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in der strassenbahn


über nichtlineare bewusstseinszustände in der strassenbahn

© 1978/1999 Hermann J. Hendrich

das ansehen wird ein durchleuchten, wenn die sucht, sich selbst immer alles klar zu machen, das normale überschreitet und dorthin vordringt, wo nur mehr der mechanismus der freien rede das sprechen produziert, das kein gewöhnliches zuhören mehr duldet, sondern sich ungehindert ergiesst, ohne dass der gegenüber, versuchend teils seinem gehör, teils seinem gesicht den grösseren wert an der momentanen beobachtung zu verleihen, die möglichkeit hat, in seinen äusserungen zu dem vorgebrachten verstanden zu werden, und bald erkennt, dass er gar nicht gehört würde, so intensiv ist die beschäftigung des sprechenden, dem man das drängende glaubt, auch wenn er es nicht pausenlos beschreiben würde in seiner angst, irgendwo eine lücke zwischen den vielen gliedern, die in ihm das seltamste leben führen, zu hinterlassen, denn letzten endes steht doch hinter dem mechanismus, hinter der schrankenlosen ausbreitung und dem unerhörten preisgeben ins leere nur der einzige wunsch nach dem erlebnis des nicht mehr allein seins, des tiefen begreifenwollens des anderen, der auf seiner seite vorsichtig die antworten abwägt, denkend, während er hört und aufnimmt, wenn er spricht die reaktionen erfassend, und so stimmt sprecher und angesprochener im fieber des dranges gehört zu werden überein.
Hermann Hendrich - 1960

nach kurzer fahrt in der strassenbahn während der einsetzenden dämmerung bleibt der blick aus den weit offenen augen in einer richtung auf die rasch vorübergezogenen häuserwände mit fenstern, türen, geschäftslokalen und dazwischen angeordneten plakatwänden scharf eingestellt. die fahrgäste werden als genau umrissene silhouetten wahrgenommen soweit das blickfeld reicht, besonders dann, wenn sich jemand bewegt. familiäre gesichter lösen sich in fremde züge auf. die sehweise, die repräsentation der umwelt muss sich also erweitert haben. die schriftzeichen auf den geschäftsportalen werden als solche erkannt, aber die bedeutung der buchstabenagglomeration kann nicht festgestellt werden.

die formen und farben der einzelnen plakate erscheinen äusserst klar, ohne zu einem bild zusammengebracht werden zu können. spiegelnde glasflächen, dunkelbraune leisten um sie herum, es beginnen die erscheinungen selbst bedeutung zu gewinnen, und die begriffe, die sonst die repräsentation der dinge beherrschen, sind nicht angesprochen. es ist keine anstrengung zu spüren, um den blick diese ganze zeitlang, mehrere minuten, ungebrochen gerade nach vorn gerichtet zu halten. nach diesen minuten erweitert sich die visuelle aufmerksamkeit auf das ganze gesichtsfeld, es ist keine unterscheidung zwischen vorder- und hintergrund möglich, die bewegung der einzelflächen gegeneinander, die verschiebungen und überdeckungen können beobachtet werden, ohne dass der blick verändert wird, und das alles gleichzeitig. während dieser zeit werden jedoch auch alle geräusche wahrgenommen, und im gegensatz zum bildhaften erleben können sprachliche folgen sinnhaft verstanden werden, auch mehrere nebeneinander. das denken hat in einem gewissen sinn ganz aufgehört, wenn keine anstösse oder analogien weiterverfolgt werden, nach der kurzen zeit der wissenschaftlichen beschäftigung mit der funktion der verschiedenen bereiche unseres gehirns und den vorgängen in unserem bewusstsein, die etwa gegen die mitte dieses jahrhunderts begann, fehlt der grosse überblick neben einer weiteren begrifflichen vagueheit und schulischen bezogenheit der einzelnen ausdrücke. die gegenwärtige unmög-lichkeit (1), eine allgemeine theorie des bewusstseins zu entwickeln, führt den interessierten zur beobachtung einer reihe von randgebieten, die noch ungesichert erscheinen. aber die mögliche bedeutung der buchstabenagglomeration kann nicht festgestellt werden.

