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Kunst und Pornographie


Helmut Eisendle über die vulgärästhetischen Betrachtungen von Erwin Puls

Erwin Puls hat beim Haffmans-Verlag in der Schweiz seine jahrelangen Überlegungen und Gedanken über Kunst, Wahrnehmung, Sprache unter dem Titel: Mittel, nicht oder nur schwer darstellbare Bildereignisse dem Kunstliebhaber dadurch nahezubringen, daß er sie schildert, als sähe er sie außerhalb - Versuch einer teichoskopischen Vulgärästhetik - Erleichterte Bearbeitung - Basierend auf J. Strauß jun. op, 314 auf 393 Seiten mit einem umfangreichen Bildteil veröffentlicht. Um seinen Gedanken über Kunst, Pornographie und Sprache eine sichtbare Ordnung zu verleihen, bedient er sich einerseits als pars pro toto des Walzers: An der schönen blauen Donau von Johann Strauß jun., andererseits einer Sammlung von Pornofotografien von 1860 bis 1990.
Der Textteil, der von ihm als teichoskopische Vulgärästhetik bezeichnet wird, versteht sich als Kommentar und Gedankenfolge, dem Leser zur Verfügung gestellt, nachdem dieser sich gleichsam choreographisch zwischen Bild und Text in einem Walzerrythmus hin und her bewegen soll. Konsumenten von Pornographie sind über ihre Gedanken und Phantasien an die Sprache gebunden. In diesem Buch geht es daher vornehmlich um eine Sprache, die Grammatik, Syntax und Semantik des Wahrnehmens; einerseits der Musiknoten als Tonfolge verstanden, andererseits die pornographische Zurschaustellung als Kunst gesehen.
Ohne Gedanken funktioniert das Wahrnehmen nicht, weder das des Banalen, noch das des Künstlichen oder das der Kunst.
An das Denken und die Phantasie - eine allzu menschliche Eigenschaft - sind wir gebunden und damit an die Menschenwelt und die damit verbundene Eigenschaftswelt der Menschen. Innerhalb dieser kann man mit Sprache vieles, fast alles machen. Auch ein Körper ist ein sprechendes Wesen, das seine Bedürfnisse in Zeichen von sich gibt. Als Ware läuft der dargestellte Körper, beispielsweise in der Pornographie, geheimen Wünschen nach. Obwohl der Körper sozusagen sprachlos ist, stellen die Köreprteile Hände, Finger, Lippen, kleine Instrumente dar, die streicheln, zeigen, deuten, schmunzeln, küssen, lachen und damit Nachrichten übermitteln, Bedürfnisse ansprechen oder Wünsche erfüllen. Im Wahrnehmen eines Körpers erkennt der Andere, daß irgend etwas mit ihm gerade geschehen soll oder als Konjunktion: geschehen könnte. Gerade mit der Möglichkeit operiert die Pornographie. Was möglich ist, teilt das Bild nicht mit, denn das Wesen Körper hat keine klare Sprache. Pornographie versucht Gefühle mehr oder weniger zu verheimlichen. Und das gelingt. Und Sprache wird in das Gedankenfeld des Betrachters verlagert, gleichsam in eine enttabuisierte Zone.
Pornographie ist die eine Form menschlicher Vergesellschaftung. Man schenkt Bilder, enttabuisierte Bilder an den Betrachter. Dabei liegt das Schenken in einer Sprache, die sich im Betrachter vollzieht. Nur oberflächlich erscheint der Austausch der Körperlichkeit als Beziehung von zwei Personen. In Wirklichkeit ist es ein öffentlicher Akt und verlangt die Anwesenheit Dritter, die den Wert der Dinge festlegen, die das Gesetz der Wechselseitigkeit garantieren oder moralische Urteile darüber verfügen. Zwei oder mehrere Personen stehen zueinander in einer engen Beziehung, die für einen, beide oder mehrere einen hohen Grad von physischer und psychischer Bedeutung hat. Die Frau, der Mann. In diesem Kontext werden Behauptungen aufgestellt, die etwas aussagen, etwas über die eigene Aussage aussagen und so zusammengesetzt sind, daß diese Aussagen unvereinbar miteinander sind. Wenn also die Mitteilung eine Handlungsaufforderung ist, so wird sie durch Befolgung mißachtet und durch die Mißachtung befolgt. Wenn die Frau sich dem Mann hingibt, mißachtet sie sich selbst; wenn sie sich weigert ebenso. Der Betrachter kann der durch sie hergestellten Beziehungsstruktur nicht dadurch entgehen, daß er entweder über sie metakommuniziert, sie also kommentiert, oder sich aus der Beziehung zurückzieht. Obwohl also die Mitteilung oder Aufforderung logisch sinnlos ist, ist sie eine Realität. Die Frau kann nicht auf sie nicht reagieren, andererseits kann sie sich aber schwer in angebrachter Weise verhalten. Eine in einer Doppelbindung gefangene Person wie der Betrachter pornographischer Bilder läuft Gefahr, für richtige Wünsche bestraft und darüber als böse bezeichnet zu werden, wenn sie es wagen sollte, zu behaupten, daß zwischen ihren Alltagsritualen und den Wünschen kein wesentlicher Unterschied beisteht.
