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Ernst Jandl
Peter und die Kuh
Gedichte
Ca. 120 Seiten, gebunden
DM 29,80 / ÖS 221,- / SFr 29,80
ISBN 3-360-86873-8


"die rache der sprache ist das gedicht"


oder

Wie Ernst Jandls Gedichtband "peter und die kuh" doch noch zustande kam


Klaus Siblewski

I.

Eigentlich sprach mehr dafür, das Ernst Jandls Gedichtband "peter und die kuh" nicht im Herbst 1996 erscheinen würde und auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt, als das er pünktlich zur Auslieferung gelangte.

Am 26. Marz '96 sollte das erste Treffen in Wien stattfinden und mit der Arbeit am Buch begonnen werden. An diesem Nachmittag wurde Jandl mit dem Grossen Österreichischen Ehrenzeichen ausgezeichnet, aber die Lust des Autors, mit der Arbeit am Buch auch tatsächlich zu beginnen, war gering entwickelt. Auf der Fahrt vom Veranstaltungsort hin zum Cafe, wo auf die Würdigung angestossen werden sollte, fragte er mich energisch, was ich eigentlich in Wien suche. Meine gewundene Antwort, wir hätten uns doch treffen wollen, um möglicherweise und vielleicht nach Gedichten zu suchen, fegte er weg. Er brauche keinen neuen Gedichtband! Weder seine Arbeiten bisher, noch er als Dichter würde anders beurteilt werden, wenn ein neues Buch von ihm erscheinen sollte. Reiche denn, was bisher von ihm erschienen sei, nicht aus? Könne das nicht als Werk gelten?

Dennoch befand ich mich in Wien, ich war auf Einladung von Ernst Jandl in der Stadt, und für Jandls Rückzug konnte ich mir Gründe zurechtlegen. Seine Arbeitssituation war alles andere also dazu angetan, seine Lust auf die Arbeit an einem neuen Buch aufkeimen zu lassen. Wie eh und je ist seine Produktion von Gedichten eine im Nebenbei. 25 Jahre war Jandl im Schuldienst, das Schreiben hatte also zu warten. Aber auch heute, nachdem er längst keine Klassenzimmer mehr betritt, um darin Englisch und Deutsch zu unterrichten, hat sich daran nicht viel geändert. Die Anforderungen, die aus seinem Schriftstellerdasein für ihn täglich erwachsen, sind enorm. Korrespondenz, Anfragen für Lesungen und Bitten in verschiedensten Kommissionen mitzuwirken - jede dieser Anfragen ist gerechtfertigt, alle zusammen können dazu führen, das Ernst Jandl zum Schreiben von Gedichten, dem Zweck, unter den er sein Leben gestellt hat, nicht mehr kommt. Seine Wut ist also höchst verständlich. Wenn er schon zum Schreiben nicht kommt, warum soll er dann nicht zu dem, was ihn behindert, ja sagen, und jeden Gedanken an ein neues Buch verwerfen.

Aber Arbeitssituation und die Stimmungen, die sie in Ernst Jandl hervorzurufen schienen, hin oder her: Die Frage blieb, warum sollte sich der Autor nochmals der Mühe unterziehen und die Arbeit an einem neuen Gedichtband aufnehmen?
Hilfsantwort eins: Jandl hat genausowenig Lust darauf, sich selbst historisch zu werden, und damit waren die Aussichten, das die Arbeit an einem neuen Gedichtband doch beginnen konnte, nicht so gering, wie das zunächst den Anschein haben mochte. Seine letzten Veröffentlichungen lagen längere Zeit zurück. 1992 ein Buch mit "stanzen", Gedichte im Wiener Dialekt, 1989 die "idyllen". Seit der letzten Veröffentlichung eines Gedichtbands waren 4 oder wenn man bis zu den "idyllen" zurückgeht, 7 Jahre vergangen, und so sehr der tägliche Betrieb jeden Sinn für Gedichte abzutöten vermag, will sich Jandl selber nicht als einen Autor sehen, der einmal Gedichte geschrieben und veröffentlicht hat. Und er will nicht als ein Dichter angesehen werden, dem für Leistungen, die er früher erbracht hat, auf die Schulter geklopft wird.
Schreiben ist für ihn nichts, was sich in seiner Vergangenheit abgespielt hat. Und das Publizieren genausowenig. Noch mehr zum Opfer seines Ruhms mochte er nicht werden.

