Letzte Tage



© Helmut Eisendle August 2003
Posthume Publikation

rudolfstiftung

hausarzt
schluckbeschwerden, röntgenologe.
operation.
will ich nicht. dann habe ich in zwei monaten einen patienten weniger.
eine siebenstündige operation ösophaguskrebs. danach 28 mal chemotherapie, strahlentherapie, 15 mal, 3 wochen krankenhaus.
freundliche behandlung; schwestern, zwei pfleger, ärztinnen, ärzte, visite, oberarzt, primarius. bewunderswert geduldig.
noch einmal stehen sie mir nicht auf.
ich will es aber.
dazu sind wir da.
ein stück des blauen himmels; ein silberstreif am horizont, ein hoffnungsstrahl zwischen tod und schmerzen.
das sterben erschreckt mich nicht, weil ich den begriff des todes nicht kenne.
indem ich zurzeit so tue als nehme ich nichts mehr ernst und auch meine, dass mir eine andere wirklichkeit gegeben ist, suche ich zuflucht in träumen und im schreiben und erforsche meine welt in gedanken.
ich weiss wohl, dass alles geschriebene unvollkommen ist, unvollkommen ist alles, es gibt keinen morgen, kein stück des blauen himmels, der nicht noch schöner sein könnte. ein pessimist oder ein misantrop ist der, der sich tragisch verhält und auffasst und diese haltung ist eine übertreibung und eine unbequemlichkeit.
ich bringe etwas hervor, um mich anhand meines schicksals zu zerstreuen.
was mir zugestossen ist, stösst entweder jedem einmal oder nur mir allein zu.
wenn ich das aufschreibe, was ich fühle und erlebe, so tue ich es, weil ich so meine phantasie und mein denken erneuere und verwende, solange es noch funktioniert.
womit kann ich noch rechnen? mit der schärfe meiner empfindungen und meinem verständnis, eben noch etwas zu spüren?
oder mit meiner fähigkeit zu träumen.
wir, die wir träumen und denken, sind strafgefangene unserer ichs, dessen entwicklung, auf-, und untergang wir nicht kennen. später führen wir buch, erinnern uns an kleine siege und niederlagen, wenn wir den mut dazu haben.
die unterbrechung von träumen schockiert mich nicht; ich träume weiter im reden, schreiben, antworten, lächeln, verzweifeln. und durch alles hindurch geht mein bisheriges leben, alles, die frauen, die kinder, die verlorenen und gewonnenen freunde.
wir sind, so wenig wir es auch wollen, untertanen des himmels und der hölle.
dunkle wandlungen gehen und kommen, ahnungen oder hoffnungsspielereien.
ist doch nur ein spiel, das einer mit mir treibt.
wer?
die natur, das grosse etwas, der herr gott.
wie heisst er? hat er keinen namen?
es heisst doch jeder irgendwie?
oder hat er eine nummer?
ist er tatsächlich die nummer eins?
vielleicht?
jeder von uns ist mehrere, vielleicht viele, eine mischung aus allen?
nein, einer oder eine allein. das verlangt unser stolz.
welcher?
die selbstbehauptung. was behauptet sie denn?
der zirkelschluss des ichs ist unentrinnbar. die natur des ichs ist sein pathos.
und die wirklichkeit ist das verdrängte. sprechen und die sprache sind die verdrängung der wirklichkeit. und was ist die wirklichkeit?
was man nicht erfliegen kann, muss man erhinken, sagt freud.
was man nicht beschreiben kann, muss man erlügen.
gut.
glücklich ist der, der sein leben eintönig gestaltet und sich mit dem alltag zufrieden gibt.
was ist der alltag?
alle tage wieder. ein löwenjäger schiesst nur einmal. das reicht. das zweite mal ist übung, routine oder mordlust.
oder ist es schon beim zweiten mal alt?
viele meinen sich glücklich, weil ihnen die träume der übertreibung zuteil werden.
mit glück. träumen doch alle davon überragend zu sein. irgendwie, irgendwo, irgendwann.
lichtenberg sagt folgendes über schmerz:
man klagt so sehr bei jedem schmerz und freut sich so selten, wenn man keinen fühlt.
