupt, wozu seine künstlerische Arbeit nütze ist. Reich-Ranicki antwortet darauf so: "Jeder denkende Mensch macht sich über den Sinn seiner beruflichen Tätigkeit Gedanken." Einmal abgesehen davon, dass es merkwürdig naiv und zugleich bürgerlich anmutet, die Tätigkeit des Schriftstellers als berufliche Tätigkeit unter anderen beruflichen Tätigkeiten zu beschreiben, so als ob die Tätigkeit, Literatur zu verfassen wirklich ohne weiteres etwas ähnliches wäre wie diejenige irgendeines bürgerlichen Berufs; - abgesehen davon also: Wie kann man Robbe-Grillet wörtlich nehmen und gegen ihn polemisieren in einer Welt, in der nichts üblicher ist und wenig übler, als dass sich die Dichter oder Schriftsteller darin überbieten, sich als Journalisten, Politiker oder Prediger aufzuspielen? In einer Welt, in der die meisten von uns fast ununterbrochen der Versuchung unterliegen, sich gegen unsere besseren, vielleicht gerade durch die Künste und die Wissenschaften hervorrufbaren Einsichten, auf das Leichtfertigste und Vereinfachteste über Dinge auszulassen, deren Komplexität wir so nicht gerecht werden können! Zeugt es nicht, um von den ästhetischen Aspekten dieser Haltung abzusehen, von Redlichkeit, oder ist es nicht wenigstens heilsam, einmal davon auszugehen, dass man nicht weiss, ja nicht wissen kann, ob die eigene künstlerische Tätigkeit nützlich ist?
Kann man Robbe-Grillets Haltung nicht als Teil einer nur allzu berechtigten Strategie sehen, einer Strategie, die sich gegen die sogenannten Intellektuellen richtet, die über alles mögliche daherreden und dabei noch so häufig ihr Moralisieren mit ihrer Moral verwechseln, Ihr Reden über ihr sogenanntes Engagment mit ihren Handlungen, die moralische Forderung mit ihrer Erfüllung?