II.
Aber gab es denn genügend Gedichte? Diese Frage hätte der Autor beantworten müssen, konnte es aber nicht.
Bisher war die Initiative zu einem neuen Buch von Jandl ausgegangen, er war es, der ein Manuskript an den Verlag gesendet hatte, und dieses Manuskript war dann weitgehend identisch mit dem, das in den Satz gegeben wurde. Die eine oder andere Frage im Zusammenhang mit der Reihenfolge der Gedichte wurde noch erörtert. Bisher. Bei "peter und die kuh" war diese Reihenfolge auf den Kopf gestellt. Der Lektor fragte bei Jandl an, ob er sich vorstellen könne, die Arbeit an einem neuen Gedichtband aufzunehmen, und die erste Aufgabe, die sich stellte, bestand darin, die Gedichte zu bergen. Und das hiess: Der Lektor musste sich zum Verbündeten des Autors gegen dessen Alltag machen, ihn dazu anstiften, Briefe in dieser Zeit im Postfach oder in den Vorordnern liegen, das Telefon unbeantwortet zu lassen. Und er musste sich, stärker als das bei Jandl bislang nötig gewesen wäre, der Rolle des Autors annähern. Gemeinsam wurde die Suche nach den Gedichten aufgenommen, von denen Autor und Lektor den Eindruck hatten, sie konnten Platz in einem neuen Buch finden. Üblicherweise entschied der Autor, was er als Gedicht ansehen wollte und was nicht, und der Lektor versuchte dieser Entscheidung zu folgen - wenn er hinreichend Argumente dafür finden konnte. Bei "peter und der kuh" wirkte aber der Lektor an den Entscheidungen mit, die der Autor früher mit sich alleine ausgetragen hatte. Und für diese Verkehrung der Verhältnisse gab es Gründe, die sich aus den Eigenwilligkeiten von Jandls Produktionsgepflogenheiten der letzten Jahre ergaben.
Aber bevor es zu weiterreichenden Überlegungen kam, regierte die schiere Pragmatik. Phase 1 der Arbeit an "peter und die kuh" setzte ein: Mit dem Sichten des Materials wurde begonnen.
Welches Gedicht aber bestand die Reifeprüfung? Welches Gedicht war eines und sollte nicht zur weiteren Bearbeitung auf die Seite gelegt werden? Denn das ergab sich rasch als erstes und entscheidendes Auswahlkriterium: Wann konnte die Arbeit des Autors an dem jeweils zur Diskussion stehenden Gedicht als abgeschlossen angesehen werden, oder hatten sich Autor und Lektor an dem jeweiligen Sprachgebilde doch noch Veränderungen gewünscht? Diese Frage musste sich jedes von Jandls lyrischen Produkten gefallen lassen, auch eines mit dem Titel "1000 Jahre österreich".


Ernst Jandl "1000 jahre ÖSTERREICH"

ich glaube nicht an gott, mag heißen
ich glaube nicht woran du glaubst; es mag
auch heißen: ich glaube nicht an dich.

doch glaub ich doch an dich: dich haut fleisch nerven fett skelett
kann ich berühren küssen schneiden schießen brennen
wie gut daß du und ich einander kennen.

auch sag ich: gottseidank; bei niesen: helfgott
und immerzu: ohgottohgott, mein stoßgebet; im anfang
war das wort - ich wüßte nicht was ohne es ich täte.

zwei tiere reichten aus, maskulin feminin, um ineinander
steckend, schwitzend keuchend schreiend oder geräusch vermeidend
einen neuen menschen zu schweinen: mich, ERNST JANDL.

heil blutiger gott, dein reich ist der schlaf, und komme
zu uns immer halb-halb, tag-nachts und stoße uns endlich
in den unschlaf unseres ewigen nicht-mehr-lebens
unter den flügelschlägen deiner geier.

die eierfromme seligkeit der bestie mensch
die beschissenen erschütterungen der fortpflanzungen
könnte er nicht ein krokodil sein ein schakal ein skorpion? er ist es
und aus seinen löchern fahren engel auf.

furzend berstend schmücke dich edles austriachon
eintausend jahre feiernd im eiterstrom
pest tuberkulose krebs AIDS syphilis sind orden
uns, die geboren sind zu fressen saufen pissen scheißen morden.

