Das blaue Taschentuch


© María del Carmen Garcés

Die Sache mit dem blauen Taschentuch hatte sie erfunden, weil sie die Idee zu sterben, ohne eine Liebesnacht erlebt zu haben, sogar noch mehr quälte als der Terror der ewigen Armut und Mittellosigkeit. Durch die Krise in den letzten Jahren waren viele alte Menschen gezwungen, auf der Straße zu leben, eine Tatsache, die sie in Angst und Schrecken versetzte, und jedes Mal, wenn sie daran dachte, erhob sie sich und machte die Lichter im Hause aus. Aber das andere konnte sie noch weniger hinnehmen. Am späten Nachmittag – zur Stunde der Siesta – ausgehen und seiner Verpflichtung nachkommen, indem man sich mit den anderen einsamen Frauen des Viertels traf... Nein! So würde ihr Leben nicht enden: Im Herbst die trockenen Blätter aufsammeln, im Winter vor dem Haus den Fußweg räumen und im Frühling die Bäume im Garten beschneiden. Sie konnte sich nicht erinnern, seit wann sie in dieser Tretmühle feststeckte, jedoch das erste Anzeichen von Rebellion entstand völlig unerwartet eines Sommermorgens, als sie die Stricknadeln in den Mülleimer warf: Alle ihre Schwestern und Nichten besaßen inzwischen genügend Pullover für die unzähligen Winter der kommenden Jahre. Und sie war es ein für alle mal satt, neue Strickmuster zu erfinden und Farben zu kombinieren.

Vorbei war auch die Zeit der Keramikarbeiten. Sie ertrug es einfach nicht mehr, die vielen Besucher tagtäglich in ihr Haus zu lassen und ihnen die griechischen Figuren zu zeigen, die sie mit ihren Händen geschaffen hatte. Wieso machten sie alle am Ende dieselbe bedeutungslose Bemerkung über ihr angeborenes Talent für die Kunst der Plastik? ‚Nun ja', dachte sie, ‚wenn ich das Leben betrachte, das ich bisher geführt habe, sind dies ganz normale und verständliche Reaktionen. Dagegen ist das, was mit dem blauen Taschentuch geschieht, mehr als komisch, sogar peinlich'.

Vielleicht lag es daran, dass sie trotz ihrer vierundsechzig Jahre die Hoffnung noch nicht verloren hatte, ihr Glück zu finden. Und das blaue Taschentuch war die einzige Möglichkeit, ihm näher zu kommen.
Eines Nachts, als ihr die Einsamkeit die Seele erdrückte, holte sie das Taschentuch aus der Kommode und legte es auf das Bett. Sie formte eine menschliche Figur, einen Mann, betrachtete ihn zärtlich und begann zu reden. "Ansaldo", sagte sie mit sanfter Stimme, "bist du endlich zurückgekommen! Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich diesen Moment herbeigesehnt habe. Schließ deine Augen und hör mir zu. Aber nicht heimlich blinzeln, während ich mich ausziehe! Weißt du, ich habe mich noch nie vor einem Mann ausgezogen und schäme mich. Darum bitte, lass die Augen zu! Am Ende werden wir zusammen sein, mein Lieber. Ich hatte solche Angst davor, zu sterben, ohne dir noch einmal begegnet zu sein. Jetzt bin ich so weit. Warte eine Sekunde! Ich ziehe mir nur noch ein Hemd über. Dass du ja nicht die Augen aufmachst!"

Als sie ihm sagte, dass er nun die Augen öffnen könne, lag sie an seiner Seite. Sie trug ein makelloses weißes Hemd und hatte sich mit der Bettdecke bis zum Mund zugedeckt. Dann erzählte sie von dem Käfer, den sie im Garten gefunden hatte und von den neuen Knospen an der Strohblume. "Ansaldo, Ansaldo", seufzte sie immer wieder, bis sie in den Schlaf fiel mit dem deutlichen Gefühl seiner Hand, die an ihrer Taille ruhte.
Sie schlief, ohne ihre Tabletten, ohne zu seufzen. Und sie träumte. Sie träumte von der Zeit, vor vielen Jahren, als sie sechsundvierzig Jahre alt geworden war und begann, sich von dem Schmerz über den Tod ihrer Mutter zu erholen, und als sie einen Mann kennengelernt hatte. Einen Bauarbeiter und halben Vagabunden. Er kam zu ihr ins Haus. Der Maurer vom Dorf hatte ihn ihr empfohlen. Ihre Nichten waren noch klein, und sie dachte, das beste Weihnachtsgeschenk sei ein Schwimmbecken bei ihr im Garten – dann wäre sie seltener allein.

