GEFANGENENTATTOOS UND -GRAFFITI


Persönliche Annäherung an ein in größere Zusammenhänge eingeschriebenes Phänomen


© Thomas Northoff

Österreichisches GraffitiArchiv für Literatur, Kunst und Forschung

Immer wieder tauchen in den Tageszeitungen Karikaturen auf, die Gefangene in ihrem Haftraum zeigen. Zwei Merkmale fehlen hier so gut wie nie: Die zu Fünferbündeln geordneten Striche an der Wand, den Gefangenenkalender darstellend, oftmals gerade von einem griesgrämigen Zellenbewohner durch Hinzufügung eines Striches ergänzt. In näherer und weiterer Umgebung des Kalenders befinden sich meist noch Graffiti an der Wand, die den BetrachterInnen Sehnsüchte und Emotionen von Weggesperrten vorführen sollen. Kaum eine Karikatur verzichtet auf das zweite, den Häftlingen solcherart pauschal zugewiesene Typicum, nämlich die Tätowierung des am Kalender arbeitenden Insassen. Je nach Aussageziel des Karikaturisten wird der Gefangene mit einer eher belustigenden oder einer besondere Gefährlichkeit symbolisierenden Tätowierung ausgestattet - und schubladisiert. Das Bild ist nun von den BetrachterInnen rasch erfassbar, nach einem bzw. unserem durch Vorurteile, Vereinfachungen und Verallgemeinerungen geprägten Codierungs- und Decodierungssystem. Dieses erleichtert uns mühelose Orientierung im Alltag - und nimmt dabei bis zur Unmenschlichkeit reichende Sichtweisen sowie Fehlreaktionen in Kauf.

Ich erinnere das Ottakringer Bad, ein herrlich gelegenes Freibad am wienerwaldseitigen Stadtrand von Wien. Mein Nachbar und ich gingen in den Ferien wiederholt dorthin, nachdem wir unseren alleinstehenden Müttern den Besuch eines anderen Bades vorgeflunkert hatten. Zum Besuch des Ottakringer Bades hätten wir von ihnen nie die Erlaubnis erhalten. Hundert Jahre Stein ( Strafanstalt Krems/Stein) würden dort herumlungern, war die landläufige Ansicht. Und woran war dieses Konvolut abgesessener Jahre zu erkennen? An den vielen Tätowierten, die dort verkehrten. Dies hieß automatisch: Kriminelle.

Und die sahen wir dann als nicht mal Halbwüchsige tatsächlich, wagten kaum, an ihnen vorüber zu gehen, getrauten uns noch weniger, offen ihre Hautbilder zu betrachten, wagten keinen Sprung ins Wasser des damals unbeheizten Schwimmbeckens, wenn diese Herren, die so gut wie nie alleine auftraten, sich im Wasser mit ihren Begleiterinnen vergnügten, die sie buchstäblich durch die Luft einander zuwarfen, während diese, aufgefangen von an den unglaublichsten Stellen zupackenden kräftigen Händen, kreischten und Bemerkungen ausstießen, die denen ihrer starken Beschützer um nichts nachstanden. Es waren lauter Prostituierte, wie wir aus den nicht für unsere Ohren bestimmten Reden der Erwachsenen erfahren hatten. Im Gegensatz zu den Männern fielen nur zwei von ihnen durch eine Tätowierung auf, jeweils ein männlicher Vorname auf Englisch an der Querleiste des Schulterblatts. Von der Möglichkeit des Hautstechens am oder um den Intimbereich hatten wir keine Ahnung; davon, dass vereinzelt selbst sogenannte Bessere heimlich Hautbilder trugen, schon überhaupt nicht.

Es gab viel zu reden und uns auszumalen am Heimweg. Mein Nachbar hatte bereits Gangster-Filme gesehen, die mit Jugendverbot belegt waren. Bald jedoch hörten sich die Abenteuer auf. Meine Mutter ließ mich immer seltener , und der Nachbarbub, der inzwischen begonnen hatte Schusswechsel-Szenen aus den Filmen zu zeichnen, wurde von seiner Mutter in ein Heim gegeben. Die Mutter war blind, drum konnte sie nicht sehen, wie ihr Sohn bei einem Wochenendbesuch plötzlich mit einer Tätowierung am Unterarm zu Besuch kam; nach eigener Vorlage, wie er mir stolz und bereits den Stimmbruch hinter sich berichtete. Ich sah die Umrisse eines vierblättrigen Kleeblatts. Es hatte nichts Böses an sich, wirkte auf mich aber doch befremdend. Mich irritierte mein Respekt vor seinem Mut. Wenn wir draußen mit anderen Buben zusammen trafen, die mir als Raufbolde bekannt waren, beobachtete ich die selbe Reaktion. Im Laufe von zwei Jahren waren mehrere dieser Burschen tätowiert. An ein Tomahawk kann ich mich erinnern, an Pfeile mit stilisierten Flugfedern, dann tauchte einer mit Herz und Mädchennamen auf, später einer mit Dolch und der Prophezeihung, sich etwas ins Gesicht pecken (taetowieren) zu lassen.
Nicht lange, und unsere Wege trennten sich wie unsere Ausbildungen. Ich bedauerte diesen Umstand nicht, da mir das ständige freudige Gerede über Kraft und Gewalttaten nicht behagte. Es schien mir da etwas in der Luft zu liegen, was seiner Verwirklichung harrte. Davon abgesehen, war ich bei meinen seltenen Straßenbesuchen nunmehr angesehen wie ein Haushund unter einem frei lebenden Rudel, von dem ich Gefahr lief zerbissen zu werden. Ich trug den Geruch von Halsband und Leine. "Sie trugen ihr ´Wildsein` fortan sichtbar auf der Haut", wie ich es heute bei Petermann so trefflich ausgedrückt lese (Petermann 1993: 8). Ihren einzigen Zwinger sahen sie in der Erziehungsanstalt. Aus dem Lokalteil der Tageszeitung erfuhr man in der Folge, dass diese Partie wegen wiederholter Mopeddiebstähle und anderer Eigentumsdelikte hochgegangen war. Auch Gewalt und ein Messer waren im Spiel. Da hatte ich mit den Burschen längst nichts mehr zu tun.

An Tätowierungen dachte ich gar nicht mehr. Auf diese Art der Menschenmarkierung stieß ich erst wieder, als Mutter Mitarbeiterin in einer Apotheke wurde. Suchte ich sie dort auf, war eine alte Magistra besonders freundlich zu mir und zeigte außerordentliches Verständnis gegenüber meinen für Mutter besorgniserregenden Ideen hinsichtlich gesellschaftlicher Gerechtigkeit. Eine Jüdin sei sie, hörte ich, wie hinter vorgehaltener Hand, das KZ hätte sie überlebt, wo man den Menschen Nummern eintätowiert habe. Mehr wurde von den kleinen Angestellten der Apotheke dazu nicht gesprochen. Doch ersetzte auch hier das Wort "tätowiert" eine ganze die betroffene Person beschreiben sollende Geschichte. Als ich wieder kam, war die Magistra in den Pensionsstand übergetreten. Die ihr zugefügte Markierung hatte ich nie gesehen.

Ein Dezennium später stand ich selber im Beruf. Inzwischen starker Haschischraucher geworden, kaufte ich bei günstiger Gelegenheit eine größere Mengen des gepressten Harzes und gab es zu günstigem Preis an Bekannte weiter, wobei ich mir dennoch selbst der beste Kunde blieb. Seitens des amtlichen Arbeitsgebers hatte ich ausgezeichnete Dienstbeschreibungen. Rauchen war für mich alltägliche Normalität geworden. Umso einschneidender die Überraschung, als mich eines Tages drei Zivilpolizisten vom Arbeitsplatz weg verhafteten. Erst sechseinhalb Monate später kehrte ich wieder heim.

Im Häfen (Knast, Gefaengnis) verbrachte ich eine Lehrzeit, während der mir viel von dem, was ich draußen an Hierarchien, aggressivem Umgang der Menschen miteinander und feigem Konformitätsverhalten um geringer Vorteile willen stets gehasst hatte, in sehr konzentrierter Form vor Augen lag. Nur steckte ich jetzt ohne Fluchttürchen mitten drin. Über all den genannten Widerlichkeiten lastete zugleich eine Atmosphäre der Armseligkeit und Bedrücktheit, welche von einer im Sinne des Wortes e n t s e t z l i c h e n Lächerlichkeit war. Nichts beispielsweise ist armseliger, als einen im ganzen Lande schon zu Lebzeiten legendären Gewaltverbrecher, ein Hüne von Gestalt, in der Inquisitenkirche als Ministranten dienen zu sehen, im gestickten weißen Kleidchen sich knieend bekreuzigen oder den Weihrauchkessel schwenkend Frommes murmelnd, indes die Gefangenen, außer zu den tränendrückenden Festtagen, sich einzig hereinbringen hatten lassen, um den Wänden der eigenen Zelle zu entkommen und ein paar andere Gesichter zu sehen oder per Zeichen Mitteilungen von Dritten an bestimmte Leute weiter zu geben, während in der letzten Reihe die Wachebeamten vor sich hindösten. Der Hüne hatte schon neun Jahre hinter sich und noch einige vor ihm. Vollführte er die kirchlich vorgeschriebenen Rituale, verrutschten die spitzenbesetzten Ärmel des Ministrantenkleides und öffneten die Sicht auf ein dichtes Muster von Tätowierungen, deren größtes Faszinosum für die Gefangenen einen fragmentarisch freiliegenden nackten Frauenkörper darstellte.