Gegen dieses Sprachgebilde konnte seine Heterogenität sprechen. Denn das dieses Gedicht aus den unterschiedlichsten Elementen bestand, erschloss sich schnell. Liefen dem Autor am Ende sogar verschiedene Gedichte durcheinander, und man hatte es mit einer Manuskriptseite zu tun, auf der sich der Autor Anfänge von verschiedenen Gedichten niedergeschrieben hat? Zugegebenermassen war das eine sehr weitgehende Spekulation, die durch das Manuskriptblatt selber nicht gestützt wurde: Das Gedicht lag in einer Reinschrift vor, die deutlich als Reinschrift zu erkennen war und sich von Manuskriptseiten mit Notizen unterschied. Aber dennoch: Der Blick auf jedes Gedicht von Ernst Jandl, dessen Veröffentlichung erwogen wurde, konnte nicht kritisch genug sein. Am Anfang dieses Kolossalgemäldes (für Jandls lyrische Verhältnisse) steht ein doppeltes Glaubensbekenntnis: Jandl verneint, einen Glauben zu Gott zu besitzen, aber er bekennt sich zum Menschen - allerdings nur in seiner reinen physischen Existenz. Diese Spur verfolgt er mit einer kleinen Zivilisationskritik weiter: Nur das Wissen, wie verletzlich der andere ist, hindert uns daran, über ihn herzufallen. Dann folgen drei Zeilen Sprachkritik: Das Gott laufend im Mund geführt wird, hat keinerlei metaphysische Konsequenz. Der Autor bedient sich Redewendungen, sonst nichts. Von dort aus kommt Jandl auf seine Herkunft zu sprechen: Wieder regiert die nackte Biologie. Für den Vorgang seiner Zeugung entwickelt er sogar ein eigenes Verb, das bisher in keinem Lexikon aufgeführt ist: schweinen. Irgendeine Bedeutung will er seiner Existenz nicht zubilligen. Der Mensch: In Jandls Version der wandelnde biologische Minimalismus. Attestiert er dem Menschen deswegen, alle Qualitäten einer "bestie" zu besitzen, und macht er deswegen aus Gott einen Herrscher über das Reich des Schlafs? In einer Schlussvolte kommt er auch noch auf das titelgebende Millenium zu sprechen, und schmückt Österreich mit den absonderlichsten Orden:
"pest, tuberkulose, krebs, AIDS, und syphilis". Je niedriger die Vergleiche angesiedelt sind, um so eher, gewinnt man den Eindruck, helfen sie Jandl das auszudrücken, was er unter "dem Menschen" versteht. Entscheidend dabei scheint zu sein: Jandls Menschen gereicht nur das zur Ehre, was ihn garantiert und auf die denkbar fürchterlichste und massenhafteste Weise auslöscht.
Dieses Gedicht wurde für die weitere Arbeit an dem Gedichtband in mehrfacher Hinsicht wichtig. Es lieferte wesentliche Anhaltspunkte, welches von Ernst Jandls Sprachgefügen bereits den Rang eines Gedichts erreicht hatten und welches nochmals überdacht werden muste. Denn, das es sich bei "1000 jahre österreich" um ein durchkomponiertes Gefüge handelt - dieser Eindruck stellt sich trotz aller Irritationen am Anfang bald ein. Das Gedicht setzte sich zwar aus einem Sammelsurium von Details zusammen, es bestand aber nicht alleine daraus. Zum Gedicht wird es erst durch eine jedes Detail erst belebende Thematik: Jandls Sichtweise dessen, was sich ihm als Mensch präsentiert. Vers für Vers wird eine neue Eigenheit des homo jandlius aufgeblättert - und genau dieser Surplus in jedem Detail wurde im Zweifelsfall für den Fertigungsgrad benutzt, den jedes von Jandls Sprachprodukten erreicht hat. War dieser lyrische Mehrwert zu spüren, dann wurde der Überzeugung nachgegeben, die sich meistens schon während der ersten noch vollkommen unreflektierten Lektüre einstellte, es handle sich um ein Gedicht, verflüchtigte sich aber dieser Eindruck, auch das war eine Sache des Augenblicks, dann wurde das als Ausweis gewertet, das der Autor nochmals zu Bleistift oder Kugelschreiber greifen müsse.
An "1000 jahre österreich" liessen sich aber noch einige Beobachtungen vertiefen, die sich insgesamt als typisch fur Jandls neueste Produktion erwiesen. Seine jüngsten Gedicht sind von einer Härte, die er bisher nur selten in seinem Werk erreicht hat. In vielen Gedichten setzte sich dabei eine Tendenz fort, die bei Jandl schon früher beobachtet werden konnte, sein ausserordentlich lustvoller Umgang mit Fäkalsprache zum Beispiel. In Vielem, was Jandl aus verschiedenen Mappen hervorzog, fand sich eine Sprachgebung knapp aber deutlich unterhalb des Niveaus, das in der Alltagssprache noch als taktvoll gilt. Das diese Sprache in ihrem offiziellen Gebrauch nicht vorkommt und sogar Widerwillen hervorrufen würde, wenn sie offiziell verwendet werden würde, zeigte sich sogar als ein ausserordentlich reizvolles Element in Jandls Gedichten. Vorsicht war auch in dieser Hinsicht keine geboten.
Und: Jandl schien Provokationen, die von seinen Gedichten ausgehen, etwas leichter als früher hinnehmen zu können. Wieder halfen die "1000 jahre österreich", ein Gefühl dafür zu entwickeln, wann Jandl sich gestatten sollte, das zu publizieren, was er sagen wollte. Denn bei aller Liberalität: Die Provokationen, die von "1000 jahre österreich"ausgehen können, dürfen nicht als zu gering eingeschätzt werden. Für diejenigen, deren Glauben noch unangegriffener ist als der Jandls, muss die Vorstellung vom Menschen als einem sich paarenden und fressenden Tier abstossend sein, und wer unbedingt Österreichs Geburtstag festlich begehen wollte, könnte sich durch diesen knalligen Beitrag insgesamt gestört fühlen. Beides liegt nicht in Jandls Absicht und weder das eine noch das andere hat er nötig. Um das mit dieser Bestimmtheit zu sagen, war ein nur kurzer Blick auf Jandls Werk nötig.
Am Anfang seiner Karriere als Autor hatte sich Ernst Jandl darauf verpflichtet, Obszönitäten und Provokationen zu vermeiden. Wenn, sollten seine Gedichte durch ihre Form die Gemüter erregen, aber nicht durch deren Inhalt. Ein Agitator wollte er nicht sein. Das aber hatte zur Folge gehabt, dieses und wenige andere Gedichte, obwohl sie gelungen waren, zur Seite zu legen. Jandls Lust, den Katholiken wegen ihres Glaubens zu nahe zu treten und seine Landsleute in ihrem Stolz zu verletzen, war gleichbleibend gering ausgebildet. Oder ins Positive gewendet: Jandl sah nach wie vor keinen Grund, seine Gedichte diesen Tagesnotwendigkeiten unterzuordnen. Dennoch wurde das Gedicht nicht ausgeschieden. Das aber hiess: Auch wenn ein Gedicht Anstoss zu erregen vermochte, sprach das nicht mehr gegen die Veröffentlichung - und paradoxerweise obwohl der Grundsatz, nicht provozieren zu wollen, nach wie vor Gültigkeit für diesen Dichter besass.
"1000 jahre österreich" diente aber auch als Gradmesser dafür, welche weiteren Schranken für Jandl gefallen waren. Zwei in Grossbuchstaben getippte Wörter darin sprangen sofort ins Auge und markieren eine Wende: ERNST JANDL.
Noch immer fällt mir kein Gedicht ein, in dem Jandl mit der unverrückbaren Deutlichkeit von niemandem anderen als von sich selbst gesprochen hat, eine Überraschung. In den 50er Jahren hatte er sich das Gebot auferlegt, das Wort "ich" nicht zu benutzen. Später hat er zwar diesen Grundsatz für sich ausser Kraft gesetzt, etwa seit dem Erscheinen des Bandes "die bearbeitung der mütze". Aber dennoch: Derart massiv kam Ernst Jandl selbst in keinem seiner Gedichte vor. Er unternimmt erst gar nicht mehr den Versuch, hinter dem Neutrum "lyrisches ich" in Deckung zu gehen, sondern spricht in aller unverrückbarer Deutlichkeit von niemandem anderem als von sich selber: der Person, die den Namen Ernst Jandl trägt.
Mit "ERNST JANDL" hielt aber noch mehr Einzug in die Gedichte. Wenn mit Jandl der abgelutschte Begriff "Postmodernismus" in Verbindung gebracht werden kann, dann nur auf eine, dann sogar erhellende Weise: postmodern ist Jandl, indem ihm alles zum Material seiner Gedichte geworden ist, und zwar tatsächlich alles. In Jandls Sprachkunstwerken, darin schlagen sich die postmodernen Tautologien überaus zutreffend nieder, hat alles Platz, was darin Platz findet.
Das Alltagsmüll in die Gedichte hineingetragen wird, spricht nicht gegen sie. Auch Banales, Kalauer, Zoten und selbst wenn Ernst Jandl den Wunsch dazu verspürt, auch obszön Wirkendes, an- und auszusprechen, alles eignet sich, um daraus ein Gedicht zu formen. Damit hatte sich aber etwas Grundsätzliches geändert: alle von aussen an das Gedicht herangetragenen Überlegungen besitzen für Jandl keine Bedeutung mehr und daran ändert auch nicht, dass er sich selber diese Beschränkungen einstmals auferlegt hat. Für ihn zählt alleine und ausschliesslich, dass das, was sich zum Schluss auf dem Papier befindet, die Qualität eines Gedichtes hat. Woraus es sich zusammensetzt, ist egal. In postmoderner Steigerung: vollkommen egal.
ERNST JANDL hatte in diesen späten Gedichten einen späten Sieg errungen, er selber war vom Siegen jedoch so weit entfernt wie nie. Je weiter das Lesen, Sichten, Weiterlesen dauerte, je höher der Stapel mit Gedichten wurde, die nicht nur veröffentlicht werden konnten sondern mussten, um so deutlicher zu erkennen wurde eine Eigenwilligkeit von Jandls Produktion der letzen Jahre. Der Pakt des Lektors mit dem Autor war gegen seinen Alltag geschlossen, im Nachhinein konnte man sich allerdings zu der Ansicht versteigen, dieser Pakt habe vielleicht weiter gereicht. Die Vermutung, das Jandl Gedichte schrieb, ihm aber die Vorstellung abhanden gekommen war, wieviele Gedichte überhaupt entstanden sind, seitdem der letzte Gedichtband publiziert wurde, und ob das Material für ein neues Buch ausreicht, fand reiche Bestätigung. Mit einer gewissen Hartnäckigkeit (was als Indiz fur Triftigkeit gewertet wurde) stellte sich der Eindruck ein, seit längerem gehöre ein unglückliches Bewusstsein zu Jandls Produktion. Wie anders liesse sich erklären, das Jandl angesichts der Fülle des Materials, die sich langsam abzuzeichnen beginnt, von seinem Schreiben eher meint, es sei zum Erliegen gekommen, als das es noch zu irgendwelchen nennenswerten Resultaten führen wurde. Das kann einem sogar zu der Annahme verleiten, zu Jandls Produktion der letzten Jahre gehörte die Vorstellung, dass es zu einer Produktion gar nicht gekommen sei. Und sollte es tatsächlich so sein, dass Jandl ein notwendig falsches Bewusstsein von seiner Produktion besitzt, dass also die Vorstellung, nicht zum Schreiben zu kommen, grundlegend für seine Arbeit an den Gedichten ist (häufig löste diese Vorstellung, lange genug aufgestaut, überhaupt erst den Impuls zum Schreiben aus), dann war das Arbeitsbündnis mit dem Autor grundsätzlicher angelegt. Jandl selber würde die Idee zu einem neuen Gedichtband, falls sie ihm käme, schnell wieder begraben, und er musste das sogar tun, da es zu der Eigenart seiner Produktion gehört, ohne eine sich haltende Vorstellung zu arbeiten, zum Schreiben, wenn auch über lange Zeiträume auch nur gelegentlich, überhaupt zu kommen. Der Lektor muss sich also mit dem Autor gegen den Autor verbünden, mit dem Autor in Ernst Jandl, dem es widerstrebt, sich seinem unglücklichen Bewustsein ganz zu fügen. Wenigstens für kurze Zeit, solange das Sichten dauert und die ersten Schritte zum Buch hin getan sind.

