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Ist mein Gehirn künstlich ?


© by Helmut Eisendle

In welchem Sinne verwende ich das Wort künstlich ? Beginne ich, bevor ich von der künstlichen Intelligenz spreche, beim Denken, muß ich den Begriff Künstlichkeit einführen, weil ich annehme, daß Denken nur über Sprache, Sprechen, Schrift, also einer Verwendung von künstlichen Symbolen 1) und Zeichensystemen möglich ist. Natürlich klingt es verwegen, wenn ich behaupte: die künstliche Intelligenz und unser Denken seien etwas Künstliches. Sicher aber ist es nicht natürlich, doch aber zumindest so künstlich wie die Künstlichkeit des Computers, dem ich eine Intelligenz, also die Fähigkeit eines Problemlösungsverhalten unterstelle. Ob nun seine oder meine Künstlichkeit die bessere ist, hängt wenn überhaupt, davon ab, welche Probleme gelöst werden sollen.
Die Behauptung von künstlicher Intelligenz über Rechensysteme ist auf einer Seite der Versuch das Gehirn und Nervensystem des Menschen zu imitieren, andererseits eine Technik zu entwickeln, Daten oder Sprache zu transformieren, kodifizieren und zu manipulieren, um noch nicht näher definierte Problemlösungsmechanismen zu konstruieren.
Die Gehirnforschung versucht in mehreren Bemühungen die Charakterzüge des Nervensystems zu erklären, auf welche Weise die Natur, über chemische, elektrolytische oder physiologische Vorgänge so etwas wie das Gehirn herstellt. Sie denkt über Modelle nach oder neuronale Netze und behauptet ihre Funktion. Die Kybernetik oder Computerwissenschaft versucht mit anderen Mitteln Modelle und funktionierende Strukturen von Intelligenz herzustellen. Sie verwendet dazu Computerprogramme.
Die Entwicklung der Sprache im Alltagsleben kann als historische Analogie für das Entstehen von Intelligenz gesehen werden. Die Sprache hat nicht einfach nur Aktivitäten ersetzt, die man praktizierte, bevor es sie gab; ihre wichtigste Funktion besteht darin, neue Formen von Aktivitäten zu ermöglichen und alten Formen neue Gestalten zu verleihen. Sie erweiterte und differenzierte soziale und emotionale Tätigkeiten.
Im Unterschied zur Intelligenz ist der Instinkt eine zweckmässiges Handeln ohne Bewußtsein. Intelligenz hingegen setzt ein Handeln voraus, das sein Ziel kennt. Und dieses Handeln wird durch sprachliche Vorstellungen und die Verwendung von Symbolen und Begriffen, logischen Operationen und motivationalen Grundlagen hergestellt. Der Instinkt aller Instinkte ist die Arterhaltung, die Intelligenz dient der Selbsterhaltung, der eigenen Positionierung und der Kultur. Intellegere heißt ungefähr: etwas merken, wahrnehmen, verstehen. Und das ermöglicht die Sprache.
Die Sprache und Spracherzeugung verkörpern Bedeutungen von komplexen Manipulationen syntaktischer und semantischer Art. Dasselbe vermag der Computer. Er kann Schlußfolgerungen ziehen, während das Zeichen allein nur etwas feststellt und keine Folgerungen ermöglicht.
Programme und Intelligenz, die auf Kommunikation basieren, sind nur ansatzmäßig entwickelt. Das heißt, das menschliche Gehirn entspricht als communication system einer sozialen Kulturmaschine, die auf einer allgemeinen Thematisierung von Selektion und Populationsdenken basiert.
Digitale System von Computern haben den Vorteil, daß sie Informationen genau für lange Zeiträume speichern können. Man kann deshalb zurecht von Computer-Gedächtnissen sprechen. Die analoge Information nimmt mit der Zeit ab und driftet. Sie entspricht eher der Natur einiger Funktionen des menschlichen Gehirns. Die notwendige Digitalisierung in einem Computer verlangt komplexe Hilfssysteme zur Speicherung, Weiterverwertung. Man kann also behaupten, daß das menschliche Gehirn und seine Funktionen denen einer hybriden analog/digital-Maschine vergleichbar ist.
