Adalbert Stifter und der Antisemitismus


© Leopold Federmair

Antisemitismus bei Stifter? Wenn vom notorisch stereotypen Bild der deutschen Juden im 19. Jahrhundert die Rede ist, werden Stifters Abdias und Die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff gern als rühmliche Ausnahmen zitiert. Und selbst wenn die beiden Autoren hin und wieder Stereotype verwenden, bedeutet dies noch lange nicht, daß sie der betroffenen Personengruppe Feindschaft entgegenbringt. Außerdem weiß heute jeder, daß sich der Antisemistismus vom religiös motivierten Antijudaismus wesentlich unterscheidet. Ein Antisemitismus im engeren Sinn ist überhaupt erst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden, nach der Verbreitung und mit der Politisierung von Darwins Gedankengut.

Auf Stereotype stößt man bei Stifter häufig, nicht nur, wenn es um Juden geht. Das hat einerseits mit jener Poetik der Gewißheit zu tun, die der Autor zu schaffen versucht, um die Repräsentativität der Figuren – sie stehen für eine soziale Gruppe, für ein Geschlecht, eine geistige Strömung, eine historische Bewegung, einen allgemeinen Mangel – zu gewährleisten. Stereotype sind Ausgestaltungen von Vorurteilen; sie erlauben es, Denkprozesse abzukürzen oder vollends zu vermeiden, indem sie auf ein gesichertes, niemals in Frage gestelltes Wissen zurückgreifen. Auf derlei Mechanismen stößt man immer wieder, auch heute, und niemand ist von ihnen ganz frei. Umso wichtiger ist für den, der an den Zielen der Aufklärung festhalten will, ihre Kritik, das heißt die Konfrontation des angeblich "Gesicherten" mit einschlägigen Erfahrungstatsachen. Eine Poetik der Unsicherheit kann in diese Richtung wirken. In Stifters Werk macht sie sich als unterschwellige Gegenströmung immer wieder bemerkbar.

Der Nationalismus durchzieht die europäische Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts wie ein roter Faden. Kaum ein Autor, kaum ein Denker, der sich ihm zu entziehen vermochte. Dieser Nationalismus muß nicht aggressiv sein, er äußert sich oft nebenbei, in irgendeinem Detail, denn er wirkt als Dispositiv, das denen, die es verwirklichen, selten bewußt wird. Im Witiko zeichnet Stifter die Italiener, die gegen den deutschen Friedrich Barbarossa aufbegehren, durchwegs als Schlitzohren. Überhaupt ist zu bemerken, daß er im Italienteil seines Romans die überparteiliche Haltung eines die großen Zeitläufte überblickenden Historikers verläßt und sich bedingungslos hinter die Pläne des Staufers stellt: dieser Teil der Geschichte wird nun von "deutscher" Warte aus geschrieben, im Unterschied zum lokalen böhmischen Teil, wo die Idee der Versöhnung objektivierend wirkt. "Ich empfinde auch, daß ich in Italien durch die Luft und die Sonne erkranke", läßt der Autor den böhmischen König Wladislaw sagen, der bald darauf heimkehren wird. Die Moral, die in diesem wie in so vielen Stiftersätzen mitschwingt, lautet: Man sollte sich nicht zu weit, nicht zu lange von dem Ort, der einen geprägt hat, entfernen.