III.
Mitten bei der Arbeit wurde der Autor jedoch schlicht krank - und das, was sonst vom Autor getan worden ware, musste ganz vom Lektor übernommen werden. Konkret: Der Manuskriptstappel war in eine ansehnliche Höhe emporgewachsen, wie aber daraus ein Gedichtband werden konnte, darüber war noch nicht in den zartesten Ansätzen nachgedacht worden. Der Lektor musste die Zusammenstellung des Gedichtbands alleine übernehmen, und das hiess nichts anderes, als dass er sich in der Rolle des Autors befand. Wie aber konnte er diese Rolle ausfüllen? Durch Simulation. Da er nicht der Autor der Gedichte war, vergegenwärtigte er sich den Bau der Gedichte, um auf diesem Weg zu einer Anordnung zu gelangen. Denn, so die innere Hochrechnung: die Gedichte selber mussten, wenn sie lange genug befragt werden wurden, die Logik preisgeben, wie sie anzuordnen sind, und sobald sich herausgestellt hatte, wie diese Logik beschaffen ist, liesse sich auch darüber befinden, welche Gedichte aufzunehmen waren und welche später (in anderen Sinnzusammenhängen) zu veröffentlichen sind. Diese Hochrechnung war nicht umsonst angestellt. Phase 2 der Arbeit an dem Gedichtband setzte ein, und am Ende dieser Autoren-Simultation stand dann tatsächlich "peter und die kuh".
Bei der ersten Durchsicht fiel auf (und dieser Eindruck hatte sich schon beim ersten Sichten des Materials eingestellt und auch gehalten): eine grosse Anzahl von Gedichten beschäftigt sich mit Körperteilen. Fur Jandl hat sich der Körper in seinen simplen kreatürlichen Funktionen zu einem (gedichtprovozierenden) Lebenshindernis entwickelt. Füsse, Knie, Hände, nichts vermag mehr seinen bislang als selbstverständlich angesehenen Dienst versehen; und selbst die Stirn, deren Beitrag zu den täglichen Verrichtungen eher indirekterer Natur ist, wird als mit einem Makel behaftet gesehen. Mit diesen Gedichten belebt Jandl, wie das literaturhistorisch etwas geschulte Gewissen auf Befragen preisgab, eine Tradition, die im Barock lebhaft begründet, seither als abgebrochen gelten muss: Körpergedichte. Allerdings schreibt Jandl diese Tradition nicht einfach fort. Bei ihm handelt es sich eher um Gedichte der Körper-Defekte. Das Versagen von Händen, Füssen und Beinen ist sein Thema, oder genauer, wie diesem Versagen entgegengewirkt werden konnte, oder noch präziser gefasst: Jandl führt Klage darüber, dass er seine Hände, Füsse, Beine nicht mehr dazu bringen wird, ihm ihre frühere Gefolgschaft zu leisten. Sie streiken, und das erbittert ihn.
Da es sich bei Jandls letzten Arbeiten um Altersgedichte handelt, um das zu erkennen war kein weiterer Scharfsinn notwendig, bot es sich auch an, in "peter und die kuh" (dieser Titel stand, nachdem das gleichnamige Gedicht aufgetaucht war, von Angang an fest) mit diesen Gedichten zu beginnen. Wie immer erweist sich Jandl in diesen Gedichten als ein konkreter Poet, diesmal der realistischen Sorte. Das Wort Alter taucht in diesen KdG (Körperdefekt-Gedichten) nicht ein einziges Mal auf, doch es besteht kein Zweifel, von welchem Lebensabschnitt der Dichter spricht, und welche Zumutungen davon ausgehen können. Damit war das passende Entree für das Buch gefunden und im Zentrum dieses Teils wurde ein Gedicht gestellt, das aus einer scheinbaren Übertreibung besteht: "kleine körperliche biografie".