dieser bewusstseinszustand scheint ähnlich dem traum, der für den erwachenden leider in seine erzählbaren und auch hintereinander anzuordnenden stücke geteilt wird, mehr von der rechten grosshirnhälfte beeinflusst zu sein, deren organisation die kinästhesie ermöglicht, wobei visuelle und bewegungsreize gleichzeitig verarbeitet werden müssen. die linearität unseres zeitlichen empfin-dens (in unserer postindustriellen kultur) wird dagegen entscheidend von der linken gehirnhälfte gesteuert, die grundsätzlich für die sequentielle und analytische verarbeitung organisiert ist. zeit mag als dimension des bewusstseins exisitieren, wobei die hintereinander angeordneten modi oder phasen der gleichzeitigkeit und augenblickbezogenheit durch die lineare steuerung in eine zeiterfahrung eingebaut werden. für unser gefühl einer dauer muss die kapazität des kurzzeit-gedächtnisses eine entscheidende rolle spielen, beziehungsweise die in zyklen ablaufende verschiebung der speicherinhalte.aufeinanderfolge von eindrücken und das gefühl einer dauer führen zu konzepten von vergangenheit und zukunft,deren ausprägung natürlich von der sondern die kapazität der bewussten wahrnehmung gerade ausreicht, die ungeheure fülle der visuell und auditiv sinnlich erkannten details aufzunehmen. der fortschreitende verlust an bedeutungen lässt in einem ein starkes gefühl der fremdartigkeit aufkommen. die normale sphäre der emotionalität wird unauffindbar, da ähnliche schnitte die sonst in den bereich des gefühlvoll aufgenommenen den informations-transport hemmen. also ohne gefühl. die möglichkeit, plötzlich einer wirklichkeit gegenübersitzen zu meinen, die einen selbst so wenig einschliesst. und die rückmeldungen von der harten unterstützungs-fläche der strassenbahnbank oder dem rauhen überzieher des nachbarn, der an die blosse hand auf dem eigenen oberschenkel gelegentlich streift, genauso da und wirklich, wie das vorbeiziehen der schräg ansteigenden fenster des grauen wohngebäudes vor den scheiben, köpfen und hüten.

zu beginn versuche ich, in einer ruhenden körperlichen stellung eine grosse distanz zu der eigenen emotionalen sphäre aufzubauen und die mir gegenüberliegende sonnenüberstrahlte hauswand in der mitte meines gesichtsfeldes scharf zu betrachten. wenn dies ohne störung eine zeitlang gelungen ist, schiebe ich mit einer merkbaren konzentration die bewusste erfassung der visuellen eindrücke weiter und weiter aus der mittellage heraus.
mit einer art umschnappen tritt plötzlich eine andere form der visuellen wiedergabe ein, an stelle der räumlich/plastischen vorstellung der umwelt liegt eine farblich gegliederte fläche vor mir, wobei die sonst detailreiche schärfe im zentrum des sichtbaren feldes kaum vorhanden ist. auch am rand des gesichtsfeldes kann ich beobachtungen durchführen, ohne dass die augen verschwenkt werden müssen, sondern weiter starr in die alte richtung blicken. bewegungen der schatten von windgeschüttelten büschen, die auf die mauer fallen, sehe ich gleichzeitig und kann ihren rhythmus, unabhängig davon, ob sie vom linken oder rechten rand stammen, in übereinstimmung setzen. die ichbezogenheit meines bewusstseins beginnt sich zu verlieren, da es von der totalen inanspruchnahme durch die menge der optischen reize erfüllt ist. wenn es mir gelingt, diesen zustand ohne unterbrechung noch eine gewisse zeit aufrecht zu erhalten, wird es mir unmöglich, die gegenstände als solche zu erkennen (2), ihre vorstellungs-bedeutungen verlieren sich und lassen formen, muster und farben zurück, die keinen sinnhaften zusammenhang mehr besitzen.

das zurückschnappen in die gewöhnliche betrachtung der umwelt geschieht durch eine störung, die vom akustischen herrührt.
während meiner studienzeit in einer wohnung gegenüber eines gemeindebaues gelang mir einmal ein zeitlich lang anhaltendes ereignis dieser art, das ich im sitzen mit einem blick durchs geöffnete akkulturation geformt wird, die das individuum empfangen hat. wenn es verschiedene arten der zeiterfahrung - die ungeheure fülle der visuell und auditiv sinnlich erkannten details - gibt, dann durch die spezielle empfindung der dauer, die von den bewusstseinsvorgängen und -inhalten abhängig ist. zum beispiel bei deploration verkürzung, bei anreicherung verlängerung in der empfindung. dabei möchte ich extreme zustände der vollständigen abkapselung der sinnlichen wahrnehmung ausnehmen.
die verschiedenen bewusstseinszustände, die vom einfluss der rechten gehirnhälfte geprägt sind, können gemeinsam durch den mangel an linearität gekennzeichnet werden. gerade bei betrachtung des traumes, vor seiner linguistischen fixierung, entsteht oft der eindruck von einer strukturierten zeitlosen ganzheit, wo nach abbruch einer solchen eine andere übergangslos aufgebaut wird. dass später das analytisch vorgehende wache bewusstsein daraus geschichten herstellt, weist auf die art der organisation des linken teiles unserer gehirne hin. ähnliche erfahrungen stammen aus dem bereich der bewusstseinsbeeinflussung durch eine reihe von substanzen wie meskalin, lsd etc, bei denen das erlebnis einer zeitlosigkeit hervorgehoben wird. in diesen bewusstseins-zuständen scheint sich eine ablösung mit einer art umschnappen tritt plötzlich eine andere form der visuellen wiedergabe ein von der analysierenden und sprachlichen seite darzustellen, sodass die sonst abgeschwächte, bzw unterdrückte reichhal-igkeit der sinnlichen erfahrung einen besonderen erlebnisinhalt erfüllt. nicht zuletzt kann man die bedeutung, die drogen und psychopharmaka in der westlichen welt neuerdings gefunden haben, auf die den einzelnen durch die kultur die ihn umgibt entzogenen erfahrungen auf kin-ästhetischer und visueller ebene zurückführen, und der damit zusammenhängende widerstand gegen die zivilisatorische technik und ihre angewandten wissenschaften. wobei ie frage zu stellen wäre, was angewandte wissenschaft eigentlich bedeuten soll.