An jenem Tag sprachen sie über Preise, Maße, Material und Bauzeit. Sie vereinbarten den Lohn, dazu ein Essen und Wein (vom 'Guten'). Die Nacht verstrich sehr schnell mit Gesprächen über die Stundenplanung und der Diskussion über die beste Form des Beckens. Ansaldo verabschiedete sich mit dem Versprechen, am Montag um acht Uhr anzufangen. "Was, schon acht Uhr!". Sie schreckte mit einem Anflug von schlechtem Gewissen aus dem Schlaf. Es war das erste Mal seit Jahren, dass sie so lange geschlafen hatte. Sie sprang aus dem Bett und während sie dem Bäcker zurief, sie werde gleich öffnen, er solle nur warten, faltete sie in aller Eile das blaue Taschentuch und tat es in die unterste Schublade der Kommode.
Nach dem Brot kamen die Dusche und die Spiegelstunde. Und da bemerkte sie es. Ihre Augen, ja, ihre Augen strahlten. Sie strahlten durch ihn. Sie bereitete ihm das Frühstück, sie trällerte ein Lied, und auch ihre Stimme klang verändert. Wann hatte sie das letzte Mal gesungen? Sie konnte sich nicht erinnern.

Mehrere Nächte hintereinander wiederholte sie das Ritual mit dem Taschentuch, und ihre Träume wiederholten in genauer Reihenfolge die Tage beim Bau des Schwimmbeckens. Vom Matetee um zehn Uhr bis zu den zwanzig Minuten, die sie stets plauderten. Nicht länger – der Maurer durfte schließlich nicht glauben, es würde ihr gefallen, mit ihm zu schwatzen. Er war ein verlässlicher und guter Arbeiter und sie dachte, er verdiene einen gut gebrühten Matetee und zwanzig Minuten Pause. Danach durchlebte sie in den Träumen die gemeinsame Mittagsstunde. Auch wenn ihre Mutter ihr bis zu ihrem Todes eingeschärft hatte, niemals die Herkunft der Familie zu vergessen und die Distanz zu wahren, fand sie es doch angemessen, Arbeitern in der Küche ein Essen zu servieren. Außerdem war Ansaldo ein sehr angenehmer Gesprächspartner. Er wusste viel über Musik und er liebte es, Verse zu rezitieren. Er erzählte ihr von Van Gogh und den Briefen an seinen Bruder, in denen er sich darüber beklagte, dass er niemanden hatte außer den Küchenschaben, die auf dem Fußboden des Esszimmers herumkrabbelten. Er wusste alles über Leben und Tod Che Guevaras und es faszinierte ihn, darüber zu sprechen. "Argentinier", betonte er und schloss seine Geschichten immer mit der Bekräftigung: "Doch wir haben es immer wieder geschafft, uns der Besten unter uns zu entledigen, Seņora. Denken Sie an Sokrates, Jesus, Che..." An dieser Stelle der Träume suchte sie das blaue Taschentuch und drückte es an ihre Brust. Sie verabschiedete sich weinend. Am Morgen war sie in schlechter Verfassung. Sie sang nicht und auch der Bäcker lobte nicht die Frische in ihrem Gesicht. Sie kehrte zurück in die Zeiten der schweren Niedergeschlagenheit, mit gekreuzten Armen, hocherhobenen Hauptes und die Augen starr auf den ausgeschalteten Fernseher gerichtet. Sie erhob sich nur, um zehn Uhr die Milch hereinzuholen und elf Uhr den Müll hinauszustellen. Der Gemüsehändler kam um ein Uhr und alle merkten, dass es kein guter Tag war, mit der Seņora zu reden. Den Rest des Nachmittages verweilte sie sitzend, mit den Augen den stummen Fernseher fixierend, bis das Klingeln irgendeines fernen Weckers sie daran erinnerte, dass es zwölf Uhr nachts war. Sie wollte nicht schlafen gehen.