Ernst Jandl "kleine körperliche biografie"

nun habe ich in meinem mund
keine zehe mehr (keine eigene
eine fremde schon garnicht)
meine füße in meinen händen
sind vergangene gymnastik
meine hände salben vergeblich
die schmerzenden. mein halbschlitten
hindert mich am am knien. doch beuge ich mich
ohne anstrengung - meine übliche
haltung. mein glied, täglich gewaschen
hat verlernt
den täglichen aufstand. rebellion
geschieht in meiner seele
um die ich kämpfe.

Dieses Gedicht war für die weiteren Überlegungen, wie der Aufbau von "peter und die kuh" fortgesetzt werden konnte, aus zwei Gründen wichtig. Es bestätigte den gewählten Anfang. Jandls Welt scheint, wenn sein Knie lädiert ist, nur noch aus diesem beschädigten Knie zu bestehen. Je weniger selbstverständlich sein Körper das tut, was von ihm erwartet wird, umso mehr nimmt das alle seine Empfindungen gefangen: eine ganze Biographie lässt sich aus Körperteilen zusammensetzen. Und:
In diesem Gedicht schlägt Jandl einen neuen Ton an, der, an seinen Ursprung zurückverfolgt, in das Zentrum des Buches führt. Ins Bild passt, dass er seine Litanei auch mit seinem Glied fortsetzt: Auch da, nichts als Jammer. Ein Organ aber will sich ganz und gar nicht fügen. Jandl spricht davon, das sich ausgerechnet das Organ der Organe, die überall und nirgendwo im Körper zu plazierende Seele sich an dem allgemeinen Verfall nicht beteiligt. Sie rebelliert, und damit war die Tendenz in allen Arbeiten von Ernst Jandl der letzten Jahre gefunden: Der Körper seiner Gedichte hat den Widerspruchsgeist zur Seele, und genauso sollte es sich mit dem Gedichtband verhalten, auch sein Körper sollte die Rebellion als Seele beheimaten.

Gründe für diese Rebellion, und die sind für Jandl zu dem bevorzugten Material geworden, aus dem er seine Gedichte baut, findet er überall. Auch die Erinnerungen an früher nehmen ihn gefangen und selbst da setzt Jandl verblüffend seine Beschäftigung mit kreatürlichen Vorgängen fort.