In dem Stockwerk, in dem ich lag, waren lauter Einmann-Zellen, etwa 7 mal 2 Meter groß. Wegen Platzmangels waren sie mit je drei Personen besetzt. Man saß den ganzen Tag da und wartete auf die Essensausgabe, zu der die Tür aufging und ein Faci (Hausarbeiter) , hinter dem stets ein Beamter stand, das Essen austeilte. Die Facis waren fast alle tätowiert, zumeist auch an den Handrücken. Insgesamt aber überwog die Anzahl der untätowierten Insassen. Vielleicht fielen die Hautbilder der Facis deshalb eher auf, weil bei der Ausschank des Essens und dem Hantieren mit dem Schöpflöffel insbesondere die Hände ins Blickfeld geraten. Einer persönlichen Empfindung gegenüber den Facis und damit auch irgendwie den Tätowierten gegenüber konnte ich mich nicht enthalten: Ich hegte eine gewisse Verachtung, dass Menschen für jene, die sie einsperren und über den Vollzug ihrer Unfreiheit wachen, freiwillig arbeiten. Da sieht man, dachte ich, dass Stärke und Festigkeit signalisieren sollende Äußerlichkeiten eben doch nur als Äußerlichkeiten zu bewerten sind und nichts über den tatsächlichen Charakter des Trägers aussagen. Solche Gedanken fochten die Leute aus dieser Art Gegenwelt nur wenig an. Sie nützten eifrig die Gelegenheit Geschäftchen zu machen.

Es war kalte Jahreszeit, beim Spaziergang befanden sich die Häftlinge in voller Kleidung. Hingegen begegnete man sich beim wöchentlichen Brausebad nackt. Ein Beamter, der öfter Gruppen zum Duschraum leitete, hatte das goldene Rettungsschwimmerabzeichen in Großformat an die Uniform gesteckt. Gut ein Viertel der duschenden Häftlinge hatten dafür ihre unabnehmbaren Tattoos am Körper. Diese Zahl entspricht etwa der Durchschnittszahl, die auch für Deutschland ermittelt wurde (vgl. Katterbach 1969: 16). Der Schätzwert für die tätowierten Zivilisten betrug damals 4,3 Prozent. Die meisten in Wien Einsitzenden mit Hautbildern besaßen mehrere Peckerl.

Diese Beobachtung liegt dreißig Jahre zurück. Ich kontaktierte jüngst einen Mann, der viermal eingesessen hatte, davon zweimal während der 70er Jahre. Gerhart, der Wert auf das Aussprechen des harten T in seinem Vornamen legt, ist ein typischer Vertreter der Tattoo-Träger jener Zeit, was die Motivwahl anbelangt. Obwohl er in seinem Leben viele Sträusse mit den Fäusten ausgefochten hatte, war er nie wegen Gewalt, vielmehr jedesmal wegen seiner nicht nachgekommenen Alimentationszahlungen verurteilt worden. Er erwarb die ersten drei Tätowierungen mit 22 Jahren während seiner ersten Haftstrafe. Das waren ein Anker am Oberarm, ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen an einem Schulterblatt und, großflächig, eine nackte Frau am Rücken. Alles von Zellengenossen mit Nadel und Tinte händisch gestochen. Der Vorgang habe nicht so weh getan. Der Adler war für ihn ein Freiheitssymbol - und wäre es weiterhin, wenn der Mann nicht dieser Tage an seinen Leberwerten und anderen unreparablen Erscheinungen exzessiven Alkoholkonsums das Zeitliche gesegnet hätte. Der Erwerbsgrund? "Uns war ständig fad, wir haben so viel Zeit gehabt." Eine Motivation für das Tätowieren, welche Rainer Katterbach in seiner groß angelegten Studie zu Hautbildern von Gefangenen markant oft von den Probanden vernahm (vgl. Katterbach, 1969: 100). Für die Ersthaft vordringlicher schien mir jedoch Gerharts zweite Begründung: Er wollte den starken Kerl markieren. Seine Worte: "Schaut mich an, mit mir braucht sich keiner anzulegen." Obwohl nur ein Alimente-Heini, sei er mit seinen Bildern tatsächlich respektiert worden. In der zweiten Haftzeit kam eine gesprengte Kette auf den anderen Oberarm, unter dem Anker ließ er sich ein Segelboot stechen, der freie Unterarm wurde mit einem blutenden Herzen verziert. Die dritte Haft nützte er zur Anbringung eines von einer Schlange umwundenen Dolches an der Unterarmaußenseite, und am Oberarm fand er noch Platz für einen Drachen. In der vierten Haftzeit wollte er von neuen Tätowierungen nichts mehr wissen. "Eigentlich hätte ich das alles nicht gebraucht", sagte er zuletzt. Elsa, seine Lebensgefährtin, erzählte, er wäre bis sie sich kennen lernten selbst im Hochsommer mit bis oben zugeknöpftem Hemd gegangen. Sie sei die erste Frau in seinem Leben gewesen, die ihn nahm, wie er ist, und nicht weil er gepeckelt war oder nicht. Nein, erotisch finde sie Hautbilder tragende Männer nicht, aber es sei deren Problem, was sie mit ihrer Haut anstellten. Sie kenne einen älteren Mann, der ist über und über tätowiert, obwohl er nie in Haft war. Der sei geradezu süchtig und finde immer noch Plätze auf seiner Haut für Tätowierungen. Alle meinen, dass der einmal ersticke.

Wissend um die Wichtigkeit der Hautatmung, konsultiere ich einen pensionierten Dermatologen, welcher in den 70er Jahren im Rahmen eines Resozialisierungsprojekts Häftlingen auf Basis der Freiwilligkeit ihre Hautbilder entfernte. Setzt beim Volltätowierten die Hautatmung teilweise aus? Die Frage konnte er nicht beantworten. Ganz würde sie sicher nicht verhindert, denn sonst würden die Leute ersticken wie jene Menschen, deren Haut man einst mit Gold überzogen hatte. Und wie ist das mit den Haaren, wachsen die auf den gestochenen Flächen nach? Bildet sich doch die Mehrzahl der stark tuenden Männer ganz schön was ein auf ihre "Wolle" über der Brust und zuweilen auch am Rücken. Er könne sich an keinen auffälligen Haarwuchs erinnern, sagt der Dermatologe, die Nadeln zerstören ja die Wurzeln der Haare. Aufhorchen und mich an die oben erwähnten Kirchgangszenen denken ließ mich die Feststellung des Arztes, dass es Häftlinge gegeben habe, die sich ein Hautbild entfernen ließen und einen Monat darauf schon wieder kamen, um sich ein neues Peckerl wegmachen zu lassen. Wollten die aus der Enge des Gefängnisses raus, gewissermaßen wie zum Genusse einer kleinen Reise, oder versuchten sie mögliche Fluchtgelegenheiten auszubaldowern? Die Häftlinge hätten nie viel gesprochen, sagt der Dermatologe, er vermute aber, es steckte die Abwechslung dahinter.

Eine einzig mit Zahl, Größe oder Themen der Hautbilder korrelierende Rangordnung bzw. praktizierte Hierarchie, habe ich in der Haftanstalt nicht beobachtet. Vielleicht war es nur mein Problem, aber ich hatte den Eindruck, auch die anderen Insassen begegneten solchen Häftlingen, die im Gesicht ausgedehnter tätowiert waren als nur mit dem öfter gesehenen Zuhälter-Punkt, mit ausgewählter Vorsicht. Die Handvoll derart Tätowierter vermittelte optisch den Eindruck einer bedrohlichen Rigidität in Sachen Kampfbereitschaft. Einmal ward ich beim Runden-Drehen im Hof Zeuge, wie so einem im Gespräch mit einem Mithäftling der Zorn ankam und er sein Gesicht entsprechend verzog. Es strahlte umgehend Hass aus, mutierte zur hinterhältig lauernden Fratze, die von der vorschnellenden Faust ablenkte. Zum Glück waren die Wachebeamten zur Stelle. Wie so ein Mensch je die Geduld aufbrachte, die Fertigstellung einer Tätowierung zu erwarten, blieb mir ein Rätsel.

