E.A.Richter: Das leere Kuvert


Helmut Eisendle über E.A.Richter

Wenn Wendelin Schmidt Dengler im Nachwort des Gedichtbandes Das leere Kuvert auch behauptet dass das Ich, das Ich Richters, sich aus den Texten zurückzieht und uns die Möglichkeit gibt als Leser uns in sie hineinzubegeben, hat er nur insofern recht, da jedes bewusstmachende Ich durch Behauptungen, Zweifel und Gedanken zu einem autobiographischen Schatten wird. Es ist eben auf keine Weise die Autobiographie einer Person, die sich auf Daten und Taten stützt, sondern der gedankliche Fall in das opake Reich eines Kopfes, der die Welt als Erinnerung erlebt. Und gerade das Dunkle, Unklare nährt die Attraktivität der Gedichte.
Was du nicht erfliegen kannst, musst du erhinken, sagte Sigmund Freud und meinte damit, dass jedes Ich sich auch im Versagen und Zweifel, in der Kritik und in den Ängsten definiert.
In den fünf Abteilungen des Bandes kann man Traumbilder und Erinnerungen als Kilometersteine eines Lebens sehen, die erst durch die lose Form zu dem werden, was es ist: Poesie.
Das leere Kuvert ist die Hülle eines Briefes. Wer schreibt? An wen? Und was hat das mit mir zu tun? An welche Adresse ist der Brief gerichtet? Warum?
Richter kommentiert seine Arbeit an anderer Stelle:
Schreiben als Geschäft der wörtlichen Anwesenheit - in sich, in den Blicken, Handlungen, Erinnerungen, Entwürfen, Entnahmen aus anderen Leben. Die Impulse dazu kommen aus dem Alltagsleben in Stadt (am Stadtrand) und auf dem Land, den Rhythmen des Bewußtseins, das sich im Schlaf der Bewußtheit verschließt. Insofern ist Schreiben eine Vereinigung zweier Bewegungen: aus dem Anderen ins Andere. Das eine Andere ist das Nichtbewußte, Nichterinnerte, Nichtvorherzusehende; das andere Andere ist der Text, der sich autonom aus allen Ich-Schichten und –Zuflüssen konstruiert und rekonstruiert.
Richters Gedichte wollen nicht überraschen, sondern Aufmerk-samkeit erwecken, bezogen auf das Dunkle und Undurchschaubare seines und jedes Lebens.
Aus seiner Jugend am Land tauchen Bilder auf:
In jenen Tagen. Der Hund, der im Traum bellte, war mein Hund in jenen Tagen. Er starb völlig unspektakulär – unter einem Hollerbusch am Zaun zu den dicken Nachbarn. Ich fand ihn flach, unter dem räudigen Fell, staubbedeckt, kalt.

Richters Lyrik - nur durch den Zeilenbruch zu ihr geformt - ist eher das, was man unter lyrischer Prosa versteht, indem der Autor erfolgreich auf das übliche Repertoire traditioneller Lyrik verzichtet.
Dieses Afrika da, in der Rue Quincampois in Paris, ist tatsächlich nur schwarz-weiß, quadratisch, flach, völlig durchkomponiert und verschließt sich vor mir mit explosivem Klick.

Wenn man im Gedichtband auch eine chronologische Ordnung vermissen mag, ist es doch die undurchschaubare, aber eindringliche Folge von Gefühlen und Gedanken, die zu Bildern werden.
Die vorliegende Sammlung besteht aus fünf Abschnitten: 1. Schläfer; 2. Nachtfahrt; 3. Blutkreislauf; 4. Das leere Kuvert; 5. Auf allen Vieren. Jeder Abschnitt ist nach einen Gedicht benannt

Inmitten von Briefen aus Zeiten, die ununterbrochen auslaufen zwischen den Fingern der Scherenschneiderin: sie sitzt, schneidet, klebt, verschwendet diesen Geruch, lebt im Gewitter, das sich schnell verzieht.

Alle ihre Bilder wie Briefe in einem Paket, das sie mir verschnürt übergibt. Darin ein Kuvert, immun gegen Fäulnis Zerfall Tod. Jemand hat es aufgeschlitzt, jetzt ist es leer.

E.A. Richters Gedichte erzeugen in knappen metaphorischen Sätzen Jenes, das in der Vorstellung junger und alter Leser Platz greifen kann, um es mit eigenen Erinnerungen zu paaren. Gerade weil die lyrische Form nicht in den Vordergrund tritt und so keine originelle, ästhetische Beurteilung provoziert, die sich vor die möglichen Gedanken der Leser stellen würde, werden die Gedichte authentisch in einer gleichsam erzählenden Art und Weise ein wertvoller Bilderbogen von Erinnerungen und auch von Gedanken, die nur im Kopf ihre Ursache finden.

E. A. Richter, Das leere Kuvert, Gedichte, Bibliothek der Provinz, Weitra, 2002


 


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