Ernst Jandl "der schrei"

ich habe meine mutter durchlocht
als ich herauskam, oh welcher schrei
ich habe ihn nicht gehört, ich habe ihn sicher nicht gehört
und ich kann auch nicht sagen, er hätte mich zerstört
aber gewiß hat er mich verwundet
davon bin ich nie gesundet

In diesem Gedicht hat Jandl zum ersten Mal ausgesprochen, was von Anfang an in seinem Werk mitschwingt, vom ihm aber bisher noch nicht mit der bezwingenden Direktheit gefasst werden konnte. In seinem Werk finden sich eine Fülle von Huldigungen an die Mutter. "Laut und Luise"- ihr Vorname taucht im Titel des Gedichtbands auf, der Jandls Ruhm begründen half und in der Werkausgabe wurde die Abteilung "Gesammelte Gedichte" mit einem über die Mutter abgeschlossen, das zu diesem Zweck aus der Entstehens-Chronologie herausgelöst worden ist, nach der die anderen Gedichte geordnet wurden und am Ende dieses Teils einen Ehrenplatz erhielt. Jetzt lässt sich sicher sagen, warum Jandl an prominenten Stellen wie diesen an seine Mutter erinnert und weswegen der Teil mit Gedichten, in denen er auf seine Herkunft zu sprechen kommt, mit diesem Gedicht begonnen wird. Allein, dass er vorhanden ist, bedeutet für ihn (u.a. werden später Psychiater bei Jandl in die Schule gehen) Schuld. Den Schmerz, den er während der Geburt seiner Mutter zugefügt hat, und ohne den es ihn nicht gäbe, hat sich wie ein langer Schatten über sein Leben gelegt. Durch seine pure Existenz schuldig zu sein, ohne die Verantwortung für diese Schuld überhaupt zu haben, damit beginnt für Jandl alles und diese Schuld wird nie abgetragen sein .
Aber die Mutter kommt Jandl noch aus einem anderen Grund in den Sinn.


mutter hat gewußt
was sie wissen mußt

wenn du mein kind krepier
steht er schon neben dir

zu richten fürchterlich
für kleinste sünde dich

für kurze lüge unlängst
du jahrelang im fegefeuer brennst

für einmal onanieren
wirst ewig du die hölle spüren

doch bist du sündenfrei wie ich
hebt flugs er in den himmel dich

wo du zwar nicht leben
doch ihn umschweben wirst

für immer und ewig.

Sämtliche Erziehungszwänge einmal übergangen - Jandl besingt in "ave maria" tatsächlich eine geheiligte Frau, wenn auch nur in ihrer Wiederkehr als einer verheerend sich auswirkenden Sehnsuchtsmetapher. Er hat sich, das stellt er mit diesem Gedicht klar, vom christlichen Glauben entfernt, aber er ist, anders als andere Generationskollegen Jandls und Apologeten seines Werks keineswegs glücklich darüber. Seine Mutter steht für ihn für solideste Glaubensgewissheit, die bei ihm einer ebenso soliden Glaubensungewissheit gewichen ist. Das er diesen Glauben bei seiner Mutter beobachten kann, bringt ihn allerdings dem Christentum in irgendeiner Spielart um keinen Millimeter näher. Im Gegenteil: Sie erinnert andauernd an das, was ihm verlorengegangen ist, und lässt ihn spüren, wie peinigend dieser Verlust ist. Das seine Mutter (zumindest in seiner Vorstellung) lebte, als wäre sie gerettet, und das Lebensvereitelnde an sich, der Tod dadurch entschärft war, bringt ihn nahezu aus der Fassung. Durch seine Mutter nimmt er stets von Neuem wahr, das er für sich keine Rettung sieht und das verleiht seiner Wahrnehmung noch eine Extra-Schärfe. Durch sie spürt er seine metaphysische Entblösstheit in ihrer ganzen Kälte.
Damit schien lebensgeschichtlich hinreichend der Abdruck der Gedichte in "peter und die kuh" vorbereitet, die das Rückgrad dieses Buchs und bei weitem seinen umfangreichsten Abschnitt ausmachen - Gedichte, in denen Jandl nichts mehr anderes kann, als sich selbst zu einem gigantisch unerfüllten Kosmos seiner lyrischen Produktion zu werden. Heiterer wird sein Blick nicht, auch wenn er vom Alter und Herkommen absehen kann. Ihm will sein Leben nicht als eine Veranstaltung vorkommen, die in irgendeiner Beziehung mit dem Wort "gelungen" stehen könnte, wenn er aber darüber ins Grübeln kommt, was geschehen wird, wenn der Tod eintreten sollte, dann packt ihn das Grauen. Er halt sich zwar äusserst ungern in der Welt auf, in die er so rüde hineingeboren wurde, allerdings packt ihn auch das blanke Entsetzen, wenn er daran denkt, diese Welt wieder verlassen zu müssen. Dieses Thema beschäftigt ihn wie kein anderes, und je nachdem, in welcher Laune er sich befunden hat, sind seine Gedichte unterschiedlich vehement ausgefallen.


Ernst Jandl "anders"

