MÉRIDA

Ein Roman ist eine Erzählung, die ursprünglich in der romanischen Volkssprache verfasst wurde; daher kommt die Bezeichnung. Zugleich schwingt in diesem Wort mit, was uns die beiden Begriffe „Romantik“ und „Romanze“ sagen. Die anfängliche Ausrichtung auf das Volk legt zugleich nahe, dass auch das Verständnis von Begriffen des Volkes Einkehr hält. Das Volk, für das diese Literatur gedacht ist, pflegt eingefleischte Vorstellungen von zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie bilden die Basis für ihr Weltverständnis. Solche Beziehungen sind u.a. räumlich und zeitlich geprägt und in Emotionen verankert. Doch Raum und Zeit sind selbst Bestandteile dieses Weltverständnisses. Auch sie sind eingefleischt und durch die erfahrenen zwischenmenschlichen Beziehungen geprägt.

Die Welt ist jedoch dem Wandel unterworfen und damit auch die Beziehungen. Ändert sich die Weise dieser Beziehungen, so ändern sich auch die Prägungen, die Raum und Zeit aufgedrückt werden. Die Beziehungen erhalten ihre charakteristischen Formungen durch raum-zeitliche Umstände, doch die raum-zeitlichen Vorstellungen spiegeln diese sozialen Bindungen wieder.

In einer Welt, wo zum Beispiel die Bewegungsräume klein und abgrenzt sind, sind auch soziale Beziehungen auf Nachbarschaften beschränkt. Die Enge des Raums kreiert enge Beziehungen und diese versteinern, so wie die dort vorherrschenden Emotionen. Der oben angesprochene Wandel findet bewusst nicht statt und wird verdrängt.

In einer Welt hingegen, wo die Beweglichkeit groß ist und die Räume offen stehen, sind soziale Beziehungen in hohem Maß kontingent, dem Zufall unterworfen. Soziale Beziehungen sind hier somit dem Wandel unterworfen. Emotionen werden nun selbst beweglich, sie bewegen nicht länger das atomisierte Individuum. In einer solchen Welt herrscht die Vernunft nicht die Emotion. Diese wird verdrängt, so wie in der anderen der Wandel.

Was geschieht aber in Zeiten, wo eine enge, versteinerte Welt aufbricht oder eine unbeschränkte plötzlich beschränkt wird? Versteinerte Emotionen müssen oder sollten zumindest zerbrechen – oder im umgekehrten Fall, entstehen und gepflegt werden. Wie schaffen es aber die einzelnen Individuen ihre eingefleischten Prägungen zu entleiben?

Das ist der Punkt, wo ich auf Hermann J. Hendrichs (H.H. in Hinkunft) Roman zu sprechen komme. H.H’s schön gestaltetes und reichlich illustriertes Buch führt den Leser auf verschlungenen Pfaden durch drei Sphären und illustriert die raum-zeitlichen Aspekte obiger Überlegungen.

Die eine Sphäre ist theoretischer Natur. Sie wird in Form einer chronologisch präsentierten Diskussion über das Verständnis von Raum, die übers Internet jahrelang geführt wurde. In dieser Diskussion stehen sich zwei Positionen gegenüber: die eine wird von einer Architektin vertreten, die eine mathematisch formalistische und konstruktivistische Auffassung vertritt. Ihr Anliegen ist Raum anschaulich und rationaler Planbarkeit zugänglich zu machen. Die andere Position wird von jemand vertreten, der sich, ob zwar selbst auch Techniker, einer humanistischen Sicht verschrieben hat und Raum und seine Wirkung sprachlich deskriptiv und auf eigener Erfahrung fußend fassen möchte.

Die zweite Sphäre des Romans besteht aus der Dokumentation eines Projektvorhabens, das bemüht war in Yukatan eine Gedächtnisstätte für einen früheren, österreichischen Maya-Forscher (Teoberto Maler) und zugleich ein bescheidenes Zentrum für die Fortführung solcher Forschungen in Mérida, der Hauptstadt Yukatans, zu lancieren. Dieses Projekt führt eine kleine, variable Gruppe von Personen aus Forschungs-, Planungs- und Organisationsgründen mehrmals nach Yukatan.

Die Reisen nach und in Yukatan ergeben den Hintergrund für die dritte Sphäre des Buchs. Man sollte meinen, dass die Reiseberichte einem vergleichbaren Schema folgen, wie die theoretischen Diskussionen und die Berichte über den Projektfortschritt. Diese Erwartung wird nur eingangs erfüllt u.zw. zunächst in einer nahezu pedantischen Art der Protokollierung winziger Details und Ereignisse durch jenen Teilnehmer am Projekt, der zugleich auch der bereits oben genannte zweite Diskutant ist. Bei diesen Schilderungen wird ausschließlich die Sichtweise jener Person eingenommen, der zugleich Erzähler ist. Der Erzähler schildert seine Eindrücke und Empfindungen bei den Wanderungen durch den Dschungel, an der Küste oder in kleinen Hotels und die Art wie er die zwischenmenschlichen Beziehungen erlebt, in detailreicher, nahezu phänomenologischer Tradition. Der Leser beginnt sich zu fragen, warum er das alles eigentlich lesen soll.