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Das Engagement oder die Moral von Schriftstellern wird mit der Wirkung von literarischen Texten identifiziert, bestimmte zur Lesart Realismus gehörige Wirkungen literarischer Texte mit dem Engagement oder der Moral von Schriftstellern. Dennoch wird andererseits behauptet, dass literarische Texte autonom sind. Genau diese unbegriffenen Widersprüche, die, weil sie nicht bedacht werden, in den Widersinnigkeiten und Halbherzigkeiten des Umgangs mit Kunst so häufig auftauchen, tauchen auch unversehens in bestimmten Urteilen Reich-Ranickis auf. In einem Aufsatz über Friedrich Dürrenmatts Werk, das er jenem Brechts diametral gegenüberstellt, schreibt er: "Während jedoch Brechts Stücke - ebenso die aus der Weimarer Republik wie jene, die er im Exil geschrieben hat - in den fünfziger oder sechziger Jahren nicht mehr unmittelbar unsere Verhältnisse betrafen und also historisch gesehen werden konnten und mussten, was die Rezeption natürlich erleichtert hat, zielten die Hauptwerke Dürrenmatts mitten auf unsere Existenz." Und: "Nichts gegen Brecht: Er war - dies ist wahrlich eine Banalität - ein Jahrhundertgenie. Doch eine Antwort auf die Welt nach 1945 ist in seinen Schriften nicht mehr zu finden, wohl aber in den Hauptwerken des Nachgeborenen, also Friedrich Dürrenmatts." Reich-Ranicki stellt in diesem Aufsatz - wie denn auch nicht! - Brecht als engagierten Autor dar; ein engagierter Autor ist ihm hier einer, der in seinen Texten bestimmte Antworten auf die Welt gibt, Lösungen offeriert und dazu aufruft, gemäss dieser Antworten oder Lösungen zu handeln.
Nehme ich nun mit Reich-Ranicki an, dass Brecht sich auch selbst als engagierter Autor angesehen hat, dass er geglaubt hat, Antworten in seinen literarischen Texten zu geben, und diese Antworten so auf die Welt zu geben, Lösungen so zu offerieren versucht hat, dass sie durchaus auch noch in den fünfziger oder sechziger Jahren gelten sollten (Brecht hielt ja seine Weltanschauung nicht für eine für wenige Jahrzehnte), dann muss ich auch annehmen, dass er sich über die Art seines Engagements, über die Wirkung seiner Literatur, und also auch über ihren Nutzen oder Zweck völlig getäuscht hat. Denn kaum sind zwanzig Jahre vergangen, geben, nach Reich-Ranicki, die Schriften Brechts keine Antworten mehr, offerieren sie keine Lösungen (während es nun die Schriften Dürrenmatts tun, übrigens paradoxerweise damit, dass sie keine Antworten geben). Dieser fundamentalen Selbsttäuschung zum Trotz, ist für Reich-Ranicki Brecht aber ein Jahrhundertgenie. Worin soll aber nun die Genialität seiner Schriften bestehen? Offenbar besteht sie für Reich-Ranicki in dem, was von seinen Schriften bleibt, auch wenn man die Absicht ihres Autors, sie zum Zeichen eines bestimmten Engagements zu machen, gleichsam von ihnen abzieht. Wenn dem so ist - und diese Ansicht ist ja keineswegs unplausibel -, was für eine Funktion hat dann das Engagement, das Reich-Ranicki doch zur moralisch, politischen Pflicht des Schriftstellers macht? Es wird eben zu nichts als zu einem psychischen Mechanismus, der den Schriftsteller mit den notwendigen Energien dafür versorgt, dass dann etwas entsteht, das spätestens in einigen Jahrzehnten jenem Engagement, also ihm selbst, spottet. Wenn man nun aber diesen Standpunkt akzeptiert, der enthält, dass sich ein Werk noch auf eine viel umfassendere und unvorhersehbare Weise von seinen Autoren und deren Welt-Anschauungen selbstständig macht, dann müsste man nicht nur den moralisierenden Begriff des Engagements aufgeben, sondern im Zusammenhang mit diesem Aufgeben auch die Intentionen des Autors viel niedriger bewerten, als Reich-Ranicki das tut, dessen bevorzugter kritischer Ausgangspunkt gerade in der verantwortlichen Person, vor allem in der Spielart des mündigen Staatsbürgers, besteht. Er sollte dann nicht davon sprechen, dass Schriftsteller Lösungen offerieren, sondern wenn überhaupt davon, dass die Wirkung von Texten derart sein kann, dass sie jemand so interpretiert, als würden sie ihm Lösungen offerieren.

Und eben weil Reich-Ranicki seinen Rahmen Realismus nicht ernsthaft in Frage stellen kann oder will, kommt er gar nicht auf eine hier so naheliegende völlig andere Erklärung für seine Behauptung, dass Brechts Stücke die Werke eines "Jahrhundertgenies" geblieben sind, obwohl sie "in den fünfziger oder sechziger Jahren nicht mehr unmittelbar unsere Verhältnisse betrafen" und keine Lösungen mehr offerierten, während sie all das zwanzig Jahre vorher doch getan zu haben schienen. Diese Erklärung könnte ja sehr gut darin bestehen, dass es diese Verhältnisse unmittelbar niemals gegeben hat, und dass nur ein unmittelbares Kurzschliessen auf andere Texte suggeriert haben könnte, dass es sie gäbe; eine Suggestion, die sich eben jetzt, bei einigem historischen Abstand als täuschend herausstelle. Es ist doch sehr einseitig zu behaupten, der Gegenstand, den ein literarischer Text zu einem Zeitpunkt x gehabt habe, habe sich mit der Zeit verflüchtigt.
Genauso plausibel könnte man auch sagen: Es hat, wie man jetzt bemerken kann, diesen Gegenstand unabhängig vom Lesen des Texts nie gegeben. Was wir zu einem bestimmten Zeitpunkt für den König Wirklichkeit oder für eine berechtigte moralische Forderung auch jenseits des Texts halten, das gibt es nicht. Und der Text ist deshalb auch nicht das Kleid für diese Wirklichkeit oder für diese moralische Forderung. Die Wirklichkeit, die Moral oder die Kritik, die mit und durch den Text hervorgerufen worden ist und immer noch wird, ist selbst der König, ist kein Kleid, welches eine wirklichere Wirklichkeit, und sei es die einer Moral, bekleidet: Wenn Brechts Texte jemals Lösungen offeriert haben, dann offerieren sie genau diese Lösungen noch immer.


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