mir ist so anders
als mir war
als mir noch nicht
so anders war

wie war dir denn
als dir noch nicht
so anders war
wie eben jetzt

als mir noch nicht
so war wie jetzt
war mir ganz anders
bis zuletzt

wann war zuletzt
daß dir noch nicht
so anders war
wie eben jetzt

immer war mir
bis knapp zuvor
ganz anders
ohne übergang

Alle Gedichte lesen sich wie Variationen auf das Wort "nichts". Denn darauf sieht Jandl seine Existenz aufgebaut. Er, Ernst Jandl, wird in seiner biologischen Konstruktion als Mensch verfallen, und damit ist das, was als Leben bezeichnet wird, zu seinem Ende gelangt. Und darüber kommt er nicht hinweg. In seinen sachlichsten Momenten scheint ihn wie in "anders" eine gewisse Entdeckerlust zu überkommen. Dann erweckt er den Eindruck, als wolle er herausfinden, wo genau die Grenze zwischen Leben und Tod verlauft, welche Gefühle versiegen, wenn das Leben geht, und welche neuen Gefühle aufkeimen werden, wenn der Tod eingekehrt ist. Von dieser Neugier wird er aber nur selten ergriffen, und der Disziplin zur Sachlichkeit vermag er sich auch nur selten zu unterziehen. Heftigere Gefühle treten bei Jandl häufiger auf, und gar nicht gut entwickelt ist sein Vermögen, sich mit der Vergeblichkeit seiner Bemühungen abzufinden. Ihm sagt zwar die Einsicht, das er über den Grenzverlauf zwischen Leben und Tod nichts herausfinden wird, und es ihm dabei nicht besser und schlechter ergeht wie allen, die das vor ihm versucht haben; und ihm legen seine Empfindungen nahe, das er nach dem Tod nichts zu erwarten hat. Doch was besagen schon diese Einsichten und Empfindungen? Es gehört ein grosser Gleichmut dazu, darauf gefasst zu reagieren. Dieser Gleichmut ist Jandl eigentlich fremd, schon deshalb, weil er sich bei der Frage, was nach dem Tod kommt, auf schwankendem Boden weiss. Die Atheisten kommen ihm ähnlich verbohrt wie die Christen vor. Beide sind Gläubige, die einen glauben an Nichts, die anderen an Etwas, was immer sich der Einzelne darunter vorzustellen gezwungen sieht. Beiden Lagern mag er sich nicht anschliesen. Zwar ist das eine Gefühl stärker ausgebildet und auch trainierter, das nicht ausgerechnet für ihn ein Heilsgeschehen ausgedacht worden ist, das sich dann in Szene setzen wird, wenn sein Körper für tot erklärt werden wird. Diese Art von transzendentalem Notprogramm, für die Menschen ersonnen und deshalb für ihn wie für alle anderen in Kraft, übersteigt sein Vorstellungsvermögen. Deshalb nähert er sich in vielen Gedichten in "peter und der kuh" auch Vorstellungen an, aus denen Atheisten eine Schule machen. Andererseits kann er genausowenig leugnen, das sich in ihm ein Heilsbedürfnis regt, und er gern diesem Heilsbedürfnis nachgeben würde. Insofern nähert sich Jandl gleichermasen gewissen christlichen Transzendental-Konstruktionen an. Im Kampf dieser beiden Empfindungsgemische behält aber die Enttäuschung über die vermutlich ausbleibende Rettung die Oberhand und wendet sich als Wut gegen alles, was Rettung verspricht.


Ernst Jandl "o christenheit, du wahres"

oh christenheit, du wahres
überbleibsel aus einer verlorenen
einer vernichteten zeit. wie ich da saß
am waldesrand, an fichtenzapfen kauend
und neben mir, strahlend, die eingehüllte mutter
in der schale eines frühen, schamhaften badedresses
mit dem sie verleugnete, auf dieser
fotografie meines vaters, was über mich
den unrein geborenen sohn einst kommen
sollte. oh ich werde verrückt mit all
diesen leichen im kopf: mutter, vater
und bruder robi, angegriffen und begraben
und ich hüpfe noch, auf beinen kaum mehr gehfähig,
hüpfe noch, nach dem erstinfarkt, mit meinem verquarkten
herzen.

Der Anfang dieses Gedichts klingt moderat. Das Christentum wird als Kulturgut eingeschätzt, das sich historisch überlebt hat. Doch je weiter Jandl es mit seiner Familiengeschichte und mit sich, demjenigen mit dem "erstinfarkt", zu tun bekommt, umso düsterer werden seine Wendungen. Transzendenz erscheint in dieser trostlosen Aneinanderreihung von Toten als reines Phantom.
Allerdings erwies sich Jandls Zorn in seinen Gedichten leicht steigerbar. Seine Wut über das fehlende Heil richtet sich dann ungebremst gegen sich selbst. Immerhin überführt er seine Entgeisterung noch in Sprache und zieht kleine ins Realere reichende Konsequenzen. Aber heraus kommen dabei Selbst-Abschaffungsgedichte, die in ihrer Schwärze und in ihrer Absage an alles den Menschen betreffende nicht mehr zu überbieten sind, und in der deutschen Literatur ohne Beispiel darstehen dürften.


Ernst Jandl "vermeide dein leben"

du bist ein mensch, verwandt der ratte.
leugne gott.
beginne nichts, damit du nicht beenden mußt.
du hast dich nicht begonnen - du wurdest begonnen.
du verendest, ob du willst oder nicht.
glück ist: sich und die mutter bei der geburt zu töten.
eines nur suche: deinen baldigen schmerzfreien tod.
hilferufe beantworte durch taubheit.
benütze dein denken zum vergessen von allem.
liebe streiche aus deinem vokabular.
verbrenne dein wörterbuch.
atme dich zu tode.