"Schau mich nicht an!", sagte sie am folgenden Tag zu dem blauen Taschentuch. "Umarme mich, wenn du willst, an der Taille. Aber schau mich nicht an!" Sie lag zusammengesunken an seiner geträumten Brust, die Beine verflochten mit den seinen und schlief ein: Das Schwimmbecken war fertig. An diesem Tag trug Ansaldo keine Arbeitskleidung. Er kam ganz in weiß. Seine Augen leuchteten wie die eines glückseligen Kindes. Er klopfte an die Tür (er hatte nie begründet, warum er die Klingel nicht benutzte). Als sie öffnete, fand sie sich einem Strauß blauer Blumen gegenüber (den einzigen, die sie in ihrem Leben je bekommen hatte).

"Ich muss mit ihnen reden.", sagte er. Sie begleitete ihn in den Raum für wichtige Besucher. Er setzte sich, noch bevor sie es ihm anbieten konnte und gestand ihr mit zitternder Stimme seine Liebe: "Wenn wir etwas jünger wären, würde ich sie um ihre Hand bitten. Ich weiß nicht, wie ich etwas so Einfaches sagen soll: Dass ich weiß, dass ich sie liebe, dass das Leben sehr traurig ist; ich weiß nicht, aber man muss doch gemeinsam durch das Leben gehen, oder nicht? Ich würde sie behüten! Wir brauchen uns! Sie sind so..."
Im Traum klang die Stimme Ansaldos klar und rein. Seine Augen leuchteten mit noch größerer Intensität. Sie gab sich große Mühe, sich dieses Bild und das Gefühl, dass er sie liebte, tief einzuprägen. Sie wusste, dass es der letzte der Träume war, dass die schreckliche Routine dafür sorgen würde, die Erinnerungen auszulöschen und das Leben wieder aus Angst vor Inflation, Rechnungen, Steuern und dem Ausschalten der Lichter im Hause bestehen würde.
Bis sie eines Nachts – nach genau drei Jahren – aus der letzten Schublade der Kommode das blaue Taschentuch hervorholte und Ansaldo mit dem Bau des siebten Schwimmbeckens beauftragte.

Warnung


Um sieben Uhr abends beginnt sich der Himmel über dem Urwald zu verdunkeln. Auch die höchsten Spitzen der Cordillieren verschwinden am Horizont, und dann verwandeln sich die Wolken in Rot, Violett und Schwarz. Alles ist schwarz in der Nacht des Waldes, ein-schließlich der tiefgrünen Bäume. Doch das dauert nur solange, bis die Sterne erwachen. Der Fährmann sagte mir, ich solle die Augen schließen und lauschen. Den unendlichen Stimmen lauscht. Und es ist wahr, ab sieben Uhr beginnt der Wald zu musizieren. Der Fährmann warnt mich, die Augen zu öffnen, ich solle zuhören, solle lernen zuzuhören. Ich spüre, wie das Schiff sanft den Fluss hinabgleitet. Anfangs zwingt mich ein starkes Licht, ähnlich dem des Mondes, meine geschlossenen Augen zusammenzukneifen. Nach einigen Minuten ist es, als ob sich ein Feuer nähert, mich anzündet und mich verbrennt – von innen und von außen. Der Fährmann warnt mich noch einmal davor, die Augen zu öffnen, ich solle standhaft das Feuergefühl ertragen, das sich immer stärker ausdehnt. Ich müsse lernen zu vertrauen. Doch ich kann nicht länger widerstehen. Meine Seele steht in Flammen. Mein Körper brennt. Es ist mir nicht mehr wichtig, den verheißenen Moment zu erleben. Ich öffne die Augen. In diesem Moment bricht der Vulkan aus, der auf seine Art zu mir sprechen wollte. Das war es, was der Fährmann gewusst hatte.