nun gut. grad tuts nicht so weh und ich freue mich tatsächlich, wahrscheinlich nur, weil die erinnerung an den schmerz noch da ist. und langsam verschwindet der schmerz und die erinnerung daran. gestern war bei freunden auch die rede von der erinnerung und vom vergessen. erinnern, glaube ich jedenfalls, kann sich nur der erlebende, zum beispiel ich kann mich nicht an den 1. weltkrieg erinnern und wenn ich daran erinnert werde, bezieht sich das nicht auf mich. gut man kann mir allerhand erzählen über den krieg. ich erinnere mich an den 2. weltkrieg. genau erinnere ich mich an die hand meiner schwester und die fallenden bomben, die in mir ein schau, bumm ausgelöst haben und an den luftschutzkeller mit den weinenden frauen und zischenden granaten, alles ein abenteuer. das aber was entsetzlich war, vom holocaust bis zur ss und sa habe ich nicht erlebt, das ist mir erzählt worden und deshalb glaube ich daran, obwohl es geradezu unglaublich ist. also ich muss meine erinnerung tauschen gegen das, was mir erzählt worden ist. und auf den schmerz bezogen: ich bin froh wenn ich ihn vergessen habe, obwohl er wiederkommt. na gut, soll er. was gibts schöneres als die vergesslichkeit dem schmerz gegenüber.
und die unvergesslichkeit gegenüber der liebe.
es wird auch ohne tod philosophiert. die sogenannte vernunft schenkt uns den tod.
ich mache alles im traum. ich erfinde erst die menschen, um mit ihnen ins gespräch zu kommen, zuzuhören und sie irgndwann zu vergessen. bis auf die wenigen wunderbaren wundertiere, denen ich begegnet bin.
siehst du von den wenig einladenden fangnetzen ab, die du im nachdenken machst, kannst du dich fragen, was dir eigentlich fehlt. du kannst hören, essen, trinken, deine meinung äusssern. was fehlt dir, weshalb deine melancholie?
nun, denke ich, es ist doch die grosse enttäuschung, der grosse verlust, den ich zwar begreifen, aber nicht verstehen kann. aber, kann ich mir im letzten aufglimmen von verstand sagen, wie will ich die vielen kränkungen bestehen, die mich noch erwarten, wenn ich diese eine grössere der krankheit nicht ertragen und, ohne erneut zu flüchten, durchstehen kann?
erfolg
angenommen ich sage: erfolg hat es nie gegeben und wird es niemals geben. damit weiß ich nicht einmal, was es nie geben wird und nie gegeben hat. natürlich weiß ich es nur dann, wenn ich weiß, was erfolg ist. aber wenn ich mir die von mir gestellten fragen selbst beantworte: woher soll ich wissen, was erfolg ist, wenn es ihn doch nicht gibt?
was soll ich dann sagen?
natürlich ist es logisch, wenn ich darauf hinweise, daß der erste satz unsinn ist. anders ausgedrückt: wenn ich sage, ich werde erfolg nie haben, dann muß ich, damit ich die wahrheit behaupten kann, wissen, was erfolg ist, was er bewirkt, was er löst und auslöst, was er hervorruft, was er bedeutet.
kann ich erfolg wirklich erkennen?
es ist schon schwer genug, die problematik der krankheit zu lösen. der springende punkt ist wahrscheinlich die frage, gibt es außerhalb der problematik der erfolglosigkeit etwas, irgendwo außerhalb? und warum? es kann doch keinen zweifel darüber geben, daß das einzig charakteristische der problematik der erfolglosigkeit die probleme sind, die er, der erfolg verursacht?
erfolg kann nur das sein, was wir wollen. was wir wollen oder zu erreichen versuchen, muß schon vorhanden sein, auch vorhanden im leben, um es eben durchzustehen. also erfolg beinhaltet, wenn überhaupt, schon unser leben, das ihn kennt. wie die erfolglosigkeit. das heißt, wir brauchen eine vorstellung von erfolg um erfolg zu haben. wir haben doch eine klare vorstellung von erfolglosigkeit? aber wenn wir schon wissen, was erfolg ist, brauchen wir doch die problematik des erfolgreichseins nicht mehr? und wenn es schon ein problem ist, erfolg zu haben, wir aber erfolgreich die probleme der erfolglosigkeit bewältigt haben, warum sollen wir uns dann weitere probleme auf den rücken legen? nichts führt so leicht zum versagen wie der erfolg, sagt aldous huxley. na eben.
ich meine, daß erfolgreiche menschen sich einem begriff des erfolges nähern und einiges tatsächlich erreichen, doch aber derart von einer dunkelheit umgeben sind, daß sie nur mehr ahnen, wohin sie mit ihrem erfolg wollen und nicht das beantworten können, was sie früher gefragt haben, als sie keinen hatten und auch nicht unglücklich waren.
ich mache mir, wie es so meine natur ist, über alles, auch das all schlechthin, allerlei gedanken. und so meine ich:
das all ist ein gadget.das all ist also massage & message. das all macht keine wahren bilder der wirklichkeit, sondern solche, deren gehalt durch es verändert wird.
das all ist eine sammlung von äußerungen, die absprachen unterliegen.
das all ist konventionell und konventional. hui.
die analyse des alls ähnelt der traumdeutung in der psychologie.
das all ist wie das unbewußte ausgebildet und fabriziert über vermutete strukturen seinen eigenensachverhalt. ha.