Wenn man auch behauptet, daß Intelligenz ein abstraktes informationsverarbeitendes System ist, ordnet die Leichtigkeit, Unmittelbarkeit des menschlichen Sehens dieses dem intelligenten Verhalten oder der Intelligenz selbst zu. Das Sehen fordert die Entscheidung vom Allgemeinen zum Besonderen, verlangt also deduktive Reaktionen, d.h. aus der Vielzahl der Möglichkeiten wird bei einem Bild durch einen selektiven Vorgang das besondere oder bedeutende hervorgehoben. Wir sehen mit der Entschlossenheit unseres Bewußtseins. Das Maschinensehen - wenn man es annimmt - besteht darin, eine enorme Anordnung von Zahlen in eine andere Anordnung zu bringen. Es werden dazu Algorithmen, also Rechenverfahren, durch das man nach Durchführung endlich vieler gleichartiger Schritte zum Ergebnis gelangt, verwendet. Menschliches Sehen beginnt mit einem zweidimensionalen Bild auf der Retina und endet mit einer Beschreibung von dreidimensionalen Objekten, die ihre Form und Farbe, Distanz und Bewegung festhält und über ein Denk- und Sprachsystem deutbar macht.
Die Sprache ist das Produkt eines künstlichen Vorgangs, in ihrer Künstlichkeit aber die Vorbedingung des Schreibens, Daten-erfassens oder Notierens und Erinnerns. Das gesagte oder geschriebene Wort ist die Substitution einer Handlung, wobei eine Folge von substituierten Handlungen oder Worten eine eigene Mechanik und Funktionalität aufweist. Das geschriebene Wort, noch mehr als das gesprochene, ermöglicht oder erweitert das Denken und stellt die Verbindung zur Außenwelt dar. Versuche der Erforschung der künstlichen Intelligenz haben mit lisp, prolog oder ähnlichen Computersprachen mit passender hardware, software, Architektur und sogenannten Gedächtnismaschinen versucht über formalisierte Logik das System der menschlichen Sprache zu imitieren oder zu verstehen.
Intelligenz kann man als Symbolmanipulation definieren. Ebenso die Phantasieproduktion. Dabei spielt die Heuristik, also die Erfindungskunst oder Anweisung auf methodischem Wege neue Erkenntnisse zu gewinnen, eine große Rolle. Voraussetzung ist eine Wissensbasis, Fakten, Überzeugung und so etwas wie Neugierde oder ein Variationsspiel. Das Zeichenprogramm aaron von McCorduck ist unter Umständen eine Maschine, die der Phantasieproduktion, zumindest vom Ergebnis her, ähnlich ist. Sie ist semi-intelligent, d.h., sie zeichnet Bilder. Das Programm ist in der Lage, die Illusion einer Anzahl von Bildern zu erzeugen. Es verhält sich zu einer von Menschenhand gemachten Zeichnung wie ein platonisches Ideal zu seiner irdischen Verkörperung. Es ist ein Paradigma. Ähnlich verhält sich die Phantasieproduktion. Erst die Deutung und Bedeutung einer Variation gibt ihr den Wert. In der Gehirnforschung hat man bald erkannt, daß Zellverbände - Neuronen, Neuronennetze - und Verbindungen - Synapsen - lernfähig sind, d.h., einzelne Neuronen erhöhen ihre Leitfähigkeit, wenn sie benützt werden und lernen funktionale Aufgaben zu übernehmen. Wenn Zellverbände, die schwach verbunden sind, öfter aktiviert werden, schließen sie sich zu größeren Einheiten zusammen. Ein Blinder lernt besser Hören und Fühlen, ist ein praktisches Beispiel dazu. Bei der Verwendung der Sprache und dem Denken - kann man annehmen - daß es ähnlich zugeht. Erinnerungsfelder, durch die Sprache markiert, werden zu größeren Einheiten und fördern assoziative Muster, das Erkennen von Ähnlichkeiten und das Schließen von Zusammenhängen.
