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Cyberculture


Politik und Kultur in der Informationsgesellschaft

© Frank Hartmann

Eine wesentliche sozialwissenschaftliche Erkenntnis unserer Zeit ist, dass die Gestaltung der Zukunft nicht sosehr von zweifelhaften Prognosen abhängt, sondern von stichhaltiger Zeitdiagnose. Diese hätte den Effekt der jüngsten kommunikativen Transformation auf unsere Gesellschaft zu untersuchen. Die Ereignisse, die zu einem radikalen Strukturwandel der Öffentlichkeit geführt haben, lassen sich nicht allein nach technischen Kriterien begreifen. Wir müssen also die Frage stellen, was der Eintritt in die sogenannte Informationsgesellschaft kulturtheoretisch bedeutet.


Kulturtechnik im Übergang

Die Diskussion um das Internet und die Phänomene der computervermittelten Kommunikation -- wie Virtualität oder Cyberspace -- gehört, so die hier vertretene These, in den breiteren historischen Rahmen menschlicher Kulturentwicklung. Kultur ist nämlich keine statische Angelegenheit. Warum sollte also die entstehende Cyberculture nur restriktiv zu definieren sein, als Verlustqualität? Warum dominiert weiters in der gegenwärtigen Diskussion sosehr der technische Aspekt? Kein Werkzeug determiniert bekanntlich voll und ganz die Arten seiner Verwendung; der Computer transformiert zwar die gesellschaftliche Kommunikation nachhaltig, ist aber auch Ausdruck eines veränderten gesellschaftlichen Kommunikationsbedarfs und als solcher mehr denn ein blosses Werkzeug. Seine erstaunliche Transformation vom numbercruncher zum sogar für Geisteswissenschaftler brauchbaren wordprocessor und durch die Vernetzung jetzt zum Virtualität produzierenden thoughtprocessor beinhaltet eine Entwicklung vom selbst symbolträchtigen Werkzeug der Datenverarbeitung hin zum Medium kommunikativen Austausches und der Vernetzung von Informationsressourcen. Als solches bleibt er, wie jedes Medium, weniger nach den technischen Voraussetzungen als von den gesellschaftlichen Effekten her zu begreifen. Diese manifestieren sich jetzt vorrangig als Vernetzungsphänomene.


Soziale Innovation

Neben allen technischen Implikationen, die vielleicht aus dem Augenblick heraus diskussionswürdig scheinen, ist das Internet auch eine Metapher, die für eine breite Palette menschlicher Kulturaspekte steht, die in ständiger Transformation begriffen sind. Ein neuer, bislang unbekannter Kommunikationsraum eröffnet sich. Die menschlichen Kulturtechniken sind erfahrungsgemäss nicht konstant und verändern sich relativ zum sozial-geschichtlichen Kontext, der aber nicht Opfer solcher Veränderungen ist, sondern diese stimuliert. Keine Technik hat sich je durchsetzen können, wenn der entsprechende gesellschaftliche Bedarf nicht gegeben war. Schon daraus ist abzulesen, daß der Medienwandel Ausdruck eines solchen Bedarfs ist, und nicht nur technischer Effekt. Die Computertechnologie muss in diesem Sinn als eine soziale, gegenkulturelle Bewegung begriffen werden - Personal Computers sind bekanntlich nicht aus den strategischen Entwürfen von IBM & Co. entstanden, sondern aus Gegenentwürfen zur herrschenden Macht der Industrie und der Bürokratie. Als ein bottom-up-approach, der mehr mit der Alternativkultur von Woodstock zu tun hat als mit den Konzernzentralen: Und das nicht nur in den Anfängen, denn "ausgebaut haben den Cyberspace überwiegend anonyme, unentgeltlich arbeitende Menschen, die beständig die Kommunikationsmittel verbesserten, und nicht die grossen Namen, die Regierungen oder Firmenchefs, von denen uns in den Medien bis zum Überfluss erzählt wird." (Pierre Levy: Cybercultur) Die Frage der Änderung ist mit den herkömmlichen Mitteln der Kulturkritik, die mit gegenkulturellen Bewegungen schon immer ihre Schwierigkeiten gehabt hatte, nur schwer zu fassen. Sie verteidigt alte Medien und mit ihnen überkommene Kulturtechniken, und meint damit intellektuelle Machtpositionen, wie sie sich mit der Produktion, Verwaltung und Reproduktion von Schriftgut verbinden. Eben deshalb ist ihnen die sogenannte 'Informationsflut' ein Problem, mit der in Wirklichkeit das Ungenügen überkommener Formen der Informationsverarbeitung ausgedrückt wird.