An einer anderen Stelle des Romans beschreibt Stifter die Mark Österreich, also das sogenannte Kernland des Habsburgerreichs, das er dem dicht bewaldeten bayerisch-böhmischen Gebiet mit seinem ernsten Menschenschlag gegenüberstellt. Auch Österreich und seine Bewohner sind nach dem Stereotyp modelliert: ein fröhliches, musikliebendes, tanzfreudiges, ein wenig oberflächliches Volk und ein mächtiges Fürstenhaus mit dem entsprechenden Sinn für Spiele, Prunk und schönen Schein: "Wer da Geltung hat in Sang und Klang, der geht nach Österreich." Sang und Klang, das klingt wie Saus und Braus, womit ein weiteres Klischee, das vom österreichischen Hedonismus, indiziert ist. Natürlich verbirgt sich in Klischees oft das berühmte "Körnchen Wahrheit"; außerdem haben Stereotype Wirklichkeitseffekte, das heißt, sie wirken auf die Akteure zurück, die sich alle Mühe geben, die ihnen zugeschriebenen Charakteristika zu erfüllen: so gesehen bestünde Kritik nicht in Worten, sondern in abweichendem Verhalten, und in den Erzählungen gibt Stifter mit seinen diversen Sonderlingen, Narren und Genies nicht wenige Beispiele für ein solches, samt dem bösen Ende, zu dem die Abweichungen meist führen. Daß Stifter Geschlechtsstereotype reproduziert, die seine Neugier für "starke Frauen" nicht gänzlich beseitigen kann, habe ich bereits erwähnt. "Es ist wohl ein Vorrecht der Männer, Größeres wagen und erfahren zu können", sagt Natalie im Nachsommer. Ein Echo dieses Satzes läßt Bertha im Witiko-Roman hören, wenn sie von ihrem Zukünftigen fordert, er möge zuerst "Großes" vollbringen, dann könne man ans Heiraten denken. Eine besondere, lokale Variante des Geschlechtsstereotyps bietet Stifter mit seinen Land- oder Gebirgsmädchen, die "das Liebliche Sittige Schelmische" verkörpern und als Gegenbilder zu den jungen Frauen städtisch-bürgerlicher Herkunft fungieren, die zwar auch sittlich sind, aber doch ernster und würdevoller in ihrer scheuen Zurückhaltung.

In diesem größeren Zusammenhang der figurativen Produktion von Gewißheit ist der Gebrauch von jüdischen Stereotypen zu sehen; an solchen nämlich ist sowohl der Abdias als auch die Judenbuche reich. Zunächst fällt die Tatsache auf, daß die männlichen jüdischen Figuren sowohl bei beiden Autoren ausschließlich mit Handel und Geldgeschäften befaßt sind. Einerseits spiegeln sich darin reale historische Verhältnisse, die es Juden erschwerten, zu Grundbesitz zu gelangen oder in einem handwerklichen Beruf, einem öffentlichen Amt tätig zu sein. Doch über diesen primären "Realismus" hinaus betont Stifter im Abdias bei jeder Gelegenheit den feilschenden, geldgierigen Charakter der jüdischen Figuren. Diese Obsession tränkt den Text tränkt einen Schwamm. Noch in größter Not denken die jüdischen Bewohner der Wüstenstadt "tief innerhalb des Atlasses" nicht daran, einander zu helfen, sondern ergötzen sich am Schaden des anderen und versuchen, aus seiner Notlage den größtmöglichen Gewinn zu schlagen. Eine der Vorstellungen, die Stifter beherrschten, geht dahin, daß Juden nicht zur Solidarität fähig sind. Mit der tatsächlichen Praxis der jüdischen Gemeinden in Böhmen und Österreich scheint er nicht in Berührung gekommen zu sein.
In der Judenbuche erfahren wir wenig über die jüdischen Figuren, die in der Rolle von Opfern gezeigt werden; das Interesse der Autorin richtet sich auf den oder die Täter. Juden treten ausschließlich im Zusammenhang von Tausch, Geld und Wucher auf, und in diesem Zusammenhang ereignet sich schließlich der Kriminalfall, von dem die Erzählung berichtet. Die jüdische Gemeinde tut sich nach dem Mord an einem ihrer Mitglieder zusammen – aber zu welchem Zweck? Man will den Baum kaufen, unter dem Aaron erschlagen wurde, und bietet einen ungewöhnlich hohen Preis: 200 Taler. Diese Zahl wirkt wie eine Chiffre, um die sich der Text anordnet, eine Doppelchiffre zusammen mit der hebräischen Hieroglyphe, jenem Zeichen, weder die deutschen Bewohner des Städtchens noch die Leser der Erzählung entziffern können, wobei der Leser allerdings am Ende aufgeklärt wird: die mit dem Geldbetrag verbundene Rätselschrift ist nichts anderes als eine Rachedrohung, die aufgrund der Textdynamik in Erfüllung geht.

