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Goldmann Kommentar: Fundiertes Nicht-Wissen


In dem Vortrag Cybernetics and Ghosts beschreibt Italo Calvino, wie “die verschiedensten ästhetischen Theorien die Dichtung als eine Sache der Inspiration darstellen, als Eingebung von irgendwelchen luftigen Höhen, als aufsteigend aus was weiß ich was für dunklen Tiefen, als reine Intuition, oder als sonst einen unbeschreibbaren Moment im leben des Geistes, oder als die Stimme der Zeit, mit der der Geist zum Dichter spricht, oder als Reflexion sozialer Strukturen, oder als direkte Einsicht in eine tiefe individuelle oder kollektive Psychologie – in jedem Fall etwas Intuitives, Unmittelbares, Authentisches, Allumfassendes, das auf unbekannte Weise unerklärlich irgendwo entspringt, das äquivalent und übereinstimmend mit etwas anderem ist und auf dieses symbolisch verweist. Aber in diesen Theorien blieb immer eine Leerstelle, die niemand füllen konnte, ein dunkler Bereich zwischen Ursache und Wirkung: Wie entsteht ein beschriebenes Blatt Papier? Auf welchem Weg wird die Seele, oder die Geschichte oder die Gesellschaft oder das Unbewußte zu einer Serie schwarzer Linien auf einem weißen Blatt transformiert? Die großartigsten ästhetischen Theorien schweigen zu diesem Punkt.” 1)
An anderer Stelle fragt Calvino: “Aber was ist ein Sprach-Vakuum, als die Spur eines Tabus, als ein Verbannen von etwas, was nicht ausgesprochen werden soll, ein Verbot?” Es kann eine enorme Erleichterung im Denken über und in der Arbeit mit der Sprache bedeuten, aufzuzählen, wie viele Aspekte ihrer Funktionen und Erscheinungsweisen einem großen Bereich des Nicht-Wissens angehören. Ich habe begonnen, Elemente dieses Nicht-Wissens zu sammeln: Jedes Fundstück, wie der oben zitierte Absatz, löst eine enorme Weltanschauliche Anspannung, die einer übereifrigen Aufklärungseuphorie entspringt. Nicht-Wissen ist heilsam, wenn dadurch geklärt werden kann, wie Theorien, Erklärungen und Ansichten solche ausgesparten Bereiche enthalten, wie im Sprachvakuum ein Tabu zu wuchern beginnt. Viele “Theorien” entwickeln eine Art hysterischer Stringenz, wenn solche Bereiche berührt werden, es scheint, als wäre es vielen aufklärerischen Bemühungen unmöglich, unbekanntes, unentdecktes zu integrieren. Eines meiner Fundstücke ist folgender Eintrag in einem Lexikon der Sprachwissenschaft:
Sprachursprungshypothesen: Durch keinerlei sprachwissenschaftliche Methoden verifizierbare Konstruktion bzw. Mutmaßungen über die Entstehung von Sprache. Einigermaßen gesicherte Erkenntnisse über Sprache reichen ca. 5000 bis 6000 Jahre zurück, die Menschheitsentwicklung aber erstreckt sich über einen mutmaßlichen Zeitraum von einer Million Jahren. Somit sind alle Hypothesen über Sprachursprung wie u.a. (a) die “onomatopoetische” Theorie (Nachahmung von Tierlauten), (b) die “interjektive” Theorie (Sprachentstehung durch Ausdruck von Emotionen) oder (c) die “synergetische” Theorie (Sprachentstehung aus gemeinsamer Arbeitsbewältigung) rein spekulativ und bestätigen J.G. Herders paradoxe Formulierung:

“Der Mensch ist nur Mensch durch die Sprache, um aber die Sprache zu erfinden, müßte er schon Mensch sein“ 2) Warum ist Wissen soviel reizvoller als Nicht-Wissen? Ich weiß es nicht, fühle mich aber auf beiden seiten gleichermaßen zuhause. In vielen Zusammenhängen könnte man “fundiertes Nicht-Wissen” in dem beschriebenen Sinn als ein Tabu des späten 20. Jahrhunderts beschreiben. “If you aren’t confused by quantum physics, then you haven’t really understood it” (Niels Bohr). Das eigentliche Darstellen und Aussprechen fundierter Verwirrung ist in diesem Sinne Bestandteil eines klaren Verständnisses.

1) “Various aesthetic Theories maintained that poetry was a matter of inspiration from I know not what lofty place, or welling up from I know not what great depths, or else pure intuition, or an otherwise not identified moment in the life of the spirit, or the Voice of the Times with which the Spirit of the World chooses to speak to the poet, or a reflection of social structures that by means of some unknown optical phenomenon is projected on the page, or a direct grasp of psychology of the depths that enables us to ladle out images of the unconscious, both individual and collective, or at any rate something intuitive, immediate, authentic, and all-embracing that springs up who knows how, something equivalent and homologues to something else, and symbolic of it. But in these theories there always remained a void that no one knew how to fill, a zone of darkness between cause and effect: how does one arrive at the written page? By what route is the soul or history or society or the subconscious transformed into a series of black lines on a white page? Even the most outstanding theories of aesthetics were silent on this point. I felt like someone who, due to some misunderstanding, finds himself among people who are discussing business that is no business of his. Literature as I knew it was a constant series of attempts to make one word stay put after another [...].” Italo Calvino: Cybernetics and Ghosts. In: Italo Calvino, The Uses of Literature, Harcourt Brace & Company 1986. 2) Hadumod Bußmann, Lexikon der Sprachwissenaschaft, Kröner 1990.


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