Alles in allem stellten weder in der Untersuchungs- noch in der Strafhaft das Tätowieren und die Hautbilder ein dominantes Gesprächsthema dar. Das mochte an der gewohnheitsmäßigen Präsenz dieses Phänomens gelegen haben und atmosphärisch auch im Schweigen der diesbezüglich statuslosen Nicht-Tätowierten begründet gewesen sein. Jedenfalls ist von keinen Sensationen zu berichten, wie man sie erwarten würde, wenn man sich einige Zeit ausschließlich in einschlägige Magazine, Aufmerksamkeit heischende Zeitungsartikel oder das Thema fokussierende Fachlektüren vergrub. Nicht ein Häftling hätte einem Schausteller zur Freude gereicht. Keine Sensationen, letztlich nur die Banalität des Lebens in der Enge des Gefangenenalltags. Im Laufe von Monaten aber stand das Thema dennoch wiederholt im Raum, im Haftraum, und war ortsspezifisch auf vielfältige Weise mit Kriminalität und ungedeihlichem Aufwuchs verknüpft (vgl. Katterbach 1969: 32ff; Riecke, in Kozak 1998: 24).

Jentschi lernte ich als ersten Zellengenossen kennen. Einmal fiel er unliebsam auf und wurde von einem Beamten als Mini-Zuhälter betitelt. Das schmerzte ihn mehr als ein Fußtritt in die Hoden. Anscheinend zwanghaft musste er fortwährend das Male-Chauvinist-Pig hervorkehren, in Rede und Körperhaltung. Das Verachtungswürdigste in der Welt waren für ihn die Weiber. Einige Male kam die Rede auf die Kindheit. Drangen wir tiefer ins Gespräch, begann er sich emotionell und körperlich zu winden wie ein Kind, das etwas sagen möchte, was nicht raus kann. In der rückständigsten ländlichen Gegend Österreichs aufgewachsen trieb er bereits mit sieben Jahren allein die Kühe zum vier Kilometer entfernten Schlachthof. Seine Mutter war Trinkerin. Seine Schwestern taten nie, was er in Vertretung des schwächelnden Vaters befahl. Nach zwei Entzugsaufenthalten verschwand die Mutter auf Nimmer-Wiedersehen. Tage später fuhr ein Auto vor den Hof. Eine Frau Fürsorgerin mit dem Chauffeur als Helfer stieg aus und nahm ohne viel Erklärung die Kinder mit. In der Fürsorgestelle wurden sie getrennt und in unterschiedliche Heime verbracht. Als Ausreißernatur hätte Jentschi sich bald zum Sorgenkind der Heimleitung entpuppt. Zweimal wurde er in eine je strengere Anstalt eingewiesen. Zum Schluss befand er sich unter Gleichwertigen. Da her habe er seine Tätowierung. Sie bestand aus den drei Punkten. Im ersten Schmalz sei dann der Zuhälterpunkt am Jochgbeinbogen hinzugekommen.

An dieser Stelle der Erzählung schlug sein Tonfall jedesmal wieder in als solche betrachtete männliche Festigkeit um. Ansonsten wollte er keine Hautbilder, denn er lege Wert auf einen makellosen Körper. Den brauche er als Zuhälter. Er wolle expandieren, ein Großer werden. Sein derzeitiges Mädchen habe er hart aber gerecht zugerichtet, mehr Peitsche als Zuckerbrot, wie die Weiber das eben verlangten.

Mir brachte er als wichtigste Regel in der Haft bei, sofort alles von draußen zu vergessen. Es fiel Jentschi nicht auf, dass er täglich zitterte, seine Freundin könnte ihn verlassen, während er einsitze, ein anderer könnte schon die Hand über sie halten, wenn er rauskomme. Dabei schwankte er zwischen dem Verfluchen aller Frauen und dem unbeholfen kindlichen Formulieren romantischer Episteln an seine Dirne. Die eingestochenen Punkte jedoch signalisierten einen anderen Menschen.

Ein anderer Häftling aus dem selben Stockwerk sprach beim Spaziergang gerne Insassen an, fragte sie nach dem Grund ihres Hierseins, nur um sie gleich mit einem Redeschwall zu überschütten, bei dem ihm das Vorweisen einer Porträt-Tätowierung eines asiatisch aussehenden Mannes mit Messer im Mund das wichtigste zu sein schien. Er sprach von ungeheuer viel Geld, das seinen Fall zu einer Staatsaktion mache. Er dürfe aber nicht darüber reden, betonte er geheimnisvoll leiser werdend, um jedesmal hinter vorgehaltener Hand mit dem Wort Mafia zu enden. Seine Wichtigtuerei war offensichtlich.

Schließlich zwang uns der Weiße allabendlich mit ihm zu boxen. Von ihm behauptete der Stockchef bei einem Beschwerdeversuch meinerseits, den besten Eindruck zu haben. Dagegen sei ich mich mit meinen unwahren freiwillige Ertüchtigung weder kanalisiert noch gemindert. Eines Tages, der Weiße und Rudi konkurrierten gerade, wer mehr Whisky-Marken kenne, riss dem Weißen die erzieherische Geduld. Er packte Rudi am Arm. Er würde ihn jetzt zum Manne machen, damit ihm alle Häftlinge Respekt entgegenbrächten, denn Rudis Lächerlichkeit schade dem Ruf unserer Zelle und färbe somit auf uns alle ab. Sein Vorschlag: Rudi braucht eine anständige Tätowierung. Rudi war ohne Zögern einverstanden. Der Weiße langte nach meinem Schreibheft, welches mir Tage zuvor der Stockchef mit der Bemerkung "aber wenn ich drin Peck-Vorlagen find`, ist das das letzte Heft, das du ´kriegt hast" ausgehändigt hatte. Wegen genau dieses Vorhabens des Weißen mein Schreibrecht nicht zu verlieren, um das ich so lange vergeblich angesucht hatte, entriss ich ihm die Schreibutensilien - überraschenderweise ungestraft. Am nächsten Morgen bestellte Rudi auf Geheiß des Weißen ein Nähzeug. Der Weiße hatte beim Spaziergang einen Kugelschreiber mit voller Mine gegen einen Teil der wöchentlichen Kaffeeration eingetauscht, die er als reine Kapitalanlage ausspeiste, ohne sie zu konsumieren. Dem Geschäftssinn des Tätowierers entspricht hier der Machtsinn des Quälers.

Der Vorlagen-Katalog befand sich in zwei unterschiedlichen Gehirnen, die seit Wochen aneinander vorbeiredeten und selbst bei geicher Wortwahl nie dasselbe meinten. Unter den schlechten Lichtverhältnissen des Haftraums, ohne Vorzeichnung auf der Haut, ohne Abrasieren der Haare, sogar ohne Abwaschen der angepeilten Hautstelle fing Rudis Initiation an. Stecher und Proband positionierten sich so, dass vom Guckloch her das Vorgehen nicht einsichtig war und bei Ertönen des Schlüssels im Schloss genug Zeit blieb, Rudis Hemdärmel unauffällig zurecht zu schieben. Rudi zog die seltsamsten Gesichter, riss mehrmals den Arm zurück, forderte aber, wenn ihm der Weiße eine Pause vergönnte, selbst die Weiterarbeit, jaulte manchmal so, dass man es am Gang hören hätte müssen. Meist aber manifestierte sich sein Schmerz durch kehliges Pressen von Luft aus Mund und Nase des vom Unterarm abgewandten rot angelaufenen Hauptes. Zwar sollte es eine Überraschung werden, aber bald war ersichtlich, dass der Weiße ihm ein Herz stach.

Selten war der Weiße so entspannt wie beim Einstechen der mit Bindfaden umwundenen Nähnadel in Rudis käsigen Hautteint. Ohne Angeberei, sondern mit ehrlichem Stolz berichtete er unterdes von den SS-Runen und anderen einschlägigen Zeichen, die sein Vater und zwei seiner Onkel sich bis heute nicht hätten wegmachen lassen. Er sprach, als übertrüge sich dadurch ein Adel auf ihn selber. So ging es zwei Tage lang, denn der Weiße befand es für notwendig, nachzustechen, da Rudi durch das viele Zucken und Wegziehen des Armes gleichmäßiges Stechen vereitelt habe. Des öfteren musste er Blut wegwischen, was mit einem Stück Stoff, dem sogenannten Wix-Fetzen Rudis, geschah. Zum Schluss hatte der ein unansehnliches, unregelmäßig ausgefülltes und von einem unverhältnismäßig langen Pfeil durchbohrtes Herz mit konfettihaften Blutstropfen auf seinem inneren Unterarm. Rudi war endlich wer, wie er glaubte. Er kam sich richtig anrüchig vor. Im Hof wies er die Auszeichnung seiner Zugehörigkeit ein paar Häftlingen vor. Die jedoch lachten schallend und interpretierten die Tätowierung als genauso jämmerlich wie ihren Träger. Er solle das Krixi-Kraxi verdecken und ansonsten nur Seinesgleichen anreden.