Sprache und Schrift

Auf das mythische Wort folgt die Schrift, auf die Schrift (Buchkultur) das Sprechen (Telefonkultur). Sprache und Sprechen sind nicht ident, die gesamte Moderne laboriert an dem Problem des Auseinanderfallens von Ausdruck und Bedeutung. Man versucht sich an logisch fundierten Idealsprachen und scheitert an der Vielfalt der Sprachspiele. Die Moderne schafft neue Formen der Darstellung: logische Formeln, die das Denken vor Fehlern bewahren sollen, oder auch Piktogramme, die eine neue Relation zwischen Audruck und Bedeutung etablieren. Das heisst aber nicht , das Sprache und Bild, Schreiben und Sprechen einfach gegeneinander ausgespielt werden können.
Weiters ersetzen neue Kommunikationsstrukturen nicht einfach die alten Medien. Die Menschen haben nach der Erfindung des Buchdrucks schliesslich auch nicht zu sprechen aufgehört - sie haben nur begonnen, anders zu sprechen als in einer schriftlosen Kultur. Über den technisch indizierten Medienwandel erhalten wir derzeit die Chance, mehr als nur jeweils einen Ausschnitt des möglichen Kontexts zu aktualisieren, der herkömmlicherweise unter Kultur rubriziert. Die neuen, auf Grundlage der Digitalisierung arbeitenden Medien werden in diesem Sinn die Auffassung von Wirklichkeit ebenso ändern, wie sie - als Cyberculture - neue symbolische Räume erschliessen.


Medialer Strukturwandel

Historische Beispiele für kulturtechnische Revolutionen gibt es genug, darunter auch prominente: Im Florenz Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts gelang es dem jungen Baumeister Filippo Bruneleschi, seine Zeitgenossen mit der ersten zentralperspektivischen Zeichnung so zu täuschen, da die Betrachter seiner Abbildung das Gefühl bekommen muddten, sie sähen die Wirklichkeit selbst. Diese neue räumliche Darstellungsweise hat nicht nur die Sehweise unserer gesamten Kultur grundlegend verändert, sondern auch unsere geistige Wahrnehmung von 'Wirklichkeit' und von Authentizität. Wenige Jahre später, so um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, begann der Goldschmied Johannes Gensfleisch, alias Gutenberg, in Strassburg seine drucktechnischen Versuche mit beweglichen Lettern. Erfunden hat er nicht den bereits florierenden Buchdruck, sondern ein bestimmtes Gussverfahren, womit die Anfertigung flexibler Drucktypen den plumpen Buchdruck zu einer modernen Reproduktionstechnik gemacht wurde. Kurz darauf musste er Konkurs anmelden, denn die klösterlichen Skriptorien hatten keinerlei Bedarf an einer Arbeits- und Zeitersparnis, die noch dazu an eine teure und komplizierte Technologie gebunden war. Doch diese neue Technik öffnete eine neue epistemische Welt. Es dauerte zwar seine Zeit, und bedurfte der aufklärerischen Alphabetisierungskampagnen (mit ihren sogenannten Lesefibeln) und des preisgünstigen Taschenbuchs, doch hat der Buchdruck die Methode des Wissenstransfers in unserer Gesellschaft durch Mechanisierung grundlegend neu gestaltet. Dieser Mechanisierung der Grundlagen folgte die Industrialisierung ganzer Wissenszweige, oder Diskursfelder.