Die erotischen Äußerungen der Bildakteure sind für den Betrachter eine Schimäre, ein mögliches Trugbild.
Freud stellt den Modus des Voyeurtums und des Exhibitionismus als Aktiv-Passiv-Paare auf. Dieses Schema kann nicht ausreichen, denn die Akteure sind auf den Standpunkt gestellt, daß das gesprochene Wort und die Phantasie die einzigen Aktivitäten sind, die der Passivität des Blicks entsprechen, die einzigen Aktionen, die mit der Passion des Körpers korrespondieren. Wenn der Körper pervers ist, ist es das Anblicken und das Denken darüber ebenfalls. Erfüllt das Vorhandensein solcher Beschreibungen eine sprachliche Funktion, die nicht darin besteht, von den Körpern zu sprechen, wie sie vor aller Sprache und außerhalb der Sprache sind, sondern vielmehr aus den Wörtern einen stolzen Körper für die reinen Geister zu erschaffen ? Es gibt kein Obszönes an sich; das heißt, das Obszöne ist nicht das Eindringen in einen Körper, sondern der Akt der Sprache, der einen neuen Geist schafft, der Akt, mit dem die Sprache mithin über sich selbst hinausgeht. Es gibt nichts, das so verbal in den Köpfen ist wie der Exzeß des Fleisches. Die ständig wiederholte Beschreibung des fleischlichen Aktes weist nicht nur auf die Grenzüberschreitung hin, sie ist selbst eine Transgression der Sprache über die Sprache.
Man kann bei den Gesetzen der Wahrnehmung fast von einer Übertragungssituation sprechen, bei dem der Mann oder die Frau ein heimlicher oder offener Beobachter und zugleich ein Betroffener oder eine Betroffene ist. Das Subjekt, welches überträgt, ist die Sprache selbst.
Die Pornographie selbst stützt sich nicht auf ein personifiziertes Übertragungsverhältnis; ihr Empfänger ist der Ort der Sprache und des Körpers selbst, der Besitz von der individuellen Erfahrung ergreift Raum und wird so in die Bedeutungen verlagert, welche aus einem soziosymbolischen Ganzen hervorgehen und in dem der Betrachter verankert ist. Die Bedeutungen oder moralischen Normen, die das gesellschaftliche Ganze überziehen und ins Geflüsterte, Gesagte, Vollzogene eingehen bzw. es beherrschen, werden im Prozeß der Pornographie aufs Spiel gesetzt.
Pornographie oder Erotik als signifikante Praxis zu definieren, bedeutet, ihr Funktionieren in Zusammenhang mit dem Subjekt im Prozeß zu sehen: mit dessen verfehlter Setzung. Pornographie als signifikante Praxis heißt: sie verfügt über ein Subjekt, einen Sinn, eine Logik, doch sie hält den Betrachter aus ihnen fern, und diese Abwesenheit zeichnet ihn und sie aus und macht ihn oder sie zum Kunstbetrachter. Man könnte sagen, die Erotik als signifikante Praxis sei eine Wahnsinnsaktivität oder aktiver, das heißt sozialisierter Wahn. Sie geht gegen unscharfe, unwissende, unentschiedene Praxis an, wie sie das System dem Subjekt abverlangt, aber auch gegen jenen natürlichen Wahn, in dem die gesellschaftlich aktiven Beziehungen zunichte werden. Nur als solche durchbricht sie den natürlichen Wahnsinn oder den narzißtischen Verschluß einer Gesellschaft.
Eine Folge von Noten, die Melodie des Walzers: An der schönen blauen Donau beinhaltet genauso wie eine Auswahl pornographischer Bilder als künstliche Darstellung des Körperlichen eine Folge von Nachrichten, d.h. Kommunikationsweisen, die nicht auf die Sprache im üblichen Sinne rekurrieren.
Es scheint einsichtig zu sein, daß es besondere Sprachen der Politik, der Ökonomie, des Privaten, der Künste, der Intimitität gibt: d.h. besondere Arten sprachlicher Techniken, Nachrichten zu speziellen Zwecken zu gebrauchen. Weniger einsichtig ist aber, daß die Politik, die Ökonomie, die Wahrnehmung des Körperlichen, die Kunst, die Musik, die intime Handlung selbst Kom-munikationsstrukturen sind, unabhängig von den natürlichen Sprachen, in denen man von ihnen spricht und von den besonderen Techniken der Nachrichtenübermittlung, die man in ihnen benutzt.