Damit haben wir ein weiteres Stereotyp benannt, hinter dem sich ein Vorurteil verbirgt, dem beide Autoren anhingen: Die Juden seien rachsüchtig. Von der Witwe Aarons hört man, als sie von seinem Tod erfährt, nur einen einzigen, trockenen, abrupten, inhaltlich nachvollziehbaren, doch syntaktisch brutal wirkenden Satz, jenen bekannten alttestamentarischen Spruch: "Aug um Auge, Zahn um Zahn!" Rache ist das Ziel, nicht Gerechtigkeit oder Änderung der Verhältnisse. Dasselbe gilt für Abdias, der sich vornimmt, seinen arabischen Widersacher, der sein Haus geplündert und seine Existenzgrundlage vernichtet hat, zu töten: "Warte, Melek, daß ich mit dir auch noch rechne." Melek geht ins Exil, häuft neuen Reichtum und vergißt, besänftigt durch die Sorge um seine kleine, blind geborene Tochter, die alten Rachegefühle. Abdias paßt sich, immerfort seinen Handelsgeschäften nachgehend, den neuen, zivilisierten, christlichen Verhältnissen an und kümmert sich um das Wohlbefinden und die Erziehung seiner inzwischen sehend gewordenen Tochter, doch als das Schicksal ihn in Gestalt eines Blitzschlags, der die Tochter tötet, ein weiteres Mal trifft, hadert er nicht wie Hiob mit Gott, sondern setzt sich auf das Bänkchen vor seinem Haus und resigniert. Doch dann, nach vielen, vielen Jahren, regt sich der Atavismus, der alte Rachedurst in der Tiefe seines jüdischen Wesens: "Auf einmal erwachte er wieder, und wollte jetzt nach Afrika reisen, um Melek ein Messer in das Herz zu stoßen..."

Die narrative Dynamik zeigt hier den Prozeß der Verdrängung und Transformation einer ursprünglichen, Abdias als Vertreter seines Volks zugeschriebenen Disposition und ermöglicht es, die Erzählung nicht nur als soziale, sondern auch als historische zu lesen, obwohl keine zeitspezifischen Markierungen gesetzt werden. Die nordafrikanische Wüstenstadt ist auf, oder genauer: sie ist unter den Trümmern einer alten Römerstadt erbaut, so daß man zumindest annehmen kann, die Handlung in diesem Teil der Erzählung spiele nach dem Untergang des römischen Reichs. Doch die Gesellschaft, in der Abdias lebt, wird als primitve, sozusagen "alttestamentarische" beschrieben: kaum entwickelt sind gesellschaftliche Institutionen, es gibt kein Rechtssystem und keine Gebäude, die echte Seßhaftigkeit erlauben würden. Nachdem Abdias den nordafrikanischen Raum verlassen und sich im christlichen Europa – vermutlich denkt Stifter sogar an seine engere Heimat – niedergelassen hat, ändert sich auch sein Verhalten: er baut ein Haus, kümmert sich liebevoll um seine Tochter, tritt in geregelte Handelsbeziehungen zu seinen Geschäftspartnern. Am Ende aber sinkt er zurück auf die frühe Stufe der Zivilisation, der er entstammt.

