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Helmut Eisendle: Umwelt und Intelligenz (1980)
Ein Hauptbedürfnis des Menschen ist die Identifikation mit den Normen der Gesellschaft, verbunden mit deren Erfolgsrückmeldungen. Diesem Identifikationsmechanismus auf Verhaltensebene liegt derselbe Lernprozeß zugrunde, der Hunde treu macht, der Vögel sprechen oder Schimpansen radfahren läßt, der Ratten durch unlösbare Labyrinthe führt und der den Säugling die Mutter lieben lehrt. Kognitive Prozesse spielen dabei in unserer Entwicklung nur eine untergeordnete Rolle. Es ist dem Menschen bislang nicht möglich, den Zustand einer solchen Prozessen unterworfenen Position in der Umwelt zu erreichen. Kognition ist nur Kontrolle, indem sie bestätigt, daß die Identität mit den Normen stattgefunden hat oder nicht. Die grundlegenden Lernmechanismen sind dabei das automatische Lernen am Modell - hinlänglich als Anpassung bezeichnet - und die wiederholte Belohnungs-Bestrafungs-Prozedur, die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines bestimmten Verhaltens verringert oder erhöht. Das Gehirn als Erkenntniswerkzeug hat bei diesen Lernvorgängen, entgegen aller Annahmen, nur die zwei folgenden untergeordneten Funktionen: einerseits steuert es die motorische Aktivität, wobei die Art des Verhaltens weitgehend von der Erfahrung abhängig ist, andererseits ermöglicht es die Kontrolle des Erfolges. Diese Kontrollfähigkeit über Erfolg oder Mißerfolg eines Verhaltens, das sich in einer Erfolgsrückmeldung äußert, ist eine wichtige Funktion des menschlichen Gehirns und letztlich jene Leistung, die Philosophie und Religion dem Menschen als Qualifikation unter dem Terminus Geist und Bewußtsein gegen das Tier unterstellen. Nur zum geringsten Teil wird das zentralnervöse Organ Gehirn dazu verwendet, Änderungen des Verhaltens über kortikale Prozesse im Sinne von Denkprozessen direkt hervorzurufen. Bei der Mehrzahl der Menschen werden die Denkprozesse durch automatisch ablaufende Reaktionssequenzen ersetzt. Diese sind ähnlich der Veränderung der Quecksilbersäule eines Thermometers dem momentanen Zustand der Außenwelt unterworfen. Das Gehirn entspricht in diesem Sinne einer Maschine, die ihre eigenen Reaktionen auf einem Leuchtpult erkennbar macht. Die Leuchtstärke der abgebildeten Muster, koordiniert mit der gespeicherten Erfahrung, ist das Konstrukt Intelligenz. Intelligenz ist daher die durch zufällige oder voraussagbare Lernprozesse verwendbare Erfahrung bezüglich generalisierbarer realer Probleme, verbunden mit der Kontrollfähigkeit über eigene Reaktionen, die ihrerseits aus der Erfahrung mit der Umwelt resultieren.
Intelligenz ist also nicht nur das, was der Intelligenztest mißt, sondern das von lokalen Übereinkünften abhängige Erfordernis der auftretenden Umweltprobleme. Das in einer zu lösenden Problemsituation gebotene Verhalten ist daher das reale Korrelat der Intelligenz. Die Erfordernisse der Umwelt determinieren also das intelligente Verhalten. Die Intelligenz repräsentiert sich daher in den Problemen, welche die Umwelt hervorruft. Götter sind unintelligent, da sie keine Probleme haben.
Welche Verhaltensweisen, Reaktionsmöglichkeiten, Fähigkeiten und Eigenschaften sind unter das Kriterium intelligent zu stellen ?
Setzt man voraus, daß Probleme aus der Vielzahl möglicher Situationsgegebenheiten entstehen können, und betrachtet man in Beziehung dazu alle erforderlichen Reaktionsmuster, ist es fraglich, ob nicht alle Fähigkeiten, Eigenschaften und Reaktionen als mögliche Variablen intelligenten Verhaltens zu definieren sind. Dabei kann man weder die ererbte Ausrüstung unserer Sinne - das Sehen, Hören, Riechen, Tasten, Fühlen - ausklammern, noch sich auf die erworbenen Fähigkeiten - das Schreiben, Lesen, Denken - beschränken. Jede Reaktionsmöglichkeit ist, wie auch jedes tierische Verhalten, unter der Voraussetzung vorhandener Probleme intelligent. Der Unterschied zwischen menschlicher, tierischer und maschineller Intelligenz liegt in der Quantität und Qualität der auftretenden oder erzeugten Probleme. Eine Vielzahl menschlicher Probleme determiniert sich aber aus der Komplexität menschlichen Verhaltens und sozialer Interaktionen. Der Mensch ist also intelligenter als die Ratte, weil, ja, weil er mehr Probleme hat. Die Selbstbestätigung des Menschen als intelligentes Wesen liegt letztlich nicht in den Lösungen, die es anbieten kann, sondern in der Erzeugung von Problemen.
Da man jedem Lebewesen, jedem Tier, jeder Pflanze, jeder Maschine Intelligenz zuschreiben kann, ist Intelligenz ein Konstrukt wie beispielsweise Existenz, Seele, Bewußtsein oder Sein. Die Frage nach Intelligenz ist daher kein Problem der Überprüfung einzelner Fähigkeiten oder Eigenschaften, sondern die Frage nach der Definition eines sprachlich gebundenen, spielerischen Konstruktes ohne besonderen Sinn. Eine nicht nach Problemen orientierte Definition von Intelligenz erschöpft sich in den Sätzen: Intelligenz ist das, was der Intelligenztest mißt oder Intelligenz ist das Gegenteil von Nichtintelligenz oder Intelligenz ist Intelligenz. Bezieht man den Begriff Intelligenz, ohne ihn so zu nennen, aber auf das umweltbedingte Verhalten oder Reagieren, fordert dies ein systematisches Erfassen aller möglichen Reaktionsarten, die in einem denkbaren Zusammenhang mit der Lösung von Problemen in der Umwelt stehen können oder die systematische Erfassung der Probleme und Problembereiche selbst, die eine Umwelt ergibt. Wenn dies geschieht, wird sich die Intelligenzforschung als intelligent erweisen. Löst sie dieses Intelligenzproblem nicht, bleibt sie das, was sie heute ist: unintelligent.


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