In fast jeder Sprache kommt doch die Bedeutung "Kunst" als Wort in irgendeiner Weise vor; es ist also sprachlich erzeugt. Durch Sprache, durch das Zusammensprechen, entsteht das Phänomen Kunst. Daher ist die Frage: "Existiert Kunst ?" hinfällig. Selbstverständlich existiert sie, es wird ja darüber geredet. Die Vorstellung, als narzißtischer Konstruktivist nehme ich Kunst an sich nicht wahr, ist damit ausreichend ad absurdum geführt. Ich sage "wahrnehmen", d.h., was ich nehme, ist so, wie ich es mir hernehme, wahr. Ganz befriedigend ist der Schlenker jedoch nicht, weil ich mir nicht vorstellen kann, daß ein noch so überzeugter "solipsistischer" Konstruktivist, wenn er mit einem schönen Mann im Bett liegt, mit dem Wissen daliegt, er bloß mit seinen eigenen Vorstellungen und nicht mit einer von seinem Bewußtsein unabhängigen Realität zu tun zu haben. Das esse est percipi verschwände spurlos im Akt des unmittelbar handelnden Menschen.
( Seite 137, Fußnote)
Wenn eine Folge von Zeichen - also Musik oder Pornographie - als Nachricht gesehen wird, kommt man nicht umhin ihren Warencharakter zu berücksichtigen.
Auf den ersten Blick erscheint Ware nur als das simple Objekt eines Tausch- oder Kaufaktes. Man kann aber behaupten, daß die Ware Musik oder die Ware Pornografie im Rahmen einer recht komplizierten nicht-verbalen Kommunikationssituation als Nachricht fungiert. Eine Ware tritt auf dem Markt als Trägerin nichtverbaler Bedeutungen auf; die Ware geht sozusagen nicht von selber zum Markt; sie braucht jemanden, der sie verkauft, also anbietet, und sie ist erst verkauft, wenn sie einer einkauft oder konsumiert, also im Tausch gegen Geld, Befriedigung einer Bedürfnislage oder Bewunderung akzeptiert hat.
Sowohl die Musik: An der schönen blauen Donau wie auch die pornographischen Bilder können der Kunst zugehörig behauptet werden, da sie dem Warencharakter der Kunst genau entsprechen.
Ein Produkt verwandelt sich nicht in Ware wie eine Raupe in einen Schmetterling; es entwickelt diese Verwandlung durch den Eingriff der Men-schen, die es in bedeutungstragende Relationen einsetzen. Umgekehrt heißt der Gebrauch einer Ware zur Befriedigung eines Bedürfnisses, daß ihr Warencharakter gleichsam fallengelassen, vergessen wird. Eine Ware ist Ware, weil und solange sie eine bestimmte Art von Nachricht ist.
Es stellt sich schnell die Frage, was bei der Musik oder dem pornographischen Bild das Merkmal, das definierende Zeichen und was die mögliche Befriedigung, die man durch den Konsum gewinnen kann, die aber vom Kauf unabhängig sei, wäre.
Wenn das Musikstück: An der schönen blauen Donau wie auch jedes einzelne pornographische Bild als Nachricht oder Zeichenfolge oder Ware zu sehen ist, wird dieses selbst nur in einer gesellschaftlichen Wirklichkeit konstruiert und funktioniert nur in ihr.
Nach dem Hegleschen Satz: „In alles, was der Mensch zu dem Seinigen macht, hat sich die Sprache eingedrängt.“ sind es wohl auch die verbalen und nichtverbalen Phantasien, die uns Hoffnungen vorzuzaubern imstande sind oder Erkenntnisse über unser wahres Wesen gestatten.
Der Autor fragt:
Was wäre denn das für eine Auswirkung, wenn so etwas (wie Abbildung 271) als Kunst nicht notiert werden könnte ? Warum muß ich unbedingt sagen, daß unabhängig von der Erfahrung gemachte Übereinkünfte bestehen, die dann erst nach Wortmöglichkeiten verlangen ? Die Arbeit von Erwin Puls, die man vorschnell wie es üblich ist, als ironische Plänkelei über das Thema Kunst, Musik, Pornographie, Wahrnehmung und Wirklichkeit abtun kann, enthält sehr vieles, was denkwürdig ist und was die Antworten, die uns stets auf die Frage nach Kunst und Bedeutung gegeben werden, mit der Patina des Zweifels umgeben.
Erwin Puls, Das Mittel, Haffmans, Zürich, 1997,
ISBN 3 251 00377 1


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