In der Moderne sind es Hörfunk und Fernsehen, die der Medienrealität eine neue Gestalt gegeben haben, mit der wir einerseits vertraut sind, die uns andererseits aber kaum gegenwärtig ist - wir nehmen die Kulturindustrie der Massenmedien als Teil unserer sozialen Realität, während die Unterscheidung zwischen Medienprodukt und Wirklichkeitsrepräsentation zunehmend verschwimmt. Niemand wird behaupten wollen, die Massenmedien werden einfach die Wirklichkeit für ein breites Publikum abbilden. Vielmehr bestätigen sie die bereits vorhandenen Wirklichkeitsbilder. Wie die Medienstrategie der erfolgreichen Boulevardpresse (und zunehmend auch des Privatfernsehens) beweist, ist es dieses sozialpsychologisch definierte Band zwischen Blatt und Leserschaft, das auf beiden Seiten den Blick auf die Wirklichkeit bestimmt. Medien vermitteln nicht, sondern erzeugen ihre eigene Medienwirklichkeit. Es ist fruchtlos, dagegen ein Aussermediales einklagen zu wollen.

In jüngster Zeit nun lässt die Interaktivität des Mediums uns die fiktiven Realitäten, die bislang dem Publikum nur vorgesetzt wurden, aktiv mitgestalten: digitales Sein ändert nicht nur die Art und Weise, wie Medien und ihr Publikum zueinander gesetzt sind, sondern auch die Stellung des Wissens und die Funktion des Erkennens. Wurde das neuzeitliche Bewusstsein mit seiner berühmten Innerlichkeit durch die Kulturtechnik des Lesens geprägt, in der singuläre Produktion einer singulären Rezeption entspricht und somit Privatheit erzeugt, so holt zuerst das Fernsehen das öffentliche wieder ins Private herein, allerdings um den Preis einer die kollektive Rezeption bestimmenden Bewusstseinsindustrie. Mit der Interaktivität setzt ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit ein, indem das Individuum zurückschlägt, mit aller Macht des Subjekts, das gerade noch als Produkt der übermächtigen Diskursmaschinen überlebt hat. Neue kulturtheoretische Differenzierung sind notwendig, wenn wir begreifen wollen, wie die Kommunikationskultur sich unter dieses Bedingungen gestaltet.


Das Virtuelle

Man kann sagen: die Wirklichkeit ist virtuell, sie ist gewissermassen immer schon ein Konstrukt ihres Mediums. Es ist also einigermassen seltsam, wenn angesichts der neuen Medien jetzt im pädagogisch beflissenen Tonfall vor dem Verlust der Wirklichkeit gewarnt wird. Virtual Reality oder gar der Cyberspace erscheinen in dieser fürsorglichen Klage als ein teuflisches Machwerk, das unsere armen Kinder davon abhält, sich rechtzeitig geeignete Strategien zu ihrer Selbstbehauptung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit anzueignen. Die Grundlage dieses Blicks auf die Wirklichkeit bleibt seinen Verfechtern selbst meist unklar: unterstellt wird, dass es möglich wäre, das sich dauernd zwischen das 'Subjekt' und die 'Wirklichkeit' schiebende 'Medium' einmal auszuschalten. Der damit verbundene pädagogische Aspekt schlägt jedoch fehl, da er nur davon abhält, sich mit der tatsächlichen Medienwirklichkeit auseinanderzusetzen, sofern dieser nicht das gelegentliche Etikett 'kulturell wertvoll' angeheftet werden kann - eine Haltung, die lediglich bestimmte und aus gewohnten Zusammenhängen vertraute Kulturprodukte privilegiert. Ich möchte hier nicht die Entstehung dieser Auffassung aus dem neuzeitlichen philosophischen Dualismus rekonstruieren, wohl aber diese Makroperspektive in Anspruch nehmen, um das Internet als Metapher für den gegenwärtigen Wandel der Kulturtechnik zu thematisieren, der sich freilich nicht auf die derzeit im Internet möglichen Anwendungen reduzieren lässt: wir befinden uns an der Schwelle zu einer Cyberculture, welche nach einem Wort von Paul Virilio die Form einer riesigen elektronischen Skulptur annimmt, die uns umgibt. Wir stehen allerdings keineswegs ohnmächtig davor, sondern sind deren aktive Gestalter.