Verzweifelt wandte sich Rudi an den Weißen. O.k., schloss der, noch sei Zeit, das Peckerl zu entfernen. Wir hatten ausreichend Salz im Haftraum. Der Wix-Fetzen wurde ein paar mal unter dem verfügbaren Kaltwasserstrahl durchgedrückt, zum Trocknen aufgehängt. Neuerlich machte der Weiße sich unter ständiger verbaler Herabwürdigung Rudis an die Arbeit. Der litt unter ärgsten Schmerzen, da ihm der Weiße buchstäblich die Haut wegrieb, die er so wie bei der Auftragung des Bildes selbst mit der anderen Hand spannte. Schließlich brach er aus eigenem die Behandlung ab. Teile der Tätowierung blieben sichtbar. Beim abendlichen Boxen, versprach der Weiße, würde er nicht auf diese Stelle zielen. Das hielt er bis auf Zufälle ein, die den Rudi halb irrsinnig machten. Bald machte ihm das Training auf diese Art keinen Spaß mehr. Rudi litt still vor sich hin und hatte beim wöchentlichen Duschgang größte Sorge aufzufliegen. Jedoch blieben Eiterungen oder sonstige Infektionserscheinungen aus. Mit mir allein zu boxen war für den Weißen unter seiner Würde. Er steigerte seine verbalen Aggressionen. Mehrmals begab sich, dass er nachts im Schlaf Mama rief. Es war besser, ihm das nicht zu sagen. Immerhin lautete eines seiner Peckerln: Al Capone.

Nach meinem Schuldspruch wechselte ich in die Strafhaft und begegnete den beiden Mithäftlingen niemals wieder. Das Gerede von SS-Tätowierungen hörte ich auch von anderen Häftlingen. Häufiger aber kam es vor, dass bestimmte Hautbilder angeblich aus der Fremdenlegion stammten. Hinter dem Rücken derer, die das behaupteten, wurde am Wahrheitsgehalt eher gezweifelt. Ein Legionärsgrab sei noch lange kein Beweis.

Ein Mann aus der Strafe erscheint mir hinsichtlich des Hautbild-Themas noch bemerkenswert: Joe, Rächer der Gerechten, ein sogenannter schwerer Bursche. Er absolvierte diesmal einen Dreier (drei Jahre Haft) . Von der Physiognomie her hätte er einen Idealtypus für Cesare Lombroso dargestellt. Auf beiden Armen hatte er den Totenkopf mit gekreuzten Knochen. Er trug den Galgen nebst einer Banderole, auf der Morituri Te Salutant stand. Er wusste was das heißt. Joe war äußerst belesen und ein guter Erzähler, der seine Pointen geschickt auswählt. Umso einfältiger fand ich, dass er am Rücken Charles Bronsons Porträt trug. Er sei gar nicht mehr für das Tätowieren, sagte er, aber sein Leben sei nun einmal so wie es ist, ohne Zurück, und drum gelten für ihn die alten Regeln. Jedoch habe er einen Neffen, der seine, des Rächers, Tätowierungen bewundere. Der sei für ihn wie sein eigenes Kind. Er nähme ihn manchmal zur Seite, lege ihm dar, wie es zu den Bildern gekommen sei, und versuche ihm beizubringen, dass einer wie sein Onkel gute Seiten besitze, jedoch den falschen Weg gewählt habe, welchen er, der Bub, niemals einschlagen dürfe. Viel habe Joe mit dem Jungen schon geredet und, wie er glaubt, auch Gutes in ihm in die Wege geleitet. Jedoch sähen es die Schwester und deren Mann nicht gern, wenn er, der Zuchthäusler, mit dem Kind gemeinsam etwas unternehme. Es wären gar nicht die Untaten, die sie ihm vorwerfen oder seinem Neffen verschweigen. Sie wollen nur nicht, dass der Bub mit einem Tätowierten gesehen werde. Nahm Joe den Hafttrott gelassen hin, so versetzten ihn die Gedanken an sein Patenkind jedesmal in tiefe Trübsal. Joe suchte nicht um Haftverkürzung an. Sein Motto hieß: Der gute Häftling sitzt sein Schmalz aus, geht Heim und kommt wieder.

Draußen nahm er mich dann einmal in seine Kreise mit, alles starke und ähnlich wie Joe gepeckelte Männer. Der Alkohol machte die Leute heiter, eine Stimmung, die sie zum Anzetteln von Raufereien mit wildfremden Passanten anregte. Von dem Neffen und guten Werken an ihm war keine Rede mehr. Einem ägyptischen Rosenverkäufer schnitt Joe die Blütenköpfe von den Stengeln, zur Strafe, wie alle einhellig zustimmten, weil er tätowiert sei. Die ägyptischen Rosenverkäufer in Wien, hatte ich einmal gehört, sollen durchwegs koptische Christen sein, die ihr Zeichen, das Kreuz mit den Ausbuchtungen an den Enden, als Hautbild am Unterarm nahe dem Handgelenk tragen.

Erneut ein Zeitsprung: Die Jahre um 1990. Ich hatte mich in der Zwischenzeit intensiv mit inoffiziellen An-, Auf- und Inschriften beschäftigt, hauptsächlich mit Wort-Graffiti sowie einfachen Zeichen und Zeichnungen an Wänden und Flächen im öffentlichen Raum. Zu ihnen zähle ich als Randbereich auch Tätowierungen. Nahe meinem Wohnort hielt ich mich öfter in einem sehr billigen Lokal auf, wo ich die Serviererin kannte, die mir manchmal meine Konsumationen gratis durchgehen ließ. In dem Lokal verkehrten überwiegend Männer vom Schlage unantastbar, da unüberwindlich, durchwegs feste Trinker, durchwegs Ex-Häftlinge und weiterhin Strafgefährdete. Sie waren alle bewaffnet. Ihre Tätowierungen, handgestochen, zeigten die alten Motive. Einer hatte Doc Holiday und Wyatt Earp als Heroes eingestochen. Ob die in Natura dem Peckerl glichen, konnte er nicht sagen. Die Leute in diesem Lokal über ihre Tätowierungen zu befragen, war unmöglich. Man hatte nichts zu fragen. Es herrschte die Pose wie bei der Polizei oder vor Gericht: Die Fragen stellen wir!

Im Tagesgetriebe der Stadt fehlten solche Leute schon wegen ihres Lebensrythmus. Normgerecht lebende Menschen wussten nur von ihrer Existenz. Bei ihnen liefen sie unter lichtscheues Gesindel. Einziger Kristallisationspunkt tagsüber war für die starken Männer und die Lebensgefährtinnen der wenigen, welche eine hatten, einmal im Monat das Sozialamt des Bezirks. Keiner von ihnen hatte reguläre Arbeit. Wenn sie nicht vom Alkohol verhindert oder in auftragsschädlichen Ruf geraten waren, pfuschten einige an Privatbaustellen. Sie hatten ihren sehr bürgerlichen Bedürfnissen und Wünschen gemäß Geldprobleme, waren aber nie völlig ohne Geld. Schuld an allem seien natürlich die verhassten Ausländer. Wählen? Nur den Haider! Aber, getraute ich mich einzuwerfen, wenn der an die Macht kommt, richtet er für euch doch Arbeitshäuser ein. Ein Grinsen meines Gesprächspartners von oben herab: "Im Schmalz kann mir keiner was vormach`n, dort bin ich Kaiser." Das einzige Mal, dass bewusst ein Ärmel aufgekrempelt wurde. Der freigelegte Arm ließ nicht wenige auf Gewalt anspielende Tätowierungen am ganzen Körper vermuten. Doch die Hände des Gesprächspartners waren von Bildern oder Zeichen frei. Er sei ja ein Herr, sagte er. Dann wandte er sich der kleinen Pistole eines anderen Gastes zu. Sein Zeigefinger war zu muskulös, um zwischen Abzugshahn und den umgebenden Bügel zu passen. Wieder das Lächeln: "Willst` damit kleine Kinder sekkieren?"

Im Allgemeinen aber wollten die Herren ihre Ruhe haben. Die Mehrheit war zwischen 35 und 55 Jahre alt. Junge, die ins Lokal kamen, waren nicht gern gesehen. Die glauben noch, weil sie über und über gepeckelt sind, sind sie schon wer, weihte man mich ein. Die wollen sich einen Namen machen. Fordern dich mit blöden Bemerkungen heraus. Wenn du so einen nur auf den Schädel haust, kriegst` wegen deiner Vorstrafen gleich einen Sechser; selber riskieren die ja nichts ... Überhaupt, man sei schon schmalzmüde ... nach jedem Schmalz habe man zwar ein schönes Peckerl mehr, aber man werde doch auch zunehmend schmalzwarm . "Na, schreibst` mir halt wieder schöne Brief``", fällt die Lebensgefährtin des Gesprächspartners ein, "von denen hab ich mehr als von dir und deine Bilderln am Bauch".