Allerdings beginnt sich der Stil des Protokolls allmählich zu ändern. Es treten Wiederholungen auf, dann folgen Umkehrungen im zeitlichen Ablauf. Gelegentlich tauchen Reminiszenzen an andere Situationen zu anderen Zeiten auf. Das Protokoll wird dadurch durchlöchert und schließlich zerstört.

Was geht hier vor?

Das ist der Punkt um zur oben gestellten Frage zurückzukehren. H.H. entwickelt seine eigene Raumtheorie in phänomenologischer Weise und konfrontiert sie mit der pragmatischen Auffassung der Architektin. Wie sieht dieser sein Raum aus? Der Raum ist zeitlos! Er besteht aus einem Geflecht von Erinnerungsatomen, die mit Dingen, Geräuschen, Speisen, Pyramiden oder dem Firmament verknüpft sind. Sie erwecken Emotionen, die zu anderen Zeiten aufbrachen, und die wiederkehren, wenn die räumlichen Konstellationen wiedergegeben sind. Raum ist quasi ein zeitunabhängiges Tagebuch in dem man blättern kann, wo aber die Datumsangaben fehlen, und wo alte Erregungszustände aufgerufen werden und neuerlich in Bewegung geraten. Personen sind in diesem Raum keine Nachbarn, sondern bekannte Fremde, mit denen man eben interagiert, besser: verkehrt. Der Verkehr kennt alle Varianten: seien es holperige Straßen, die man zusammen befährt, Badestrände und Wellen, die man erlebt, Pyramiden oder Betten, die man gemeinsam belegt oder besteigt. Auch der Akt des Koitus wird zur reinen, mechanischen Bewegung im Raum. Es passt zu dieser Sicht, dass sich der Erzähler an einer Stelle ernsthaft die Frage stellt, welche Frau liegt da unter dem Leintuch und er sich unfähig zeigt in seinen eigenen alten Aufzeichnungen die Jahreszahlen zu dechiffrieren. Der Raum hat ihn verschlungen, die Zeit ist zu einer einzigen Gegenwart geschmolzen. Vergangenheit ist gegenwärtig, sie klebt an den Gegenständen und anderem Eindrücken, die erst den Raum generieren und strukturieren.

Diese Auffassung von Raum widerspricht jener der Architektin, die auch eine Reisebegleiterin ist. Sie versteht Raum als Prozess, ein Prozess allerdings, der dauerhafte Veränderungen hervorruft. Er schafft eine Ordnung der Dinge, wie sie sagt, die sich im Gebauten realisiert und „Genotypen sozialen Verhaltens“ generiert. Raum ist kein Tagebuch sondern Regisseur. Vergangenheit wirkt in die Gegenwart über Räume. Die muntere Austauschbarkeit der Ereignisse des Erzählers macht hier einer strikten, gerichteten Ordnung Platz. Zeit hat einen langen Arm erhalten, der über große Distanzen wirkt. Der Zufall des anderen Modells wurde gebändigt und kaserniert. Beliebige Interaktion wird eingeschränkt.

Das Modell von Raum, das hier vertreten wird, ist das eines geschlossenen Saals oder „Containers“ in dem Dinge verwahrt sind und anordnend wirken. Sie bewirken aber weitaus mehr als nur persönliche Erinnerungen. Sie bewirken geregeltes soziales Handeln.

Dieses geregelte Handeln ist im anderen Modell nicht möglich. Wenn zwischenmenschliche Beziehungen eher zufällige Ereignisse sind, dann muss Ordnung jeweils neu ausgehandelt oder erstritten werden. Unterschiedliche Ordnungen entstehen dadurch, diese heften sich manchmal auch im Widerstreit an Dinge, veranlassen Erinnern, aber sie sind nicht befähigt das jeweilige Verhalten zu strukturieren. Das Modell von Raum, das hier vertreten wird, ist das eines Spinnennetzes. Fäden werden gezogen und können auch wieder reißen. Das ist keine Katastrophe, weil jeder sowieso seine eigenen Wege wandert. Die Welt ist multipolar, so wie die diversen heterosexuellen Beziehungen. In dieser Welt überrascht es auch nicht, dass das Projekt „Casa Maler“ zu keinem Abschluss kommt. Es ist nur ein Ereignis, das einige Menschen vorübergehend wiederholte Male zusammenführte, Augenblicksbegegnungen generiert, die nicht - so wie oben - in ein geregeltes soziales Handeln münden.

So betrachtet ist der Roman die Präsentation einer Raumtheorie in Form einer Erzählung. Die zwei Alternativen, die dabei präsentiert werden, unterscheiden sich beträchtlich. Am augenfälligsten erscheint allerdings, dass unausgesprochen die Raumtheorien eine Zeittheorie mitliefern. Ist in der einen Zeit auf einen einzigen Ereignispunkt - ein „event“ wie es in der einschlägigen Philosophie bezeichnet wird - der jeweiligen Gegenwart, zusammengeschmolzen, also kaum existent, so ist sie im anderen Fall wirkmächtige Dauer und Geschichte. Doch in beiden Fällen wirkt Raum wie eine Maschine: Einmal bewegt er individuelle Bewegungen d.h. Emotionen, im zweiten Fall bewegt er die Massen der Menschen. „Space is the Machine“, wie B. Hillier (1996) pointiert behauptet.

Anmerkungen zu H. J. Hendrichs Roman mit Bildern

MANFRED E A SCHMUTZER © 2017

arteimago verlag, ISBN 978-3-903025-16-5. 172 S., € 33,00