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Schau mir in die Augen

Autorenportrait María del Carmen Garcés (Ecuador)


© Nicole Kühnert

Um sieben Uhr abends beginnt sich der Himmel über dem Urwald zu verdunkeln. Auch die höchsten Spitzen der Kordilleren verschwinden am Horizont, und dann verwandeln sich die Wolken in Rot, Violett und Schwarz. Alles ist schwarz in der Nacht des Waldes, einschließlich der tiefgrünen Bäume. Doch das dauert nur so lange, bis die Sterne erwachen. Der Fährmann sagt mir, ich solle die Augen schließen und lauschen. Den unendlichen Stimmen lauschen... (‚Warnung' aus "Schau mir in die Augen", María del Carmen Garcés)

Was sind das für Stimmen? Woher kommen sie? Können wir sie hören? Wenn wir wollen, können wir mit María del Carmen Garcés auf Reisen gehen – bis in die verstecktesten Winkel ihres Heimatkontinents. Sie bittet uns zu Gast bei Menschen, denen die Autorin ihre Stimme leiht, damit sie sprechen und zu Wort kommen können. Mit ihnen und mit der atemberaubenden Landschaft Lateinamerikas fühlt sich die Autorin bis in ihre letzte Zelle eng verbunden.

Anfang November 1997 machte sich María del Carmen unweit von Mendoza in Argentinien auf den Weg zu einer Buchpräsentation in Chile. Der Zufall wollte es, dass sie ihren Platz direkt neben mir reserviert hatte. Wir kamen schnell in ein nicht enden wollendes Gespräch. Sie erzählte von Reisen durch die verschiedensten Länder Lateinamerikas und von erstaunlichen Menschen. Da war dieser junge Mann, der nicht mehr laufen konnte und auf zwei Krücken den halben Kontinent durchquerte. Er wollte der Resignation und dem Seelentod entfliehen. Und da war dieses indianische Mädchen, das von ihrer Mutter im guten Glauben in den Dienst reicher, weißer Leute abgegeben wurde. Sie hoffte, dass es dadurch ein besseres Leben hätte und eine schulische Ausbildung bekäme. Sie erfuhr nie, wie ihre Tochter wirklich behandelt wurde. María und ihr Mann (Jorge Orduna, ebenfalls Autor verschiedener Bücher) verhalfen dem Mädchen zur Flucht und gaben es in die Obhut einer Frau, die sie wie ihre eigene Tochter behandelte. Die neue Pflegemutter war nicht reich und ein paar Hauttöne dunkler als das Mädchen. Statt dankbar zu sein, begann es nun seinerseits, die Frau wie eine Bedienstete zu behandeln.
Die sechsstündige Busreise über die Anden nach Santiago de Chile verging wie im Flug. Nach unserer Ankunft tauschten wir eilig unsere Adressen und schon war sie verschwunden. Was blieb, war der tiefe Eindruck von einer Frau, die das Leben kennt – in den verschiedensten Schattierungen.
Nach zwei unbeantworteten Postkarten schrieb ich aus Routine noch eine dritte und erhielt Wochen später als Geschenk ein kleines, unscheinbares Büchlein: "Mirame a los ojos" (Schau mir in die Augen).
Zwei Jahre später besuchte ich sie in Argentinien. Sie lebt mit ihrem Mann, ebenfalls Schriftsteller, und ihrer Tochter in ihrem kleinen Haus im Valle del Sol*, am Fuß der das Tal eingrenzenden Anden. Der Eindruck des Romantischen verschwindet bei genauerem Hinsehen. Das Leben dieser Familie ist wie das ihrer Landsleute ist ein harter Überlebenskampf. Jedoch scheint sie das nicht zu verzagen, sondern im Gegenteil, sie darin zu bestärken, den Widrigkeiten zu trotzen, um zu leben und - zu schreiben. Eine große Kraft, ein unbändiger Wille treibt diese Menschen voran.
In meiner Tasche hatte ich die Übersetzung der 13 Kurzgeschichten aus "Schau mir in die Augen". Verschiedene deutsche Verlage hatten den kleinen Erzählband abgelehnt. Gefragt sind Romane. Wenn es geht, gleich drei Stück. Was machen wir nun? Nach einer Woche des Zusammenlebens und vielen Gesprächen wussten wir es.