Es verhält sich seltsam mit dem Schreiben und Zeichnen im Gefängnis. Die Beschäftigung der Einsitzenden mit sich selbst ist in der Enge und Einsamkeit des Haftraums ein unausbleibliches Phänomen. Nichts könnte fruchtbarer sein als diese Zurückgeworfenheit auf sich selbst; nichts aber ist zugleich erschreckender als den eigenen inneren Status Quo entdeckend zu betrachten, ohne sich umgehend geistig aus dem Staub zu machen.

Auffallend oft greifen Häftlinge zu Feder oder Zeichenstiften. Schreiben und bildnerisches Darstellen treten bei manchen Gefangenen in den Vordergrund, spontan und rasch vorübergehend in der Regel, dauerhafter bei einigen, mitunter zur Manie geratend bei wenigen. Abhängig ist dies von der Toleranz der Mithäftlinge ebenso wie von der Schreib- oder Zeichenmächtigkeit des Agierenden, primär aber von dem Willen und der Fähigkeit, sich mit sich selber auseinander zu setzen. Die Anzahl begonnener Autobiographien und Zeichenzyklen in Haftanstalten ist ungezählt. Nur ein Bruchteil der Arbeiten jedoch gelangt über das Anfangsstadium hinaus. Selbst das Verfassen von Briefen scheitert nicht selten an mangelnden Grundkenntnissen zur Ausübung der Kulturtechnik konsistenten Schreibens. Was sich anbietet ist die schriftliche Kurzform, sind die Graffiti, die zumeist in dieser Form gehalten sind. Gerade in der Gefangenen-Situation haben Graffiti und Tätowierungen einiges gemeinsam. Selbst- und Fremdtätowieren sind hier verboten. Es ist, als sei die eigene Haut eine nicht im eigenen Besitze stehende Fläche. Graffiti als Tätowierungen der zweiten Haut des Gefangenen, nämlich der Wand, sind ebenfalls nicht gestattet. Folgendes Bild habe ich aus eigenem Erfahren noch gut im Gedächtnis: Wegen eines mir fälschlich zugeschobenen Disziplinarvergehens kam ich während meiner Strafhaft in die Korrektionszelle, in den Keller. Täglich erschien dort ein Beamter, wollte mein Geständnis und meine Unterschrift unter das aus seiner Sichtweise geschriebene Protokoll. Ich verweigerte beides. Nach vier Tagen betrat er die Isolationszelle, in der aber nichts anderes vorzufinden war als ein Klappbrett zum Sitzen und eine Holzkiste, welche den Notdurfteimer mit einer bestialisch stinkenden chemischen Flüssigkeit beherbergte.
Doch der Beamte inspizierte die Wände. Ich würde hier so lange bleiben, bis ich unterschreibe, warnte er mich, und sollte mir einfallen, etwas in die Wand zu kratzen, stelle er mir zusätzlich noch das Ausmalen des Raums in Rechnung. Was er übersah, war ein auf den Deckel der Holzkiste eingeritztes Mühlespiel. Mit zurecht gerissenen Schnipseln eines Zettels, den ich beim Spaziergang auflas, konnte ich mir die Absonderung psychisch beim Spielen gegen mich selbst erleichtern.

Schon seit den Tagen der ältesten Definition des Begriffs Graffito/Graffiti gelten neben anderen Kriterien folgende als charakteristisch: Sie "sind, je nach momentaner und plötzlicher Emotion, an Wände aufgetragen worden, sei es dass der Schreiber irgendjemandes Verhalten öffentlich aufzeichnen wollte [...], sei es, dass er das, was seinen Sinn in Aufregung versetzte, durch Anschreiben an die Wand ableitete und nicht, um das, was er schrieb, anderen zum Lesen vorzusetzen." (Zangemeister 1871: V) Bedenkt man das seelische Auf und Ab im Leben eines gefangenen Menschen (vgl. Petrikovits 1923: X), wird durchsichtig, dass und warum Graffiti von Häftlingen zahlreicher produziert werden als Hautbilder. Doch sie werden auch leichter von den Beamten entdeckt, z.B. beim Zellenfilz. Ausgewichen wird daher an Wände in Durchgangszellen, die von vielen Gefangenen frequentiert werden, wie beispielsweise der den Duschen benachbarte Umkleideraum oder der große, dem Halbgesperre angegliederte Raum, in dem die Häftlinge gleichsam geparkt werden, bevor man sie dem Untersuchungsrichter oder dem Anwalt zuführt.

Mitte der 90er Jahre kam ich aus wissenschaftlichen Gründen beim zuständigen Hofrat im Innenministerium um die Erlaubnis ein, Gefängniszellen auf inschriftliche Hinterlassungen von Häftlingen zu untersuchen. Mit der vordergründigen Argumentation, der Hofrat hätte viel nachgedacht, aber es gebe keine Graffiti inunseren Gefängnissen, wurde mein Ansinnen nach etwa zwei Monaten mündlich abgelehnt. Jedoch fügte es sich eines Tages, dass ich wegen Radfahrens in der Fußgängerzone bestraft wurde - und sogleich den alternativen Ersatzarrest an Stelle der Geldstrafe wählte.

Gefangenenabgabe steht an der Tür, ab welcher man nicht mehr Herr seiner selbst ist. Bereits die Zugangszelle, in der man sich auskleidet und sein Zeug zum Durchsuchen auflegt, offenbart ein Bild, das betreten macht. Schätzungsweise fünf Minuten hatte ich Zeit gehabt und 38 lesbare Botschaften gezählt, männlicher und weiblicher Urheberschaft, in rumänischer, polnischer, chinesischer bzw. japanischer, arabischer und deutscher Sprache, in lateinischer, chinesischer bzw. japanischer, arabischer und kyrillischer Schrift. Die Worte Deport und Deportation sprangen vielfach ins Auge, weiters Grüße, Daten und Namen. Durch Scheibenspiegelung nahm ich wahr, dass in den beiden anderen, dem selben Zweck dienenden Zellen die Wände gleichfalls mit Bleistift oder Kuli vollgeschrieben sind. Die Botschaften auf dem Sitzbrett, das im Gegensatz zum Anstrich der Wand selten erneuert wird, waren derart ineinander verflochten und einander überlagert, dass ich sie in der kurzen Zugangszeit nicht zu entziffern vermochte.

In eine Ein-Mann-Zelle eingeschlossen waren mir 60 Stunden zur Spurensuche vergönnt. Die starke migrantische Präsenz in dieser Anstalt schlägt sich auch in den Hafträumen nieder. Die an der Innenseite der Türe befestigte Hausordnung zu lesen - ein Ding der Unmöglichkeit. Kein Satz, der nicht durchgestrichen oder mit Namen überschrieben war. Beim Überziehen des Bettes bleibt mein Blick an einem Block chinesischer Zeichen in Kopfpolsterhöhe hängen, mit rotem Kuli akribisch aufgetragen. In der Finsternis des nur von einer eingegitterten Funzel beleuchteten Raumes bedurfte es des ganzen nächsten Vormittags, bis ich die komplizierten und durch Unebenheiten des Anstrichs stellenweise verzerrten chinesischen Zeichen in meinen Block übertragen hatte. Später konnte sie ein Bekannter, der Chinesisch lernt, nicht übersetzen und meinte, es wären japanische Zeichen, die ganze Sätze bildeten und nicht irgend Schmuckzeichnungen sind.
Die Essensausgaben bescherten mir ein Deja-vue-Erlebnis. Ein viertel Jahrhundert nach meiner Strafhaft waren es sogar im Arrest immer noch die bis zu den Händen tätowierten Facis, die für die Beamten arbeiteten. Im Haftsystem scheint sich nicht viel zu ändern, kein Wunder, dass so auch die Knast-Tätowierungen überleben.

Ein Glücksfall für meine Zwecke war, dass der wöchentliche Duschtermin in meine 60 Stunden fiel. Langsam schleiche ich an den geöffneten Zellentüren vorbei und kiebitze konzentriert. Nur ein Raum war ohne Graffiti. In einer Zelle nehme ich größere Zeichnungen wahr.

Die Nackten im Duschraum schäumen sich ein, als hülfe Seife gegen alles. Vor mir habe ich zwei Varianten mobiler Graffiti: Schlicht gefertigte Peckerln bei den älteren, mehrfarbig professionelle Tattoos abseits jeglicher Häfenpeckerl-Emblematik an den jüngeren Insassen. Zweitere stammten gewiss nicht aus dem Gefängnis, außer es gäbe dort mittlerweile Maschinen. Mehr als ein Drittel der etwa 20 Männer war tätowiert. Die traditionell üblichen Tätowierungen scheinen auf dem Weg zum musealen Bereich zu sein. Die neuen, dekorativen Tätowiermuster hatten ungefähr die Hälfte des Erscheinungsbildes erobert. Außer Acht darf allerdings nicht gelassen werden, dass insgesamt die Zahl der jüngeren Männer bis zum geschätzten Alter von 28 Jahren überwog. Die Tendenz in ihrer Sprache unterschied sich kaum von jener in der Strafhaft der 70er Jahre. Die Ausländer, die in einem anderen Stockwerk konzentriert waren, trugen, so weit sichtbar, eher öfter Tätowierungen.