Zum Glück befindet sich Jandl nicht immer in dieser verheerenden Stimmung, und entsprechend kann er auch nicht auf eine Denkweise festgelegt werden. Der Rat "atme dich zu tode" steht nicht ohne Alternative im Buch. Im Gedicht "der einsame freund" bringt Jandl selber nicht die Konsequenz auf, im Boykott der biologischen Notwendigkeiten des Körpers die vernünftigste Verhaltensweise zu sehen. In diesem Gedicht gibt er sich als ein Selbstmörder zu erkennen, der sich selber daran hindert, auszuführen was er ausführen möchte. Er hat sich geradezu in dem Widerspruch, den Selbstmord zu wünschen, aber den eigenen Tod nicht herbeizuführen, eingerichtet. Das diese Empfindungslage auch von keiner grossen Zuversicht getragen ist, dürfte nicht zu leugnen sein, aber dieses Gedicht unterscheidet sich im Grad seiner Schwärze doch deutlich von dem Gedicht, in dem Jandl zu der Empfehlung "vermeide dein leben" gelangt.
Aber Jandl hält auch banalere Stimmungen für wert, in seinen Gedichten festgehalten zu werden. So wenig wie Ernst Jandl sich dauernd bremsen muss, damit es nicht zum Äussersten kommt, so wenig läuft er pausenlos mit der Einsicht auf die Stirn gemeisselt herum, dass mit nichts gerechnet werden darf, wenn das hier und jetzt erst einmal absolviert ist. Manchmal reicht auch wie in dem Gedicht "stille messe" Wein, um den Tag zuende zu bringen. Ausserdem hat Jandl Freunde, Dichter wie Gerhard Wolf oder H. C. Artmann, die in seinen Gedichte auftauchen. Und dann gibt es auch noch den Jazz. Vor allem bleibt Jandl das Schreiben von Gedichten, und das heisst für ihn immer auch, über Gedichte in Form von Gedichten nachzudenken. Diese Gedichte schliessen den Band ab, und dort ist eine Serie von Gedichten wiedergegeben, die in Jandlschen Werk bisher ohne Vorläufer sind. Bei ihm taucht auf einmal ein "gewürfeltes", ein "verkrustetes", ein "desinfiziertes" und sogar ein "altes" Gedicht auf, und in diesen Gedichten denkt Jandl über Gedichte nach, ohne das er auch nur mit einem Wort eine reflektierende Sprache benutzen würde. Er betreibt, und das hat in dieser Form ausser ihm bisher überhaupt noch niemand gemacht: Realpoetologie.
Diese Gedichte lesen sich, und deswegen wurden sie auch ans Ende gestellt, wie ein Reflex auf die Gedichte am Anfang des Buchs, die Körpergedichte, und sie lesen sich, als hatte Jandl am Ende des Jahrhunderts auf einen Autor reagieren wollen, der am Anfang des Jahrhunderts "Gespräche über Gedichte" geführt hat. Hugo von Hofmannsthal: "Das es Zusammenstellungen von Worten gibt, aus welchen, wie der Funke aus dem geschlagenen Stein, die Landschaften der Seele hervorbrechen, die unermesslich sind wie der gestirnte Himmel, Landschaften, die sich ausdehnen im Raum und in der Zeit, und deren Anblick abzuweiden in uns einen Sinn lebendig wird, der über alle Sinne ist."
Jandl sähe sich zwar nie in der Lage, derart beherzt ins Vokabular zu greifen wie Hofmannsthal, aber wenn in seinen Gedichten "Landschaften der Seele hervorbrechen" und durch seine Verse die Funken der Rebellion geschlagen wurden, hatte er nichts einzuwenden. Dennoch spricht nichts dafür, das Hofmannsthal und Jandl Arm in Arm ins nächste Jahrtausend gehen. Denn Jandl konnte unmöglich der Tendenz folgen, die Hofmannsthal diesem Satz gibt. Hoffmannsthal sieht den Dichter in der Rolle des Magiers, und genau in dieser Rolle sieht Jandl ihn nicht. Für Hoffmannsthal hat der Dichter Wunder zu bewirken, und für Jandl hat der Dichter alles zu tun, damit er keine Wunder bewirkt. Und damit ist angedeutet, worin Jandl die Problematik des Schreibens sieht. Jedes Gedicht muss als Gedicht gelingen, es darf aber in seinem Gelingen keiner Transzendenz zur Auferstehung verhelfen, die Jandl fur wenig wahrscheinlich halt. Insofern hat "die rache/ der sprache/ das gedicht" zu sein. Der Dichter muss jeden Sinn, der über das pure Hier und Jetzt hinausgeht, boykottieren. Und das ist schwieriger getan, als niedergeschrieben, denn dem Gedicht haftet in seinem Gelingen eine Tendenz inne, die "zur Feier eines Sinns, der über alle Sinne" beitragen konnte. Aber genau dagegen muss sich jeder von Jandls Versen verschwören. Der Körper seiner Gedichte darf sich gegen ihre Seele nicht durchsetzen. Deshalb ist eigentlich das Konstatieren der adäquateste Tonfall, den ein Gedicht für Jandl finden kann. Und im Konstatieren ist dann auch "peter und die kuh" an seinem ultimativen Ende angelangt. Und dieser Tonfall will sich am leichtesten einstellen, wenn die Stimme gesenkt wird.


Ernst Jandl "leises gedicht"

du, beim essen spricht man nicht.
nicht mit vollem munde sprechen.
jetzt sprechen die großen, die kleinen nicht.
halt deinen mund, du wicht.

wenn du ein gedicht bist, dann ein leises.
klein wie du, bist du vielleicht ein weises.
oder du bist blöd, dann noch am besten lautlos.
blick auf, wie schön über dir, du aas,
der himmel blau ist.

IV. Am 24.Mai '96 war ausgemacht, sich in Mondsee am Mondsee zu treffen. Dort sah der Autor zum ersten Mal in den Fahnen, was aus seinen Gedichten geworden ist, und er betrachtete sich, um das Wechselspiel komplett zu machen, das Ergebnis, als hätte er sich in die Rolle eines Lektors begeben, wie einen von ferne blinkenden und ihm nicht ganz unbekannten Planeten.

© Klaus Siblewski




ERNST JANDL’s vorletztes Gedicht in der Sammlung "Peter und die Kuh"

"stummes gedicht"

so unsprechbar, so
unaussprechlich -ebenso
unsichtbar, also kein
visuelles, sondern
höchst zerbrechlich, nämlich schon
zerbrochen - zum ersten mal
wird ein gedicht
gerochen




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