Freilich gibt es die Möglichkeit sozialer Ausschliessung, der auf kultureller, wirtschaftlicher und politischer Basis gegengesteuert werden muss. Über die elektronische Informationsbewegung durchdringen einerseits Medien stärker den Alltag und die Privatsphäre, andererseits wird die Globalisierung von Kommunikation befördert. Die in den letzten beiden Jahrzehnten gewachsenen Computernetzwerke haben ein genuines Medium erzeugt, das auf neuartige Weise mehr Menschen integriert, als es mit herkömmlichen Kulturtechniken auch nur vorstellbar gewesen wäre. Den virtuellen Communities sollte allerdings nicht die Last des neuen geschichtsphilosophischen Subjekts aufgebürdet werden - sie sind, trotz J.P. Barlows romantischem Optimismus, kein Fortschrittssubjekt, welches das Erbe des Proletariats übernimmt. Wie auch die Wünsche und Hoffnungen der Menschen keine anderen sind, nur weil sie sich jetzt mit neuen Mitteln ausdrücken. Die neuen Kommunikationsräume jedoch haben die Bedingungen der Möglichkeit einer neuen Kommunikationskultur erzeugt.

Das Virtuelle nun bestimmt sich, wie Vilém Flusser schrieb, am besten über eine Auffassung von Kultur, die immer nur einige von potentiell vielen möglichen Kontexten zu aktualisieren vermag: "Wenn wir von virtuellen Räumen sprechen, dann meinen wir, dass wenigstens im Bereich des Denkbaren und vielleicht sogar schon des Machbaren die Möglichkeit drängt , alternative Welten herzustellen, sie der Konkretizität immer näherzubringen, so dass sie immer virtueller werden, bis wir in einer Pluralität von Welten leben werden, von denen keine konkreter oder weniger konkret als die andere sein wird, von denen es von keiner einen Sinn haben wird zu sagen, sie sei wirklich oder sie sei fiktiv."
(in: Florian Roetzer, Peter Weibel: Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk )

Hat Schreiben Zukunft?

Kulturtechniken sind historisch kontingente Erscheinungen. Flusser hat die entscheidende Frage nach der Zukunft der zentralen bürgerlichen Kulturtechnik, nach der Zukunft des Schreibens gestellt. Die in unserem Jahrhundert virulent gewordene Krise der Linearität war ihm offensichtlich. Ebenso klar war ihm, dass unsere Gesellschaft immer stärker von einer neuen Einbildungskraft jenseits des alphanumerischen Codes geprägt wird. Lesen und Schreiben, Inbegriff aller bürgerlichen Bildung, werden zudem relativiert zugunsten einer neuartigen Immersion ins Medium. Dem Lingusitic turn einer Generation, die auf Entdeckung verborgener gesellschaftlicher Strukturen aus war, folgt der Pictorial turn einer Generation der Benutzeroberflächen.