Stifter beschreibt damit den Fortschrittsprozeß der Aufklärung, wie ihn zumal auch Herder dachte, wenn er die gegenläufige Überzeugung von der Unschuld alles Ursprünglichen beiseite schob. Eine Passage aus dem 15. Buch der Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit erinnert bis in verschiedene Einzelheiten an die nordafrikanische Szenerie des Abdias. Da hausen die Völker in Höhlen, und hinter dicken Mauern verbarrikadiert betrachten sie jeden Fremdling als Feind. Diese Feindschaft, dieses Mißtrauen aller gegen alle ist die erste "Naturordnung": eine "jugendliche Furcht", die erst mit dem Erwachsenwerden der Menschheit nach und nach bewältigt wird. Die Vernunft wächst, die Menschen und die Nationen verbünden sich. Auch im Abdias hausen die Juden in Höhlen, statt die Trümmer der römischen Zivilisation wegzuräumen oder für den Neuaufbau zu verwenden – ein Umstand, der eine doppelte Bedeutungsschicht aktualisiert: einmal die geschichtsphilosophische (oder geschichtsphantastische), dann aber auch die stereotype, zeitlose Ebene, wo die Juden ihre Geschäfte in aller Heimlichkeit, um nicht zu sagen: Heimtücke treiben. Sie horten und verbergen ihren Reichtum, statt ihn zur Schau zu stellen oder in wirtschaftliche Projekte zu investieren. Ihre ärmliche Kleidung ist Maskerade zum Schutz gegen Fremde, gleichsam ihr Panzer. Abdias entfernt sich von der durch Negation bestimmten jüdischen Gemeinschaft, als er beginnt, sich prunkvoll zu kleiden und positive Machtgelüste zu entwickeln: er will etwas darstellen und zeigen, daß er etwas hat. Erst in diesem Augenblick beginnt der narrative Konflikt und das persönliche Unglück des Abdias.

Diese und die noch folgenden Beobachtungen machen es schwer, die Illustrationen nachzuvollziehen, die Marc van Aerschot dem Abdias angedeihen läßt. Zwar hat der Zeichner nicht auf die Mauerbruchstücke vergessen, die die römische Antike evozieren, doch sie sind eher, wie auf vielen Renaissance-Gemälden, Ornament und Zitat als Schauplatz der Handlung. Diese Cartoons huldigen der Wunderwelt von Tausendundeine Nacht statt dem harten, verstörenden, detailrealistischen Nordafrika, wie es Flaubert in Salammbô geschildert hat und das nach meinem Empfinden Stifters Imagination eher verwandt ist als der Orientalismus des Märchenhaften. Meine Abdias-Lektüre erzeugt Bilder einer schmutzigen, unübersichtlichen, abgefuckten Wüstenstadt, gar nicht so verschieden von den Fernsehbildern, die uns dank der jüngsten Kriege aus dem nahen Osten ins Haus flimmern. Ich sehe da keine mächtigen Befestigungsanlagen, keine weißen Zelte, keine Palmenalleen. Sondern Erdlöcher, kaputte Häuser, Kulturschock. Einen "Bau" wie in der gleichnamigen Erzählung Kafkas: Wohnung für Tiere, die sich verkriechen.

Wie obsessiv Stifter auf dem Motiv der jüdischen Geldgier beharrt, kann man ermessen, wenn man Abdias und seine Familie mit einer christlichen Kaufmannsfamilie vergleicht: den Drendorfs. Bei letzteren ist von Geld kaum jemals die Rede; die Tugenden, die ihnen wie selbstverständlich eignen, sind Sparsamkeit, maßvoller Genuß, sinnvolle Verwendung des erwirtschafteten Reichtums; kein Spekulantentum, aber auch kein Geiz. Man stößt bei diesem Vergleich azf einen Gegensatz, wie ihn Gustav Freytag in seinem Roman Soll und Haben ausgeführt hat: hier die moralisch überlegenen, sauberen deutschen Kaufleute, dort die egoistischen, undurchschaubaren, betrügerischen Juden. Die Klischeehaftigkeit des jüdischen Personals wird im Abdias dadurch gemildert, daß der Erzähler die Schicksale der Hauptfigur aus der Nähe verfolgt und auch andere, dem "völkischen" Schema völlig fremde Elemente einführt, besonders die Beziehung Abdias' zu seiner Tochter und deren Blindheit. In der Judenbuche hingegen sind die Juden nur Nebenfiguren: Außer seiner Berufszugehörigkeit erfahren wir nichts über Aaron, denn die Erzählerin widmet ihre Aufmerksamkeit ganz der Lebensgeschichte, der Umwelt und den psychischen Motiven seines Mörders. Die jüdischen Figuren bleiben in Drostes Erzählung auf einige wenige stereotype Merkmale reduziert bleiben, während auf der deutschen, christlichen Seite moralische Verkommeheit herrscht. Die Autorin durchkreuzt damit schon im strukturellen Ansatz das Spiel von Gut und Böse, an dem Stifter hartnäckig festhält.

