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Der Schatten des Deutens des Dichters


Helmut Eisendle

In den Köpfen der Menschen, welche lesen, entsteht mit der Zeit eine subtile, tiefe, zunehmend feinere und irreversible Verwechslung dessen, was von ihnen stammt, mit dem, was in sie eingedrungen ist. Das von ihnen Gelesene ist nicht mehr erkennbar, und das Produkt des Schreibenden nimmt sich aus wie etwas Neues und Altes zugleich.
So wie man eine Sprache lernt, die mit der Zeit an die Stelle der Muttersprache treten kann, so lernt man auch eine Denkweise.
Manches Original ist vielleicht in Wirklichkeit nicht sehr viel mehr als die unmittelbare Auswirkung eines bestimmten anderen Denkens über es. Dunkel wird etwas Geschriebenes genannt, das seinen Sinn erst bei der Lektüre liefert und nicht schon beim ersten Hinsehen.
Franz Josef Czernin schreibt über Reinhard Priessnitz` Gedicht heldin.
Ich, selbst Autor, versuche nun zu erklären, genau genommen zu deuten, was hier geschieht; ein Autor, ich, selbst Schriftsteller, schreibe über einen Kollegen, der selbst Dichter ist, der das Gedicht eines toten Dichters deutet oder zu interpretieren versucht, um das zu erklären, was Dichtung in ihrer Dunkelheit sein kann, aber nicht ist, da sie ihren Sinn erst bei der Lektüre zu liefern imstande ist.
Dieses Vorhaben muß notwendigerweise schwer präzise zu entwickeln, in Angriff zu nehmen oder gar aufrechtzuerhalten sein.
Nun, das Vorhaben besteht vorweg darin, die Produktion eines Werkes - des Gedichtes: heldin von Reinhard Priessnitz - meinem reflektierenden Willen zu unterwerfen und dabei den reflektierten Willen Franz Josef Czernins, das Gedicht betreffend, zu berücksichtigen.

heldin
die matrix lau auf einmal, vögel lähmen/ die dumpfe
schreibhand, ihrer züge wellen/ in lineare phasen
vorzuquellen;/ und übersät von efferenzsystemen/ muß sie
die regelung auf dumpfer stellen;/ keine erhellung kann den
krampf beschämen:/ sie liegt vor selbstanwendbar-
keitsproblemen,/ und schwappt und schaukelt und die bilder schnellen./
war sie nicht selber vogel, zahm und lange,/ abschwebend
aufzufahren, sich zu strafen,/ so nett zu sein im
wiederholungszwange?/ sie regt sich noch und ist doch
e ingeschlafen;/ ein letztes mal, schwach, kaum im
schwange,/ drückt sie begriffsschiffs auf den mittelhafen.

Es geht, denke ich, in dem Aufsatz um die offenbare Wahrheit, welche das Gedicht in sich birgt, die in Franz Josef Czernin so etwas wie eine unerhörte Kenntnis der Poesie bewirkt haben muß, welche dieses oder andere Gedichte dem Seiendem, der Kunst des Geistes und der Sprache selbst einen ganz anderen Wert verleiht, als eine naive, von der allgemeinen Faulheit des Intellekts oder Poesieverständnisses wohlgelittenen Tradition ihr zuzu-schreiben imstande ist.
Es handelt sich - so deute ich Franz Josef Czernin - nicht mehr um Literatur oder einfache Poesie oder gar Unterhaltung, sondern um etwas oberhalb dessen: Metaphysik, Pataphysik der Sprache und des Ausdrucks, eine Vermischung zwischen dem Realen der Sprache und einem verbalen Vermögen, ja, vielleicht sogar einem Vermächtnis zu einem bestimmten höheren Zweck, Ideen zu kombinieren, die aus den Wörtern bestehen und entstehen.
Innerhalb dieser Poesie - wie ich behaupte, auch in seiner eigenen - gewahrt Czernin Fragmente eines universalen Werkes, dessen Geist dunkel und unbegreiflich ist, gleichsam so etwas wie der Wunsch, alles würde letztlich ausgedrückt werden können in Gedichten, die Welt sei nur dazu da, in Poesie zu gipfeln und wenn es ein Geheimnis gäbe, fände dieses auf einem Blatt Papier Platz.
Ein Dichter, dessen Material die Sprache ist, gibt sich im allgemeinen damit zufrieden, von Gedicht zu Gedicht seine Talente weiterzuentwickeln, je nach Gelegenheit oder dem Zufall, die ihm dies oder jenes Thema bietet.
Czernin behauptet, nicht zu unrecht, im Besitz einer Gewißheit zu sein, gleichsam eines poetischen Prinzips. Und Priessnitz beweise dies in seinen Gedichten, speziell im Gedicht: heldin.
Sein Blick auf die Prinzipien oder die Mechanik der Sprache und Poesie verpflichte Czernin zu einer Präzisionsarbeit, deren Ende nicht abzusehen ist.
Die gewöhnliche Syntax scheint, sagte Valéry über Mallarmé in einem Aufsatz, nur einen Teil mit ihren Regeln vereinbarten Kombinationen auszunutzen: jene Kombinationen, deren Simplizität dem Leser erlaubt, mit dem Auge die Zeilen zu überfliegen und zu wissen, worum es sich handelt, ohne die Sprache selbst wahrzunehmen, so wie wir die Klangfarbe einer Stimme nicht wahrnehmen, die uns von Geschäften spricht.
Czernin sucht ganz neue Anordnungen, mit einer Unverfrorenheit und einem Scharfsinn, der voll Schrecken die einen, voll Bewunderung die anderen staunen macht. Er beweist, daß die Poesie den Bedeutungen, den Klängen und sogar den Physiognomien der Wörter äquivalente Werte geben müsse, die, kunstvoll kontrastiert oder verschmolzen, Verse von großer Kraft, Fülle und Resonanz bilden. Reime und Alliterationen einerseits, Figuren und Metaphern andererseits sind bei ihm nicht mehr Details und Verzierungen des Textes; sie sind vielmehr substantielle Eigenschaften des Textes, der Inhalt ist nicht mehr Ursache der Form, er ist eine ihrer Wirkungen wie auch die Form zum Inhalt wird.
Um das zu erklären, beschreibt und deutet Czernin das Gedicht heldin von Reinhard Priessnitz. Er redet von Poesie, von Priessnitz und von sich, von seiner Arbeit und nur seiner, einer Arbeit, die sich die Sprache zum Thema gemacht hat und wie es ausschaut, nie was anderes vorhat als eben das zu begreifen oder greifbar zu machen, was so angreifbar ist und doch unbarm-herzig unbegreiflich wie die Sprache, seine und unsere.

Franz Josef Czernin, Die Schreibhand, Zu Reinhard Priessnitz` Gedicht heldin, Sonderzahl, Wien, 1997
ISBN 3 85449 119 0


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