Ein Jahr später, im Februar 2002, holte ich María vom Dresdner Flughafen ab. Schon auf der Hinreise begleitete sie das Glück. Jedes Mal hatten nette Menschen, Flughafenangestellte, ein Auge zugedrückt, wenn sie ihre drei übergewichtigen Kisten am Schalter aufgegeben hatte: Eintausend Bücher und dreihundert Plakate! Diese, und die Organisation einer 5-wöchigen Lesereise durch 17 Städte Deutschlands und Österreichs hatten wir aus unserer eigenen Tasche bezahlt. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ob Leute zu den Lesungen kommen? Sind die Geschichten interessant genug? Werden wir Bücher verkaufen können? Wir brauchten das Geld. Arbeit wartete auf uns. Doch unsere Bedenken waren umsonst. Wir begegneten vielen Menschen, die zuhörten, uns Mut machten und uns unterstützten. Wir sind ihnen dankbar und haben sie nicht vergessen.

Und es ist wahr, ab sieben Uhr beginnt der Wald zu musizieren. Der Fährmann warnt mich, die Augen zu öffnen, ich solle zuhören, solle lernen zuzuhören. Ich spüre, wie das Schiff sanft den Fluss hinabgleitet. Anfangs zwingt mich ein starkes Licht, ähnlich dem des Mondes, meine geschlossenen Augen zusammen zu kneifen. Nach einigen Minuten ist es, als ob sich ein Feuer nähert, mich anzündet und mich verbrennt – von innen und von außen. Der Fährmann warnt mich noch einmal davor, die Augen zu öffnen, ich solle standhaft das Feuergefühl ertragen, das sich immer stärker ausdehnt. Ich müsse lernen zu vertrauen. Doch ich kann nicht länger widerstehen. Meine Seele steht in Flammen. Mein Körper brennt. Es ist mir nicht mehr wichtig, den verheißenen Moment zu erleben. Ich öffne die Augen
(‚Warnung', aus "Schau mir in die Augen" von M. C. Garcés)

Jede Lesung begann mit der "Warnung". Wovor warnt uns der Fährmann? Was kann uns berühren? In kürzester Form beschreibt die Autorin das Erlebnis eines Vulkanausbruchs als Ereignis von höchst spiritueller Kraft. Diese Spiritualität, diese Geisteskraft, begegnet dem Leser in jeder der Geschichten, die fast alle auf tatsächlichen Begebenheiten beruhen. Große Aufmerksamkeit schenkt Maria auch der Gedanken- und Gefühlswelt der Frauen des lateinamerikanischen Kontinents, welche durch ökonomische Zwänge und eine dominante Männerwelt doppelt an den Rand der Gesellschaft gedrängt sind und keine Rechte besitzen. Doch inmitten einer brutalen Realität finden Frauen poesievolle Wege, Zeitstränge, Ebenen und Räume zwischen Leben und Tod, um ihre Würde als menschliche Wesen zu bewahren. In den Geschichten Marías werden Frauen vergewaltigt, sie töten ihre Kinder aus Angst, selbst getötet zu werden, sie schildern die Not, aus der Heimat vertrieben zu sein, um sich woanders ihr tägliches Brot verdienen zu müssen... María nimmt kein Blatt vor den Mund. Die einfachen, eindringlichen Schilderungen zwingen das Publikum zum Nachdenken über sich, seine Kultur und die globalen Verhältnisse. Das zeigte sich auch an den vielen interessanten Gesprächen, die sich im Rahmen der Lesungen ergaben. Jeder Abend war besonders. Es wurden viele Fragen gestellt, auch zu Che Guevara, der verschwommenen Legende, und, natürlich zu María selbst.

Maria del Carmen Garces wurde 1958 in Latacunga, einem kleinen Andendorf in Ecuador, geboren. Mit 18 Jahren verbrachte sie ein Schuljahr in den USA, und seit dem war ihre Leidenschaft erwacht, die Welt zu erfahren, die Menschen zu verstehen und ihre Lebenszusammenhänge zu durchdringen. So reiste, lebte und studierte sie in verschiedenen Ländern Nord- und Südamerikas sowie Europas. Die Eindrücke, die sie auf diesen Reisen und während ihrer wiederholten Tätigkeit als Bergführerin in den Anden gesammelt hat, waren und sind eine wichtige Inspirationsquelle ihres Schreibens.
Zwischen 1981 und 1988 arbeitete sie als Übersetzerin (Englisch, Französisch, Portugiesisch) und als Herausgeberin verschiedener nationaler und internationaler Informationsblätter. Eine besondere Leidenschaft Marías ist ihre jahrelange Forschungsarbeit über den Partisanenkämpfer Che Guevara, insbesondere über sein Leben und Wirken in Bolivien. Die darüber gesammelten Dokumente hat sie in drei Sammelbänden veröffentlicht. Ihre Erzählungen sind in verschiedenen Anthologien und in mehreren Sprachen veröffentlicht worden. Die erste Ausgabe ihres Erzählbandes "Schau mir in die Augen" erschien 1995 in Quito (Ecuador).