Im Vergleich zur Judenbuche wirkt die oft beschworene "Düsterkeit" Stifters, seine gelegentliche Faszination durch natürliche und menschliche Katastrophen, harmlos. Im Dorf B. herrscht eine allgemeine Depression, aus der sich auch jene nicht befreien können, die sich alle Mühe geben. Gewalttätige Ehemänner, Säufer, Verschwender, Holzfrevler, Wucherer, Kriminelle, ein Gutsherr, der vergeblich versucht, Recht und Ordnung walten zu lassen... So sieht das Sittenbild aus, das Droste-Hülshoff malt (und die historische Situierung der Handlung, Mitte des 18. Jahrhunderts, bleibt ebenso äußerlich wie in der Mappe meines Urgroßvaters. Die Erzählzeit ist in beiden Texten eine nicht eingegrenzte Gegenwart.) Stifter hat nur im Waldgänger, diesem ruhig dahinfließenden, von der Literaturkritik unterschätzten Roman, die Gesellschaft (vor allem in Gestalt der Verwandtschaft) als einen Faktor geschildert, der den Lebensraum des Individuums systematisch bedroht. Allerdings beschränken sich die Schilderungen dort auf knappe Behauptungen, während im Zentrum der Erzählung ein Paar steht, das die besten Absichten verfolgt und ohne eigenes Verschulden am Projekt der bürgerlichen Normalität scheitert. Bei Droste-Hülshoff ist das Elend sehr konkret: Die Forstbeamten werden aus dem Wald getragen, "zerschlagen, mit Schnupftabak geblendet und für einige Zeit unfähig, ihrem Berufe nachzukommen." Der Säufer Mergel, Vater der Hauptfigur, zerschneidet sich mit einem abgebrochenen Flaschenhals das Gesicht, und danach legt er Hand an seine Frau. Als Mergel in einer Sturmnacht schließlich tot nach Hause gebracht wird, ist ihre erste Reaktion: "Da bringen sie mir das Schwein wieder!" Und als die Frau am Ende in Armut und geistiger Dumpfheit versinkt, zeigen sich die Dorfbewohner hartherzig: "...wie es denn die Art der Menschen ist, gerade die Hülflosesten zu verlassen", lautet der Erzählerkommentar. In Stifters Dorfgeschichte Granit wird "diese fürchterliche Wendung der Dinge", die grausame Bestrafung des Kindes durch die Mutter, am Ende berichtigt, die Dinge renken sich ein; in der Judenbuche bekommen wir "diese unglückliche Wendung seines Charakters" – gemeint ist Friedrich Mergel, der spätere Judenmörder – auf eine Weise vorgeführt, daß sie als unwiderruflich erscheint. In solchen Verhältnissen ist auch die Geldgier der Juden nur ein trostloses Element unter vielen. Bei Stifter hingegen geben die Dorfgemeinschaften zumeist, immer aber die naturnahen Außenseiter – Holzfäller, Jäger und Sammler – Anlaß zur Hoffnung auf die Verbesserung des Menschengeschlechts.. So erscheint bei ihm auch die Tätigkeit des Rodens als schöpferisches Unterfangen, während Droste-Hülshoff eine Waldlichtung mit folgenden Worten beschreibt: "Der Mond schien klar hinein und zeigte, daß hier noch vor kurzem die Axt unbarmherzig gewütet hatte."