Die Bedeutungen einiger weniger unkünstlerischer Hautbilder als codierte Botschaften für Gleichgesinnte dürften aufrecht geblieben sein. Die Drei Punkte, welche in Österreichs Kriminellenkreisen nichts gesehen, nichts gehört, nichts gesagt symbolisieren, trugen selbst Junge. Doch schon die Träne neben dem Augenwinkel, das Ertragen von Schmerz bezeugend (vgl. Girtler 1995: 65), war hierorts nicht aufzuspüren, nicht anders als der den Strizzi kenntlich machende Punkt auf der linken Wangenseite. Meine damalige Beobachtung in einem ebenfalls meinem Wohnort naheliegenden Lokal, ergab, dass heutzutage ein erfolgreicher Zuhälter sein Äußeres sehr narzisstisch pflegt. Und die kleinen Strizzis ahmen ihn nach, so wie ihre Vorgänger-Generation ihre Zugehörigkeit und Konformitätstauglichkeit durch die rohen Hautbilder bewies (zur wesentlichen Bedeutung der Nachahmung vgl. Friederich 1993: 31, 47 u. 275; Katterbach 1969: 91f u. 97; Spamer 1993: 94 u. 96; Kozak 1998: 55f u. 64f). Immerhin ist es die Zeit der Massenmedien und des Selbstdarstellungszwangs in ihnen. Porno-DarstellerInnen und Nobel-Zuhälter sind gesuchte Gäste in Talk-Shows und gelten für nicht Wenige als Maßstab setzend, sofern sie besonders smart oder ganz besonders bizarr aussehen, was u.a. durch sehr professionelle und individuelle Tattoos vermeintlich vorgelebt werden kann. Zur Zeit meiner 60 Stunden war das Stadtbild geprägt von den vielen schillernden Jogginganzugstypen, die zu dieser Zeit immer selbstsicherer mit ihren Halsketten, Brazeletten und gelb gefärbten Haaren auftraten, mit gestauter Luft im Brustkorb und einer Denkleistung, die der des mitgeführten Rottweillers selten entsprach. Unverhältnismäßig viele dieser Leute trugen kleine professionell gestochene Tattoos, und sie trugen sie unverdeckt. Wer in ihren Wohnvierteln zu Hause war, wusste, aus welchen Menschen sich die Haider-Partei nunmehr so breit speiste.

Doch blicken wir nochmals auf die Graffiti. Dass ihre Funktion für Häftlinge weit über jene des Kalender-Zeichnens in der eingangs erwähnten Karikatur hinausgeht, ist in die Zeittiefe beweisbar. Von den Inquisitionsgefängnissen beispielsweise ist jenes von Palermo gut erhalten. Die Wände sind voller Inschriften, Symbole und Bilder von Gefangenen aus dem 16. und 17. Jahrhundert (vgl. Kreuzer 1986: 160ff). Namen, Stoßgebete sowie Mitteilungen ergänzen, da von den Opfern selbst geschrieben, das aus den Vernehmungsprotokollen und Urteilen stammende Geschichtsbild. Im Tower von London schrieben manche Gefangene ihre Selbstversicherungen, Hilferufe, Unschuldsbeteuerungen sogar mit Blut. Ein ähnliches Bild in manchen hinter der Seufzerbrücke liegenden Zellen des alten Kerkers von Venedig. In den beiden letztgenannten Gefängnissen konnte ich mich vor Ort von den Inschriften überzeugen. Manche waren derart kunstvoll und arbeitsaufwändig ins Steinmauerwerk getrieben, dass ihre Bedeutung für den Häftling mehr noch als im Zeichen des Hier-Gewesen-Seins in einer Art selbst zugewiesener Beschäftigungstherapie gelegen haben musste.

Im 19. Jahrhundert veröffentlichte der unselige Mediziner und Psychiater Cesare Lombroso die erste wissenschaftliche Sammlung von Gefängnis-Graffiti. Inschriften, in welchen Gesetz, Staat oder zur Ungerechtigkeit gewordene Gerechtigkeit verflucht wurden, betrachtete er als Beweis der Ehrlosigkeit und Untreue gegenüber Vaterland und Gesetz. Die vielen Inschriften mit sexuellem Inhalt interpretierte er nicht als kompensatorische Beschäftigung des isolierten Häftlings mit seinem Entzug von Sexualität, sondern als Beweis der charakteristischen Niedrigkeit der Delinquenten. Er sah die Haft-Graffiti als Selbstbiographien der Gefangenen an, die, weil ohne jede Prätention verfasst, umso lehrreicher für die Kenntnis der Verbrechernatur seien (vgl. Lombroso 1899: Vorwort). Lombroso erläuterte die transnationale Verbundenheit von Verbrechern durch Tätowierungen als interkulturelle Zeichen (vgl. Lombroso 1894: 160) und schrieb hinsichtlich der Graffiti kritisch: "Die Kerkermauern vermitteln dem Gefangenen unter dem väterlichen Auge der Wärter eine ganze Welt von Mitteilungen und Informationen und bilden für die Korrespondenz das prächtigste Schreibmaterial." Dieser Erkenntnis stellt er die Aussage eines weitgereisten "Kriminellen" bei: "Ich selbst erfuhr, während ich in Chalons sur Saone in der heimlichsten Zelle eingesperrt war, von den infolge meiner Verhaftung in Paris, Wien, St.Etienne, in Villafranka stattgehabten Arretierungen, was mir von höchstem Werte war. Auf dem selben Wege erlangte ich Kenntnis von dem entsetzlichen Attentat im Cafe Bellecour." (Lombroso 1894: 357)

Ein gutes Jahrhundert später schenkte die Gesetzesseite den Graffiti weniger Beachtung. Im Polizeigefangengenhaus Wien hatten Rumänen über die Wände in rumänischer Sprache ihren Zellennachfolgern Hungerstreik angeraten, was zahlreich beherzigt worden sei. Zwangsernährung bei Schubhäftlingen war damals verboten. Man sieht das auch als Kostenfrage. Ein Hungerstreiker soll am Tag seiner Freilassung beim Lebensmitteldiebstahl erwischt und gleich wieder eingeliefert worden sein. Er soll die Wachebeamten aufgeklärt haben. Wäre interessant, ob er die drei Punkte hatte.

Dabei kann sich gerade Wien rühmen, ein Werk über Haft-Graffiti generiert zu haben. Albert Petrikovits, ein Beamter der Polizeidirektion Wien, studierte in den Nachkriegsjahren des 1. Weltkriegs die Wände des Polizeigefangenenhauses, welches damals das selbe Gebäude war wie heute. Er betrachtete die Graffiti der Gefangenen nur am Rande von ihrem Botschaftscharakter an Mitgefangene her, sondern unter ihrem Aspekt als "Momentaufnahmen des Seelenlebens in der Haft, die im großen und ganzen aufrichtig sind" und deren Analyse dem "Eindringen in die Tiefe der Verbrecherseele" behilflich sei (Petrikovits 1923: V). Meiner Erfahrung nach hatte er insofern recht, als ein Gutteil der Text-Graffiti überhaupt gleichsam wie Fenster in Gefühlslagen, Anschauungen oder Haltungen von Einzelpersonen und Gruppen Einblick erlaubt. Wichtig - und dies nicht nur bei Häftlingen - ist Petrikovits` Wahrnehmung der Aufrichtigkeit im Schreiben; Nachsatz: bei aller Subjektivität der Inhalte und deren Interpretationen. Die Beforschung von dergleichen hinterlassenen Spuren nennt man nonreaktive Methode. Während beispielsweise in Interviews unvermeidlich Verzerrungen in den Aussagen auftauchen, weil sich die ProbandInnen bewusst oder unbewusst den Fragenden anpassen oder sich selbst zensurieren, erscheint in den vornehmlich anonymen Graffiti Gedachtes oder Gefühltes teils gnadenlos ungeschminkt, was zugleich der spezifischen Wortwahl wegen die Einordnung dieses Materials durch voreingenommene Personen in die Skatologie zur Folge hat. Petrikovits betonte übrigens, dass er einen gewissen, den Menschen nicht zumutbaren Datenschatz in der Veröffentlichung ausgespart hatte.

Ein traditioneller Faden zieht sich, ähnlich wie bei Tätowierungen, auch bei den Graffiti bis heute durch das Genre: Hauptthemen sind die Sexualität oder aus ihr als Movens entstandene Themen. Aber auch Ethik, Politik, Reue, Verzweiflung und Gott fand Petrikovits als auffällig häufige Themen. Der Autor warnte jedoch davor, vorschnell aus diesem Material "einen charakteristischen, dauernden Unterschied gegenüber der Seelenverfassung des unbescholtenen Durchschnittsmenschen festzustellen" (Petrikovits 1923: XIX), da der Gehalt jener Aussprüche an den sonstigen Erfahrungen mit dem Kriminellen nachzuprüfen sei. Die Schwierigkeit hierin liegt m.E. am Erreichen der Gewissheit, welche inschriftliche Botschaft von welchem Häftling stammt.