In der Entwicklung und Erforschung der künstlichen Intelligenz mit Rechenmaschinen ging man ähnliche Wege, indem man Modelle vergleichbarer Art konstruierte. Man führte perzeptrons, adalines ein. Eine wichtige Eigenschaft der perzeptrons, adalines ist die Speicherung der erlernten Aufgabe, die an alle Verbindungen und Netze, während des Lernprozesses, verteilt werden. Man kann diese Mechanismen zurecht mit dem menschlichen Gedächtnis gleichsetzen, und doch unterscheidet sich dieses dadurch, daß es sowohl assoziativ als auch übertragend arbeiten kann. Es wurden Netze gebaut, in denen sich motorische Einheiten wiederholt mit sensorischen koppeln und verbinden. Eine Lernmatrix enthält eine Anordnung von Schaltern, die sich zwischen dem motorischen und sensorischen Einheiten befinden. Sensorische und motorische Muster werden assoziiert. Assoziative Netze können auch inhaltsausgerichtet werden, d.h. reizt man ein Netz mit irgendeinem Fragment eines assoziativen Speichers, ruft man die gesamte Antwort hervor. Man nennt das acam, associativer, adressierbarer Speicher.
Gedankenvorgänge verhalten sich innerhalb der Sprache parallel zur Wirklichkeit, ist eine der Behauptungen, welche den Realitätsbezug garantieren. Nun gibt es aber, gerade in Literatur und Kunst Gedankenläufe, für die es keine expliziten, symbolischen Beschreibungen der Außenwelt gibt. Der künstlerische Prozeß wird durch eine innere, solipsistische Symbolik ersetzt. D.h., ausschließlich die Kontinuität rechtfertigt und beweist den Sinn des Vorgehens. Gleichsam ein innerer Roter Faden behauptet, daß es eine Denkarbeit von hoher Qualität ist.
Das menschliche Nervensystem und die konstruierten Computernetze aus Silizium unterscheiden sich, trotz aller vergleichbarer Ergebnisse, als Technologien elementar. Das Nerven-system ist mehrdimensional und nicht unbedingt synchronisiert. Es kann eine große Anzahl von Fehlschaltungen akzeptieren und kann trotzdem unzählige Verbindungen mit jedem seiner aktiven Neuronen und Neuronennetze eingehen.
Computerschaltkreise sind weitgehend beschränkt auf die zweidimensionale Oberfläche und auf wenig mögliche Verbindungen pro aktives Element und einige hundert Chips. Allerdings können diese Schaltkreise mit perfekter Präzision verschaltet und synchronisiert werden.
Das heißt, Computergedächtnisse sind verläßlicher, nicht aber in dem Sinne instrumentalisierbar wie das menschliche Gehirn.
Die Erforschung der künstlichen Intelligenz über Computer hat sich mehr oder weniger mit den Bereichen Problemlösen und Theorembeweisen befaßt und dabei beachtliche Erkenntnisse und Fortschritte erreicht: Identifikation von Objekten und neue Sprachen: macsyma, prolog, acronym, consight oder Schach- und andere Spiele: chess, kaissa, paradise, das Begreifen der menschlichen Sprache: shrdluz, boris, mycin, dendral, prospector, xcon.