Der Spielraum zwischen der Beschreibung des gängigen Antijudaismus und der Verinnerlichung seiner Stereotype ist klein, die Grenze durchlässig. Stifter zeichnet Abdias zuweilen als armen, umherirrenden Juden, dem die deutschstämmigen Bürger die Tür vor der Nase zuschlagen, wenn er um ein Nachtlager bittet: "denn, da er jetzt viel unter die Menschen kam, lernte man ihn kennen, und er ist ein Gegenstand des Hasses und des Abscheues geworden." Wie ist dieser Satz zu verstehen? Bringt das Kennenlernen des Juden seine verabscheuungswürdigen Seiten, die er zu verbergen trachtet, an den Tag? Oder veranschaulicht Stifter hier nur ein weiteres Mal die anthropologischen Betrachtungen Herders, der die Juden als "niederträchtige Werkzeuge des Wuchers" bezeichnete, gleichzeitig aber den Umgang mit ihnen bedauerte, da man von ihnen "tyrannisch erpreßte, was sie durch Geiz und Betrug, oder durch Fleiß, Klugheit und Ordnung erworben hatten", so daß sie am Ende ihre Gegner noch mehr überlisten und erpressen müssen. Was hier beim Namen genannt wird, erinnert trotz aller Unterschiede an die von den Nazis verbreitete Idee eines Rassenkriegs, bei dem beide Seite ums Überleben kämpfen. Mag sein, daß die ersten Impulse zum Antijudaismus religiöser Natur sind. In der Darstellungen Stifters und Droste-Hülshoffs, die zweifellos, in mehr oder minder kritischer Absicht, etwas von den historischen Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts reflektieren, ist er aber in erster Linie als soziales Phänomen bestimmt, bei dem es um wirtschaftliche Einsätze geht. Von rassischer Minderwertigkeit und dergleichen ist bei beiden Autoren nicht die Rede; dennoch wird man nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts das Gefühl nicht los, daß die tödlichen rassistischen Konsequenzen in jenem sozialen Kampf bereits angelegt sind.

Anders als Droste-Hülshoff, der es um die Genealogie des Täters geht, zeichnet Stifter auf der Folie der alttestamentarischen Hiob-Geschichte seinen jüdischen Helden als Opfer, das durch erlittenes Unglück und Schmach zum potentiellen Täter wird. Der Abdias, der uns zu Beginn der Erzählung vorgestellt wird, unterscheidet sich von seinen Glaubensgenossen durch geradezu "christliche" Tugenden: Er tut "den Tieren, den Sklaven und den Nachbarn Gutes." Aber seine Umgebung, daran gewöhnt, überall nur Feinde zu sehen, haßt ihn dafür. Was in christlichen Gemeinschaften, wie Stifters Werke suggerieren, nur selten vorkommt, nämlich der Kampf aller gegen alle, prägt den Alltag der Juden. Als Abdias durch die Pocken "ungestalt und häßlich" wird, verabscheut ihn auch seine Frau, und erst nach dieser einschneidenden Erfahrung beginnt sich sein Charakter zu wandeln, so daß er einmal "in glühendem Geize" Geld hortet, um es dann wieder zu verschwenden und sich in "Wollüsten" zu ergehen. Stifter war als junger Mann selbst an den Pocken erkrankt; die Narben auf seinem Gesicht empfanden einige Zeitgenossen, die seine Bekanntschaft machten, als abstoßend, während andere berichten, daß trotz seines ungünstigen Äußeren der Charme seines empfindsamen Blicks auf sie wirkte. Abdias schwelgt vor seiner Erkrankung einer solchen Herzensgüte, daß er seiner Ehefrau Deborah von seinen Handelsreisen "die verschiedensten Dinge" mitbringt, "obwohl sie unfruchtbar war." Obwohl sie unfruchtbar war... Dieser Satz scheint mir wichtig, weil er die bigotte, als Selbstlosigkeit und Nächstenliebe maskierte Selbstgefälligkeit verrät, mit der Stifter hier ein Porträt zeichnet, das einem Selbstbildnis nahe kommt. Die Frau des Abdias ist, wie die des Autors, unfruchtbar, also verdient sie eigentlich keine Geschenke, denn sie kommt ihrer wichtigsten Bestimmung, dem Kindergebären, nicht nach. Wieder einmal hat Stifter den gordischen Knoten seiner Existenz, die Kinderlosigkeit, in sein Werk hereingetragen. In der literarischen Wunschphantasie löst sich der Knoten wie durch ein Wunder, als Deborah, ehe sie stirbt, doch noch ein Kind zur Welt bringt. Der Erzähler spricht es nicht aus, aber offenkundig wurde es mit dem Mann gezeugt, den sie haßte.