Eine sehr genaue Zuweisung von Graffiti gelang dem amerikanischen Zeithistoriker Stanislao Pugliese für das im Herbst 1943 von Gestapo und SS unterhalb ihres Bürotrakts eingerichtete Gefängnis in Roms Via Tasso. Darin waren Partisanen zwischen den Befragungen untergebracht, die ihrer meist unausbleiblichen Exekution entgegensehen mussten. Sie ritzten und schrieben Gedanken, Gedichtteile, ideelle Bezeugungen und ergreifende Geständnisse an die Wände der fensterlosen Zellen und beriefen sich oft auf Dichter des klassischen Rom oder auf die Bibel (vgl. Pugliese 2002: 4). Und die meisten dieser Mitteilungen waren unterzeichnet, was bei Graffiti eher unüblich ist.

Als am Vortag des 22. Jahrestags von Mussolinis erster Formierung eines faschistischen Bataillons ein schwerbewaffnetes SS-Polizei-Bataillon von Partisanen attackiert wurde und dabei 35 Soldaten ums Leben kamen, forderte Hitler die zehnfache Vergeltung. Man bekam aber keine Zahl entsprechend Schuldiger zusammen. So griff man auch auf Gefangene in der Via Tasso zurück, von denen kein einziger an der Partisanen-Attacke beteiligt gewesen war (vgl. Pugliese 2002: 17ff). Ein Luftwaffengeneral, den man abholte, ließ ein Gedicht an der Wand zurück, den Aufruf, immer so zu leben, dass man beispielgebend sei (vgl. Pugliese 2002: 20). Andere Gefangene dokumentierten ihren Aufenthalt bis zum Spruch des Todesurteils (vgl. Pugliese 2002: 23). Ein anderer Häftling betrachtete in seiner inschriftlichen Botschaft bereits den Haftraum selbst als Grab (vgl. Pugliese 2002: 24).

Die Deutschen beachteten die Wandschriften nicht. Ein Überlebender sagte, dass in den Momenten des Zermalmt-Seins durch brutale Gewalt, auf die es kein Reagieren gab, sich eine Sehnsucht weiter zu leben und sich selbst zu entdecken auftat. "And since there was no companion to share the misfortune with whome one could express these sentiments, there was nothing else to do but write" (Pugliese 2002: 25). Graffiti in bestimmten Haftsituationen erfüllen also den Zweck der Selbstermutigung, so wie die Tätowierungen in - zwar völlig anders gelagerten - Haftsituationen m.E. durchaus ein das Rückgrat stärkendes Gefühl der Selbstermächtigung verleihen können.

Ein bedeutender Teil der Inschriften im Gestapo-Gefängnis - auch in jenem in Köln museal Erhaltenen - bezieht sich auf den Wunsch nach Befreiung (hier: Italiens) von Nazis und Faschismus und hebt die Liebe zu Volk und Heimat hervor: "Wer fürs Vaterland fällt, lebt für immer" (Pugliese 2002: 30). Dante`s Inferno wird zitiert, und manche Graffiti stehen sogar in lateinischer und altgriechischer Sprache: "Pulchrum est pro patria mori" (Pugliese 2002: 28). In mitfühlenden Botschaft findet man Informationen an Gefangene über das Ergehen ihrer Gattin und Kinder und den tröstlichen Hinweis, dass die Situation nicht aussichtslos sei (vgl. Pugliese 2002: 35). Doch auch dringenden Warnungen begegnet man an den Wänden, indem Spione benannt werden oder mit codierten Zeichnungen vor faschistischen Agenten gewarnt wird. "Hase" beispielsweise war der Code-Name eines faschistischen Agenten. Die Zeichnung eines Hasen mit dem Wort "ATTENTIA" ist belegt (vgl. Pugliese 2002: S.45f). Während die meisten Holocaust- und Weltkrieg II-Gedenkmale in ihrer Monumentalität die Größe des Verbrechens spiegeln sollen, sieht der Autor ein anderes Verständnis der Gedenkstätten als vielleicht einprägsamer an: Man kann die Ungeheuerlichkeit der Nazi-Perversität vielleicht von der umgekehrten Seite besser verständlich machen, indem man die anscheinend kleinen Gesten der gequälten und vergessenen Gefangenen betrachtet (vgl. Pugliese 2002: 8).

Selbstredend sind die Graffiti im herkömmlichen Vollzug nur selten so erschütternd. Ihre Herkunft beruht aber vielfach auf dem selben Prinzip der Einsamkeit und Isolation. Der Tenor der Interviews, die zwei Psychologen mit Gefangenen der Justizanstalt Göttingen führten, war, dass die Wand einfach ein Ersatz sei, irgendjemand, mit dem man sprechen könne. Ein einzelner Gefangener hingegen gab an, er vermeide Graffiti, da er glaube, sich damit nicht nur handschriftlich, sondern auch personell im Gefängnis zu verewigen (vgl. Wehse u. Regin 1985: 162). Hier könnte man magisches Denken vermuten, wie es auch zu jenen Hautbildern der Fall sein dürfte, denen für den Träger Amulettcharakter eigen ist.

Mehrfachen Bezug zu Haft und in rechtlicher Hinsicht hatten die aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib bekannt gewordenen Graffiti. So warf die Anklageschrift der zu trauriger Berühmtheit gelangten Lynndie England unter anderem vor, das Wort Vergewaltiger mit dickem Filzstift auf einen nackten Häftling gemalt zu haben (News 2004: 55).

Das bedeutend breitere Spektrum an Aussagemöglichkeiten von Graffiti gegenüber den Tätowierungen präsentiert sich in Zusammenhang mit Haft oder Gesetzesübertretung auch außerhalb der Gefängnisse. Je nach aktuellem Zeithintergrund ist die Existenz von Gruppen verfolgbar, die mit ihren an die Wände gesprühten Parolen "Freiheit für ..." rufen. Umgekehrt wird auch die Einlieferung bestimmter Personen in Haftanstalten gefordert. Das kann vom Ruf "Gorbi ins KZ" bis zum sublimen Scherz der Globalisierungsgegner reichen, den ich über eine Fläche von mehreren Metern geschrieben fand: "Die Marktwirtschaft ist frei. Sperren wir sie ein!" Da in Graffiti vielfach Äußerungen getan werden, welche man sich von Angesicht zu Angesicht nicht zu sagen getraut, um soziale Ächtung zu vermeiden, tauchen in der Sprache an den Wänden zahlreich Botschaften auf, wie z.B. solche von Rechtsextremisten, die per se bereits eine strafbare Herausforderung des Rechtsstaates darstellen.

Während meiner 60stündigen Feldforschung im Polizeiarrest begegnete mir in meinem Haftraum keines der letztgenannten Graffiti. Hier ist man ohnehin sehr rechts orientiert und kann solche Ansichten offen aussprechen, wodurch die Notwendigkeit der anonymen Hetze entfällt. Ich entdeckte alte Gravuren an der Tür und deren lapidarer Rahmung, über die schon mehrere Schichten Lack gezogen worden waren, Namen nur, männlich und weiblich. Eines, es sagte einfach "Anna", war mit seiner Datierung aus 1985 das älteste im Raum. Heißt dies, dass 1985 dieser Zellentrakt für die Frauen benutzt wurde? Könnte es was aussagen, daß eine Frau im untersten Bereich der Türe schreibt? Wieso konnte ausgerechnet diese Schrift überleben, wenn immer wieder lackiert wird? Ein Faci, der den Eindruck eines Stammkunden vermittelte, behauptete, die Zellen wurden erst ein halbes Jahr zuvor hergerichtet.

Wenn wir vom Spaziergang brav zu unseren Zellen trotteten, standen die Türen weit offen. Im zweiten Stockwerk zählte ich 18 deutlich sichtbare Graffiti in einer Zelle, 12 in einer anderen, davon einige Zeichnungen mit Kugelschreiber. Eine bis zur Brust nackte Frau war erkennbar, die eine Waage hochhielt, in der nächsten Zelle prangte ein riesiges aufgeschlagenes Buch an der Wand, auf dessen geöffneten Seiten wenige akribisch ausgefüllte arabische Lettern hervorsprangen. Ich nehme an, es handelte sich um den Koran.

Auf Tisch und Sitzbrett meiner passageren Wohnstatt ist praktisch alles unlesbar, außer einem Herz und einer Art Kalender mit nebenstehenden Bemerkungen auf Ungarisch. Ich hätte Lust und machte selbst ein Erinnerungs-Graffito in Form dieser braunen Brandrillen durch aufliegende Zigaretten, die den Tischrand zieren. Mit einem stumpfem Gegenstand hatte ein Vorgänger 33 Kerben angebracht, eine Tage-Liste vermutlich und hoffentlich nicht die Anzahl krimineller Taten.