das all ist mannigfaltig in seinen möglichkeiten.
das all ist manyfold.
der geist, auch der geist des alls, entspricht einer totalität, dem das all über bestimmte persönliche und gesellschaftliche bedürfnisse zeichen einverleiben kann. ja.
das all hat sich einer utopischen vorstellung zu unterwerfen, die im falle der verwirklichung den gegebenheiten angepaßt wird oder sein gegenteil erzeugt, das wiederum ein all ist. auflehnung gegen das all gibt allem einen wert, verändert also auch das all nicht, nicht einmal, wenn es allerlei all werden würde.
das all kann nie entallen.
das all ist der cosmos, die gesamtheit, heaven and earth, maailmankaikkeus, mundo, quanrenlei, soshudan, sphere, top and bottom, uchu, universe, universo, das universum, universumi.
ich meine also das all ist allen eigen.
all-time heißt beispiellos: all-time high höchstleistung m; all-time low tiefstand. vielleicht führt aber ins all eine allee, das heißt ein beidseitig von bäumen gesäumter weg. und auf den blättern, ästen und zweigen der unzähligen bäume befindet sich die vielfalt der allmächtigen phantasie.
es mag aber sein, daß ich mich nicht in einer allo-erotischen, sondern in einer all-erotischen phase meiner phantasie befinde und das ganze, ja, das all(es) nicht lassen kann.
ich gebe zu, die literatur ist allo-plastisch, d.h. sie fordert unentwegt zwei reaktions- oder adaptionsformen, wovon die erste aus einer modifikation des ichs allein besteht, die zweite aus einer modifikation der welt.
ha, ich tier !
ich denke viel an das all, weil das der ort ist, wo ich den rest meines lebens zubringen werde. alles ist unnütz und ich empfinde es auch so, unnütz eben. mein leben ist zerstreut als wäre es nur erinnerung an etwas erfundenes. was, kommt mir nicht in den sinn als hätte ich es nicht erlebt, sondern verdrängt.
und doch, weil ich mich anders fühle, bin ich noch.
ich blicke aus dem fenster. hoch schweigen die wolken am himmel. und doch, ein kleines stück blauen himmels ist auch hier.
wo?
oben, natürlich, oben, weit oben.
wie jetzt belastet mich doch mein fühlen, ein angstvolles fühlen, es ist ein fühlen, eine beunruhigung über mein hier- und dasein, eine sehnsucht nach etwas unbekanntem, ein silberstreif von geschehnissen.
ich will nicht den tod und eigentlich auch nicht das leben, dieses, es ist ein warten, ein warten, nichts sonst.
auf was könnte ich warten? oder, was erwarte ich nicht oder nicht mehr?
traum
ein bild. der film: un chien andalouse von bunuel.
nacht.
ein mann schärft ein rasiermesser. er blickt durch das fenster in die dunkelheit. eine wolke bewegt sich auf den vollmond zu.
auf einer chaiselongue liegt ein mädchen mit weit aufgerissenen augen.
der mond verschwindet hinter der wolke. der mann geht auf das mädchen zu. die rasierklinge fährt geräuschlos durch den körper.
ein schnitt.
die wolke verschwindet am horizont.
das geschenk der gewalt.
in der einsamkeit neigt jeder gedanke, jede erinnerung, auch jede vorstellung, jedes bild dazu in eine wirklichkeit ohne zukunft zu flüchten, kein geheimnis mehr zu tragen und sich allein und nur allein den wünschen hinzugeben, die sich nicht fügen, die sich an allem rächen wollen, was einer vorstellung einmal qualen bereitet hat. das wesen mensch tritt aus seinem versteck und berauscht sich aug in aug an der absicht der verletzung. was spielt es für eine rolle, daß seine arme schwach sind, der wahnsinn sein kräftespiel ist, was bedeutet es, daß wut ihn schüttelt, daß er einer liebe unterworfen ist, einer verletzenden liebe zur geträumten gewalt. die gewalt ein geschenk. die unterdrückung eine chance der individuellen rache und vernichtung. eine hoffnung. wann. irgendwann.
der wunsch der verletzung.
auflehnung gibt dem leben seinen wert, sagt camus. con brio brioso. lebhaft begibt sich etwas im menschen auf den weg und macht alles quälende, alles jene, was ursache war, nebensächlich. ist es ein schauspiel der sinne? alle entwertungen bedeuten in diesem dasein nichts. das schauspiel des menschlichen stolzes. confusion. eine quintessenz. ein fünftes wesen. starr ergibt sich der aggressor dem leben. zurecht. eine conditio sine qua non. bewußtsein und auflehnung. das gegenteil von verzicht. eigensinn und leidenschaft. sie gestattet die verletzung. wenn es notwendig ist täglich. immer. ein traum.


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