Im Mai 2004 wird es eine zweite Lesereise zu diesem Buch geben. Wir hoffen auf viele weitere Abende des gegenseitigen Erkennens, Achtens und Verstehens.

* Tal der Sonne

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Kurzvita von María del Carmen Garcés

Maria del Carmen Garces wurde 1958 in Latacunga (Ecuador) geboren. Sie lebte, studierte und reiste in verschiedenen Ländern Nord- und Südamerikas sowie Europas (Bolivien, Argen-tinien, USA, Chile, Kuba und Frankreich).Zwischen 1981 und 1988 arbeitete sie als Über-setzerin (Englisch, Französisch, Portugiesisch), und als Herausgeberin der Informationsblätter "Auszug aus der Internationalen Presse" (Extracto de la prensa internacional) und "Auszug aus der lateinamerikanischen Presse" (Extracto de la prensa latinoamericana).
Zwischen 1983 und 1987 forschte sie über den Partisanenkrieg des Ernesto Che Guevara in Bolivien und veröffentlichte drei Sammelbände aus den Dokumenten über dieses Thema. Mit acht weiteren Autoren veröffentlichte sie den Erzählband "Fruta Mordida" (Quito, 1994). Verschiedene Erzählungen wurden in Anthologien veröffentlicht, sowohl in Ecuador als auch in den USA.
Veröffentlichung der ersten Ausgabe von "Mirame a los ojos" ("Schau mir in die Augen") 1995, der zweiten Ausgabe 2001 und der 3. Ausgabe 2003 in Quito (Ecuador), Veröffentlichung ihres neuesten Werkes "Sé mis ojos" im Dez. 2004 in Quito Februar/März 2002 sowie Mai 2004: Lesereise durch zahlreiche Städte Deutschlands und Österreichs zur zweisprachigen Präsentation des Erzählbandes.

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Kurzvita von Nicole Kühnert (Übersetzerin, Organisatorin)

Nicole Kühnert, geboren 1971 in Gardelegen (Deutschland), studierte Betriebswirtschafts-lehre und 'Deutsch als Fremdsprache' in Leipzig und unternahm verschiedene Sprach-, Arbeits- und Studienreisen durch Südamerika und Europa (Chile, Argentinien, Peru, Bolivien, England, Irland).
1998-2001war sie an der Universität Leipzig am Referat für Gleichstellung (Frauen- und Ge-schlechterforschung, Konferenzmanagement) und als Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache an verschiedenen Schulen beschäftigt.
1998 übersetzte sie den Erzählband "Schau mir in die Augen" von María del Carmen Garcés. Februar/März 2002 und Mai 2004: Lesereise durch zahlreiche Städte Deutschlands und Österreichs zur zweisprachigen Präsentation des Erzählbandes
Mehrere Jahre Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache in Dresden und von Oktober 2004 bis Juli 2005 in Martos (Jaén) in Spanien
Seit August 2005: Transnationale und Projektkoordinatorin in einem EU-Projekt zur Beschäf-tigungsförderung.

Lesung des Erzählbandes "Schau mir in die Augen" von und mit María del Carmen Garcés in mehreren Städten Deutschlands und in Salzburg (eine zweisprachige Lesung in Spanisch und Deutsch)

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Projektbeschreibung:


Vom 14. Februar bis 21. März 2002 und im Mai 2004 haben die Autorin María del Carmen Garcés aus Ecuador und die Übersetzerin Nicole Kühnert aus Dresden in zahlreichen Städten Deutschlands und in Salzburg/Österreich den Erzählband "Schau mir in die Augen" ("Mirame a los ojos") von María del Carmen Garcés in zweisprachigen Lesungen (Spanisch/Deutsch) präsentiert. In anschließenden Gesprächen mit dem Publikum wurden der Hintergrund und der Inhalt der Erzählungen diskutiert. Eine dritte Lesereise ist für Mai 2006 vorgesehen.