In den mir bekannten Untersuchungen wurden die nächsten Verwandten der Wort-Graffiti, nämlich die Text-Tätowierungen stiefmütterlich behandelt. Tatsächlich bilden sie in unseren Breiten keine Hauptkategorie der Hautbilder. Selten geht ihr Erscheinungsbild über Initialen, Daten, Städtenamen oder Namen angehimmelter oder geliebter Personen hinaus. Die Intimzone dürfte heute noch öfter zur Lokalisierung von Texten anreizen, was aber schwer zu überprüfen ist. Ich sprach mit einem 19jährigen Mann, der ein modernes Tattoo an der Schläfe hatte. Er zog sein Hemd hoch, und es kam in Gürtelhöhe ein sich zwischen den Darmbeinschaufeln erstreckendes Text-Tattoo zum Vorschein, welches ihn als besonders potenten Typen auswies. Er sei der Tätowierkunst mit Maschine mächtig, und habe dieses Tattoo nach einer verlorenen Wette vor den anderen an sich selber ausgeführt. Derlei Tattoos sind durch Fotos zahlreich belegt, Friedrich Salomo Krauss beschrieb sie bereits in den Anthropophyteia (Krauss 1904: 512). Von den drei Hautbildern des jungen Mannes war nur eines, sein chronologisch zweites, in der Jugendhaft gestochen worden, ein eher spießbürgerliches Motiv, ein bekleidetes Schulmädchen, das den Hauptteil des Unterschenkels einnimmt. Als er hörte, ich wolle einen Aufsatz zum Thema schreiben, war er nicht mehr bereit weitere Auskunft zu geben.

Völlig unterschiedlich gelagert dürfte die Situation in Teilen des ehemaligen Ostblocks sein. Im reich mit Fotos und Abzeichnungen ausgestatteten Band über Tätowierungen von Gefangenen beider Geschlechter in russischen Lagern und Haftanstalten erkennt man den großen und offensichtlich bis in die 90er Jahre traditionellen Schatz an inschriftlichen Einstechungen. In ihnen sind die Karrierewege der TrägerInnen durch die Strafanstalten dokumentiert, auffallend zahlreich persönliche politische oder rassistische Botschaften in langen Sätzen dargelegt und natürlich, hier ausnahmslos mit Bildgut verknüpft, jede Menge sexueller Protzereien, Dichtungen und Eigenbeschreibungen. Kann man den Medienberichten über Misshandlungen einfacher Soldaten in der russischen Armee Glauben schenken, dann wären die angeführten Zwangstätowierungen von angeblichen Verrätern, Homosexuellen und Aufrührern seitens der Mithäftlinge nicht weiter verwunderlich.

Auch in der ehemaligen DDR haben Häftlinge Text-Graffiti gegen die Bevormundung durch das System getragen. Obwohl in den Haftanstalten ab 1978 alle Tätowierungen systematisch erfasst und "nach oben" gemeldet wurden, ließen sich dennoch im ersten Halbjahr 1979 mehr als 1.400 Häftlinge neu tätowieren. In einige Haftanstalten (z.B. Cottbus), die auch Durchgangsgebäude für in den Westen Abgeschobene waren, wurden von der Staatssicherheit stark tätowierte Häftlinge verlegt. Sie sollten Hoffnung schöpfen, von der Bundesrepublik freigekauft zu werden. Später aber wurde ihnen eröffnet, dass man sie aufgrund ihrer Tätowierungen nicht in die Bundesrepublik lassen könne und sie in die Herkunftsanstalten zurückverlege. Dort sprach sich dann dieser Umstand rasch herum und viele Häftlinge, die auf Freikauf hofften, ließen ihre systemfeindlichen Hautbilder übertätowieren, obwohl ihre Freilassung gar nicht geplant war (vgl. Wunschik 2002).

Das Verändern einer als stigmatisierend oder schlecht gefertigt empfundenen Tätowierung bei Häftlingen bzw. Ex-Häftlingen wird in allen Untersuchungen erwähnt und dürfte heute noch eine wichtige Rolle spielen. Der mit Fakten bekannt genaue Schriftsteller John Irving schildert in seinem neuesten und als autobioraphisch geltenden Werk zahllose Szenen in Tattoo-Studios. Er schreibt, es würden 20 Prozent der Tätowierungen nur dazu dienen, ältere Hautbilder zu überdecken, bei denen es sich zur Hälfte um Namen handle (vgl. Irving, 2006: 33).

Ohne mir Psychologen-Qualitäten anmaßen zu wollen, werte ich auf Grund meiner teilnehmenden Beobachtungen das Tätowieren - hier als Teil eines Komplexes unbewusster oder bewusster Bemühungen um Verschriftlichung oder Verbildlichung von Botschaften aufgefasst - als eher schlichte und nur in der Haftsituation hilfreiche Form der Auseinandersetzung des Gefangenen mit sich selbst in seiner Umwelt. Sie gleicht mehr einem ritualisierten Zeitvertreib, der einerseits den Normen einer gewissen Subkultur entspricht, dem doch zugleich eine widerständische Komponente der Abgrenzung gegen zumindest zeitweise verachtete Normmenschen implizit ist, und in dem das zumindest erwünschte oder vermeintliche Selbst mit dem Körper gleichgesetzt bzw. auf dessen Oberfläche projiziert werden kann.

Die traditionellen Bedeutungen unkünstlerischer oder nicht kunsthandwerklich verfertigter Tätowierungen als codierte Botschaften für Gleichgesinnte in sozialen Randgruppen, stellte Roland Girtler fest, nehmen rapide ab (vgl. Girtler, 1995: 65). Allerdings wurde schon 1925 das Tätowieren für einen aussterbenden Brauch gehalten, dessen Bedeutung abhanden gekommen sei. Wissenschaftler, die eine Verbindung von Tätowierung mit Kriminalität als unbewiesen ansahen, stellten eine solche jedoch mit geringer Intelligenz oder niedrigem Kulturstand her. Doch seien Tätowierte willensstark und mutig, wie sich an vielen bei Wind und Wetter oder unter abenteuerlichen Bedingungen von ihnen ausgeübten Berufen erweise (vgl. Petermann 1993: 30). So hatte ich sie vor 30 Jahren auch erlebt. Doch war gerade deren Intelligenz im braven Verhalten gegenüber den Ungerechtesten auf beiden Seiten des sozialen Spektrums am höchsten entwickelt.

LITERATUR:

Danzig, Baldaev u.a.: Russian - Criminal - Tattoo Encyclopaedia. Göttingen 2005

Friederich, Matthias: Tätowierungen in Deutschland. Eine kultursoziologische Untersuchung in der Gegenwart. (= Quellen und Forschungen zur Europäischen Ethnologie, Bd. XIV), Würzburg 1993

Girtler, Roland: Randkulturen. Theorie der Unanständigkeit. Wien-Köln-Weimar 1995

John Irving: Bis ich dich finde. Zürich 2006

Katterbach, Rainer: Tätowierungen bei Gefangenen. Untersuchungen in Gefängnissen des Raumes Düsseldorf. Düsseldorf 1969

Kozak, Paul: Die Tätowierung in bürgerlichen Kreisen in Wien. (Diplomarbeit am Institut für Volkskunde) Wien 1998

Krauss, Friedrich Salomo: Erotische Tätowierungen. Eine Umfrage. In: Anthropophyteia, Bd.I. Breisgau 1904. S.507-513

Kreuzer, Peter: Das Graffiti-Lexikon. München 1986

Lombroso, Cesare: Palimsesti del carcere. 1891 (dtsch: Kerkerpalimpseste, Hamburg 1899)

Lombroso, Cesare: Neue Fortschritte in den Verbrecherstudien. Leipzig 1894

Lombroso: Die Anarchisten. Eine kriminalpsychologische u sociologische Studie. Nach der zweiten Auflage des ORIGINALS Deutsch herausgegeben. N.n.

Petermann, Werner: Die Kunst, die unter die Haut geht. In: Spamer; Adolf: Die Tätowierung in den deutschen Hafenstädten. München 1993 (zuerst erschienen 1933), S.7-33

Petrikovits, Albert: Hinter Schloss und Riegel. Wien 1923

Pugliese, Stanislao G.: Desperate Inscriptions. Graffiti from the Nazi Prison in Rome 1943-1944. Photos by Lana Miuccio. Lafayette/USA 2002

Spamer; Adolf: Die Tätowierung in den deutschen Hafenstädten. München 1993 (zuerst erschienen 1933)

Wehse, Rainer/Ute Regin: "12 Jahre wegen 5 läppische Morde." Graffiti im Gefängnis. In: Müller, Siegfried (Hg.): Graffiti. Tätowierte Wände. Bielefeld 1985. S.157-173

Zangemeister, Karl: Inscriptiones Parietariae Pompeianae, Herculanenses, Stabianae. Berlin 1871


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