Dass die Techniken von Codierung und Decodierung kulturhistorisch relativ sind, ist eine Einsicht, mit der nicht nur die enorm gesteigerte Werbewirtschaft der letzten Jahrzehnte ihren medialen Siegeszug angetrat, sondern mit der auch eine wissenschaftliche Revolution dieses Jahrhunderts erfolgreich operiert hat: die Einsicht, dass bestimmte Formen der Visualisierung manche Argumentationsform schlagen können. Worte trennen, Bilder verbinden - so formulierte bereits Otto Neurath anlässlich seiner Propagierung der 'neuen Sprache' der Bildpädagogik in den zwanziger Jahren. Auf die Visualisierung wissenschaftlicher oder wirtschaftlicher Daten, wie sie im Wien der zwanziger Jahre professionalisiert wurde, war ab einem bestimmten Komplexitätsgrad ohnehin nicht zu verzichten. Die Formen der Wissensvermittlung wie der Wissensaneignung bedürfen ständiger Revision, um der gesellschaftlichen Anforderung zu entsprechen. Neurath zeigte sich ganz auf der Höhe der Zeit, als er graphisch aufgebaute Orientierungshilfen entwickelte, damit sich die Menschen der Moderne angesichts der steigenden Komplexität nicht als kritische (und das hiess für ihn: politische) Subjekte selbst verlieren. Sein sozialwissenschaftlicher Ansatz hat Generationen von Interface-Designern und mit ihnen den Wissenstransfer zwischen Individuen und Gesellschaft beeinflusst.

Heute produziert die Ästhetik digitalen Seins graphische Benutzeroberflächen, die eine Steuerung der elektronischen Datenbewegung erleichtern.
Die Klage vom Ende des Buches ist dennoch unangebracht. Nachdem jedes Medium zugleich immer auch seine eigene Botschaft ist, vermittelt das Buch die Eindimensionalität einer Kulturtechnik, die einem eher restriktiven Bildungsideal verpflichtet ist und indifferent gegenüber der Lebensform bleibt, in der diese Technik zur Anwendung kommt. Wie sollte das Buch die Welt im Sinn der Aufklärung, die eine möglichst breite Teilhabe am gesellschaftlichen Wissensreservoir vorgesehen hatte, verändern? Öffentlichkeit und Privatheit, sozialer Kontext und mediales Organisationsprinzip bleiben hier noch weitgehend unvermittelt: das Buch steht als Stimme des einzelnen Autors metaphorisch für das vereinsamte Subjekt der Moderne, das den verlorenen Anschluss an die Kommunikationsgemeinschaft sucht. Es wird weiterhin Büher geben, gar keine Frage, doch das Organisationsprinzip des Wissens schlechthin haben die elektronischen Medien ürnommen. Warum sollte sich die Relevanz einer Information bis ans Ende ihrer Tage aus der Form ihres materiellen Speichers ergeben? Mehr als jene tarre elektronische Skulptur, von der Virilio gesprochen hat, versprechen sie uns eine intelligente Umwelt, die unseren Bedüfnissen mehr entsprechen wird als üerkommene Kulturpotentiale, zu deren Erschliessung es einer langen und teuren (letztlich undemokratischen) Bildungssozialisation bedarf. Die Globalisierung der Kommunikation bedeutet unter diesem Vorzeichen eine Rekontextualisierung des gesellschaftlichen Wissens. Das moderne Bewusstsein kontrolliert seine Sprache durch das geschriebene und gedruckte Wort. Die Forderung der Aufklärer nach Pressfreiheit -Durchsetzung von Vernunft bedeutete ihnen nichts weniger als die Herstellung von Publizität - ist das Bestreben, diese Kontrollfunktion nicht einzelnen Institutionen (der Kirche oder weltlichen Potentaten) zu überlassen. Das postmoderne Bewusstsein hat das schwierige Erbe der Aufklärer nicht verspielt, es hat nur gelernt, dass die Idee der Kontrolle und ihre Erzeugung von Eindeutigkeiten aufzugeben ist.