Dennoch weisen alle Programme Problematiken auf. Den Programmen fehlt das Alltagswissen und Denken, d.h. sie kennen ihre Grenzen nicht, sind unsensibel in Bezug auf einen externen Kontext und neigen dazu, auf einfache Fragen falsche Antworten zu geben, die meistens außerhalb der Bereiche sind, für die sie konstruiert wurden. Dieser Antworten sind zwar perfekte logische Konsequenzen der Regeln, denen die Systeme unterworfen sind, haben aber nichts von der Phantasiequalität des abweichenden menschlichen Denkens. Das heißt, es stellt sich bei der Definition von Intelligenz die Frage, ob die Fehlervariation nicht wichtiger ist als die einfache Lösung ( H.E., Das Fehlerverhalten beim Lösen von Intelligenzproblemen als weitere Information über die Struktur der Persönlichkeit, Dissertation, 1970, Carl Franzens-Universität, Graz)
Die biologischen Annahmen, die bezüglich der Funktionen des menschlichen Denkens erforscht worden sind, lassen sich folgendermaßen erklären: Es gibt eine strukturale Variation auf allen Ebenen des Nervensystems. Dabei spielt eine gewichtete Auswahl, die sowohl in der persönlichen Geschichte des Menschen wie auch in seiner Evolution begründet sind eine besondere Rolle, um besondere Funktionen zu aktivieren. Die selektive Intelligenz ist nicht auf spezifische Details ausgerichtet, sondern erstellt ein persönliches und typisch menschliches Repertoire zur Verfügung. Die Teileinheiten dieses Repertoirs sind mit großer strukturaler Vielfalt ausgestattet, die ausreichen, um Assoziationen hervorzurufen und Überlappungen verschiedener Netze zu veranstalten. Das heißt: ein System oder das Gehirn muß ein Grundrepertoire besitzen. Wahrnehmung und Verarbeitung in Symbolbedeutungen müssen die Verschiedenheit der Außenwelt begegnen und darauf reagieren können. Das System oder Gehirn muß eine grundlegende Mechanik auslösen, um das Repertoire zu erweitern, um sich der Außenwelt anzupassen oder sie im speziellen Fall zu verändern. Das Gehirn verfügt über die Möglichkeit der nichtlinearen Interaktionen und Kommunikationsformen. Durch die Sprache, eine Symbolspezialität, steigt die Komplexität nicht mehr linear, sondern überproportional.
Defacto werden nicht Sätze oder Sinnsprüche erinnert, sondern Begriffe, assoziative Cluster mit spezifischem Symbolgehalt.
Die Sprache der Literatur beginnt sobald das Symbolische der Sprache wirksam geworden ist, das sich mit der Wirkung zu verbinden hat. Es geht also um die Relationen zwischen den Bedeutungen, das die literarische Sprache ausmacht. Die geläufige Sprache kommt überhaupt nur ins Spiel durch individuelle, besondere Vorfälle. Sie wird durch Umstände erzeugt, benutzt und wieder abgelegt. Der Symbolgehalt der Sprache ist keine literarische Kategorie. Er ist mehr oder weniger ein systematischer Versuch mit und an der Sprache. Darüber wird der Sinn der Sprache erkannt. Die in der Literatur entstehende Sprache, das Verfahren der Sprachbildung selbst wird als Ausdruckverfahren verwendet; Literatur macht also Sprache in der Sprache. Die Sprache fordert, daß die Dinge durch symbolische Objekte, in Form von Worten und Gedanken ersetzt werden. Von der Vieldeutigkeit der allgemeinen Sprache verfolgt die Literatur das Ziel der Eindeutigkeit und Bedeutung.

1) Die Verwendung von Ideogrammen, während ich versuche das Gehirn zu erklären, zwingt mich ein Pidgin-Englisch zu verwenden. Oder: Ideogramme neigen dazu, eher Ereignisse auszudrücken als Prädikate und der Formalismus der Bezeichnungen, die ich verwende, wenn ich vom Computer oder vom Gehirn spreche, ist ein Vorgang, vorhandene Ereignisse und Prozesse mit einer eigenen Sprache darzustellen. Das Englisch der Computerbegriffe hat also die Funktion einer Brücke zwischen meiner Sprache, der geisteswissenschaftlichen und der Sprache über die Mechanismen innerhalb eines Computers.


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