Die Erzählungen der Autorin schildern eine für den wohlsituierten Europäer schwer vor-stellbare brutale Realität. In einem ersten Anliegen des Projektes geht es somit um die Darstellung der Lebenswirklichkeit in den Ländern der "Dritten Welt" am Beispiel Latein-amerikas. Diese existiert oft gar nicht in unserem Bewusstsein bzw. wird schnell wieder ver-drängt. "Was kann man als Einzelner schon tun?". María del Carmen Gracés handelt indem sie beschreibt. Große Aufmerksamkeit wird den Frauen gewidmet, welche durch die wirt-schaftliche Ausbeutung im globalen System zum einen und durch die herrschenden Gesetze des Patriarchats zum anderen doppelt an den Rand der Gesellschaft gedrängt sind. Vor den Augen des Lesers entstehen die Schicksale verschiedener, oft einfacher Frauen, die vergebens um grundsätzliche Menschenrechte kämpfen. In den Geschichten Marías werden Frauen ver-gewaltigt, töten sie ihre Kinder aus Angst, selbst getötet zu werden, schildern sie die Not, aus der Heimat vertrieben zu sein, um sich woanders ihr tägliches Brot verdienen zu müssen... Trotzdem behandelt dieses Buch nicht ausschließlich das Thema der weiblichen Lebens-realität. Es geht um Menschen, die in der Not um geistiges, seelisches und das Überleben überhaupt kämpfen. María nimmt kein Blatt vor den Mund. Mit einfachen, eindringlichen Schilderungen zwingt sie den Leser zum Nachdenken über sich, seine Kultur und die globalen Verhältnisse. Denn nie war der Wohlstand zwischen Nord und Süd und zwischen Ost und West so ungleich verteilt wie heute. Dabei ist das Engagement eines jeden gefragt, wenn es um politische Veränderungen und Entwicklung geht. Um sich jedoch engagieren zu können, muss man informiert sein.

Zum anderen soll dieses Projekt die Möglichkeit einer interkulturellen Begegnung bieten mit dem Ziel, kulturelle Differenz als Chance und Herausforderung für das Leben miteinander und nebeneinander zu begreifen. Wenn "Kultur" so umfassend verstanden wird, wie Goethe sie seinerzeit definiert hat, nämlich als ein "alle Lebens- und Geistesformen eines Volkes" einschließendes Zusammenspiel mit allen darin möglichen Wechselbeziehungen, so bieten die lebensnahen Geschichten von María wie ein Fenster die Möglichkeit, in die Kultur Latein-amerikas, insbesondere Ecuadors und Argentiniens, zu schauen. Durch die Begegnung mit der Autorin rückt diese Welt jedoch aus der sicheren Distanz in greifbare Nähe. Die Konfron-tation mit dem Fremden löst oft als erste Reaktion Angst und Missverständnisse aus. Hier wird Differenz mit all ihren angenehmen und unangenehmen Seiten erlebbar. Was ist richtig: das Eigene oder das Fremde? Solche oder ähnliche Fragen könnten auftauchen und somit das Bewusstsein für die eigene und die andere Kultur schärfen. Jede Kultur hat ihren Wert, ihre Eigentümlichkeit, ihre Würde. Die Begegnung soll helfen, sowohl das Fremde näher kennen zu lernen als auch das Eigene im Kontrast dazu deutlicher zu sehen. Denn erst wenn man das Eigene kennt und achtet, ist man in der Lage, das Andere wirklich zu schätzen.

Nicht zuletzt sollen dem schriftstellerischen Schaffen der Autorin für die Zukunft Impulse verliehen werden, indem sie Zugang zum europäischen Buchmarkt erhält.

Wir haben viele Abende in einer Atmosphäre des Lernens, Erkennens und Achtens verbracht und hoffen auf drei/vier weitere Wochen mit unvergesslichen Zusammenkünften.

Die Lesereise


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