Gegenkultureller Impuls

Die damit erzeugten neuen Diskursqualitaeten haben gegenkulturelle Wurzeln. Die elektronische Informationsbewegung, als eigentliche Revolution des zwanzigsten Jahrhunderts, setzt auf den synergetischen Medieneffekt jenseits bloss verbaler Vermittlung. Dies ergänzt sich mit Interaktivität im technischen Sinne zu einer alternativen Medienkultur. Medien sind nicht länger als blosse Verstärker sprachlicher Kommunikation (Habermas) zu fassen. In ihrer Parallelisierung und Überkreuzung werden klassische Medien zu Bastarden und entwickeln hybride Energie, was übrigens als letzte Chance des Buches gesehen wurde. Der Medienphilosoph McLuhan hat an dieser Grenze gearbeitet, und viele Versuche der Hybridisierung folgten auf seinen: meist als Bücher, die ihre eigene Form negierten. Hierfür stehen bereits die literarischen Montagetechniken - bei Walter Benjamin zur geisteswissenschaftlichen Methode der Konstellationenerstellung erhoben - weiters all die Buch-Collagen der sechziger Jahre, die nur allzu bewusst mit der Linearität des Literarischen zu brechen versuchen. In solchen Versuchen versprach sich die Einlösung des gegenkulturellen Anspruchs auf Ganzheit. Auf einen Erfahrungskonsens, der alle Sinne beschäftigt und nicht nur einzelne betäubt. Jetzt verspricht das technische Artefakt diese Chance zur Versöhnung der expressiven und der rationalen Komponente menschlichen Ausdrucks.

Die Energie, die damit kulturell aktiviert wird, ist von anarchischer Art. Sie richtet sich formal gegen kausale Linearität und Eindeutigkeit, sie zielt gegen die Vereinheitlichungs- und Hierarchisierungstendenzen der gesellschaftlichen Moderne. Das Buch "hat aufgehört, ein Mikrokosmos nach klassischer und abendländischer Art zu sein. Das Buch ist kein Bild der Welt und noch viel weniger Signifikant", schrieb einst das Psycho-Philosophen-Duo Deleuze und Guattari. Die Öffnung des elektronischen Schreibraums vollzieht tatsächlich die libidinöse Dekonstruktion der abendländischen kosmischen Ordnung. Wir unterliegen immer noch der graphischen Repräsentation von Bedeutungsstrukturen, aber sie werden in ihrer Rigidität aufgelöst. Schreiben und Lesen wird in Hypertexten durch bildhafte Vollzüge ersetzt. Im Buch finden sich nur angedeutete, im Web hingegen funktionierenden Repräsentationen. Die Icons der Cyberculture entfalten ihre geheimen Mächte ähnlich den magischen Zeichen einer vorrationalen Vergangenheit. Linearität weicht der Mediatrix, dem Gewebe medialer Formen, einer Textur anstelle des Textes.

Die hybride Verbindung zweier Medien wie phonetisch geschriebenem Text und elektronischer Informationsbewegung im Internet ist ein historischer Glücksfall: das Internet ist ein Medienbastard im wahrsten Sinn des Wortes, der instantane Kommunikationsverbindungen mit der Rezeptionsverzögerung, einem Hauptcharakteristikum der Textproduktion, verbindet. Der Text im Zeitalter seiner elektronischen Verfügbarkeit hat dabei seine heilige Aura der Intellektualität verloren und reduziert sich zu einem untergeordneten kulturellen Organisationsprinzip, neben dem andere bestehen. Das Konstruktionsprinzip der Schriftkultur relativiert sich gegenwärtig ebenso wie seine Auswirkungen im Reproduktionsbereich gesellschaftlicher Macht, etwa im klassischen Regulierungssystem der Wissenschaft.