In der Schlußpassage des Abdias beschwört Stifter wie in so vielen seiner Erzählungen das Einverständnis mit der Natur der Dinge und den Dingen der Natur, zu denen auch der Mensch zählt. Der Ton wird plötzlich weich, das frühe Ende des aus jener Ehe hervorgegangenen Mädchens, zugleich das Ende der Abdias-Geschichte, wird mit einem jener rätselhaften, befremdlichen Sätze verbucht, zu denen Stifter äußerst selten findet: "Das Gewitter, welches dem Kinde mit seiner weichen Flamme das Leben von dem Haupte geküßt hatte, schüttete an dem Tage noch auf alle Wesen reichlichen Segen herab..." Der Tod erscheint hier als Akt der Liebe, und die in der Atmosphäre entfesselte elektrische Gewalt erweist sich als Aspekt der Wohltätigkeit, die in der Natur herrscht. Wenn sich der Erzähler vom erzählten Geschehen gleichsam räumlich entfernt, um einen Blick auf das Ganze zu erhalten, stellen sich die Effekte der stoischen Haltung ein, die dem Christen Stifter als einzig mögliche Haltung gegenüber der von der Hiob-Figur aufgeworfenen Problematik gelten muß. Diese Problematik ist mit jener der Theodizee eng verwandt, oder anders gesagt: das Schema der Hiob-Geschichte ist nichts anderes als die narrative Ausgestaltung der philosophisch-theologischen Frage nach dem Sinn des Unglücks in einer wesentlich guten Welt.

Beim Leser indessen bleibt nach der Lektüre ein zarter und bitterer Geschmack zurück, hervorgerufen durch den Kuß der Vernichtung, der die Kehrseite jener sprachkargen Härte darstellt, mit der Stifter mitunter das Unglück beschreibt. Als Deborah, die Mutter des Mädchens, im Kindbett stirbt, gebraucht der Erzähler folgende Worte: "Aber sie hatte einer Pflege nicht mehr not; denn da er (Abdias) außer Hause war, hatte sie nicht geschlummert, sondern sie war gestorben. Das unerfahrene Weib hatte sich, wie ein hilfloses Tier verblutet." Was für ein greller Kontrast zwischen der tierisch verendenden Jüdin und dem vom süßen Tod heimgeholten Kind! Zwischen dem harten, fast grausamen Blick des Beschreibungskünstlers und der Empfindsamkeit des kinderliebenden Mannes. Und dazwischen, als unmerkliches Verbindungsglied zwischen den beiden Seiten, der Erzählmechanismus, die durch ihn generierte Dynamik, die Stiftersche Bigotterie.

Auszug aus "Adalbert Stifter und die Freuden der Bigotterie", erscheint Mitte Maerz 2005 im Otto Mueller Verlag.


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