Ein neues Kommunikationsschema

Wir sind erst seit kurzem mit dem Phänomen einer radikal neuen Kulturtechnik konfrontiert: der vernetzten, computermediatisierten Kommunikation. Das Internet steht als Metapher für Kulturtechnik im Übergang. Die Diskussion sorgt für eine Reprise der Frage, wie Wirklichkeit gestaltet wird: Politik und Kultur gehen in diesem Sinn als gestaltende Faktoren in diesem bereits Wirkung zeigenden Transformationsprozess auf. Nichts ist dabei unerheblicher als die Frage, was mit dieser oder jener 'Politik' unter Bedingungen des Internet konkret passiert. Vielleicht lässt genau das auf eine neue Kultur hoffen. Ich möchte abschliessend skizzieren, wie damit einige Prämissen, die bislang für die Bedeutung von Kommunikation ausschlaggebend waren, ausser Kraft gesetzt werden. 'Kommunikation' wurde im 19. Jh. wesentlich als Güterverkehr aufgefasst. Der störungsfreien Übertragung einer Nachricht von A nach B galt das Augenmerk der technischen Kommunikationswissenschaft im 20. Jh. War die Prämisse zuerst, dass die kürzeste Kommunikationsverbindung auch die schnellste sei, so galt als nächste Prämisse die der Eindeutigkeit (und des behavioristischen Reiz-Reaktions-Schemas). Beide resultierten aus der Linearität einer Kulturtechnik der Schriftgesellschaft. Ihr Kommunikationsschema beruht auf einer gesellschaftlichen Machtverteilung, bei der es Produzenten von Botschaften gibt, deren Vermittler und die Rezipienten. Dieses Schema bricht auf, wenn es auch in der schiefen Metapher des Information-Highways mittelfristig überlebt hat.

Wir lernen jetzt, dass Medien nicht unbedingt Informationen vermitteln und Kommunikation nicht unbedingt Nachrichten übertragen. Die technizistische Kommunikationstheorie hat versucht, das Rauschen auszuschalten, aus dem Kommunikation wesentlich besteht: das Uneindeutige, den Lärm, den Schmutz, den Schund - kurz all das, was jetzt übers Internet seinen Eigensinn entfaltet. Das neue Medium ist nicht länger ein sorgfältig gepflegter Kanal, sondern ein komplexes, wucherndes Netz. Alte Privilegien werden unterlaufen, nicht durch die Flut der Bilder oder den Zugang zur Information für alle, sondern durch die Demokratisierung der Produktivkräfte, die in Form von personal computing den Produzenten zurückgegeben werden.

Im Netz sind Beziehungen entscheidend, nicht Kausalitäten. Wenn wir akzeptieren können, dass Kommunikation eine Beziehung ist (Gregory Bateson), dann sehen wir uns einem ähnlichen Paradigmenwechsel gegenüber wie das 19. Jahrhundert, das etwa seine geliebte Vorstellung vom Äther als Substanz aufgeben musste, als Michaels Faradays elektromagnetische Feldtheorie die korpuskulare Atomtheorie ersetzt hatte (auch in der Logik konzentrierte man sich Relationen statt auf Substanzen - vgl. Charles S. Peirce; oder den Bruch mit der euklidischen Geometrie um die Jahrhundertwende durch die theoretische Physik Einsteins).

Die an linearer Textualität orientierte Öffentlichkeit durchläuft einen ähnlich fundamentalen Strukturwandel. Begonnen hat der Bruch (so McLuhans Analyse in Understanding Media) mit der Linearität mit der neuartigen, punktuell-mosaikhaften Wahrnehmung des Fernsehbildes: Nach dreitausendjähriger, durch Techniken des Zerlegens und der Mechanisierung bedingter Explosion erlebt die westliche Welt ihre Implosion. Nichts ist danach mehr, wie es war: es ist das Ende der Perspektivik, für die es immer einen Punkt des Absoluten gegeben hat, in dem die Fluchtlinien zusammenlaufen. Die Teleologie der europäischen Aufklärung hat ausgedient. Und doch lebt eine Grundhaltung der Aufklärer weiter: denn die neuen Kulturtechniken zeigen, wie die einst aufklärerische Forderung nach der Publizität von Gedanken mit immer neuen Mitteln realisiert wird.

Mit anderen Worten - dies als Hommage an Heinz von Foerster, dessen 85. Geburtstag kürzlich hier in Wien geehrt wurde - wir bleiben wohl "dazu verdammt, frei zu sein."


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