die ich-bezogenheit meines bewusstseins beginnt sich zu verlieren, die klassischen und neueren formen der meditation bringen für den betrachteten bereich der bewusstseinsmöglichkeiten ausreichend weitere beispiele. aufschlussreiche überlegungen zur linearität bzw nichtlinearität hat die linguistik und anthropologie (3) angestellt, da aus den sprach- und kulturformen einer reihe relativ abgeschieden lebender gemeinschaften der schluss gezogen wurde, dass das denken und das bewusstsein solcher menschen zum teil frei von den uns als völlig natürlich und selbstverständlich erscheinenden linearitäten und kausalen verknüpfungen war.

wenn das linear arbeitende bewusstsein den augenblick selbst, wie Bloch im antizipierenden bewusstsein schreibt , als erlebnis ausschliesst oder verdunkelt nach längerer einstellung auf die fenster auf den bau gegenüber, bereits am späteren nachmittag, einleitete. nach längerer einstellung auf die zum teil mit vorhängen versehenen fenster tritt zu der visuellen ausfüllung in meinem bewusstsein das gefühl, ich könnte hindurchsehen, die mauern, die die räume der wohnungen zur strasse hin abdecken, seien aus durchscheinendem pergament. dieser vorgang lässt sich schlecht beschreiben, denn das entstehende gefühl, das keine weiteren gedanken oder vorstellungen abstrakter natur auslöste, wuchs in seiner stärke und veränderte dadurch das visuell wahrgenommene, bis die korrektur durch die vorhandenen bildmuster zu schwach geworden war. dieser vorgang entwickelte sich vielleicht 15 minuten lang, bis ich völlig erschöpft aus dem sessel zu boden glitt und lange ausgestreckt lag, mit tränen in den augen.

zu einer langen zeit während meines ersten wien-aufenthaltes musste ich jede woche einmal mittags vom karlsplatz oder getreidemarkt aus die mariahilferstrasse bis zur neubaugasse hinaufgehen. fast immer erzeugten die vielen menschen, die mir nach dem einbiegen beim bücher-herzog entgegenkamen, ein merkbares nachlassen meiner nach innen gewandten aufmerksamkeit, der beschäftigung mit den nicht erledigten arbeitsaufgaben, den enger befreundeten studienkollegen und assistenten, bis manchmal schon nach wenigen schritten jeder solcher gedanke aus meinem bewusstsein verschwand, das sich nun ganz mit gesichtern, bewegungen und gruppierungen von menschen beschäftigte. in diesem zustand beobachtete ich eigentlich nicht, ich ging mit unverwandtem kopf geradeaus, den blick starr nach vorne gerichtet, wobei ich die entgegenströmenden menschen total aufnahm. diese bewusstseinslage machte die auftauchenden gesichter für drei oder vier sekunden zu einer individualtität, die mit ihren physiognomischen gegebenheiten einen menschen, seinen bewusst-seinszustand und seine geschichte stärker beschrieb als ich es hätte irgendanders sagen können, wenn ich die person lange und gut gekannt hätte. die geschichte eines individuums hat im gesicht und in seinem bewegungsverhalten solche spuren eingekerbt, dass sie auch wieder erlesbar sein müssen, der äusserst kurze zeitraum verhinderte jede interpretation der beobachtungen, die in so raschen abständen eintrafen und pulsierend durch das gesichtsfeld wanderten. normalerweise brachte mich die anstrengung selbst aus diesem zustand, wenn der fast endlose strom der unmittelbaren prägungen nach vielen minuten sich in einen indifferenten flachen vorhang auflöste. zurück blieb ein gefühl der hoffnungslosigkeit; und die erschöpfung des gesamten reizaufnahme- und -verarbeitungs-apparates.

zum teil mit vorhängen versehenen fenster, so hat der mensch die möglichkeit, in jenen zuständen seines bewusstseins, denen die lineare organisation und sprachliche prägung abgeschwächt wurde oder ganz abhanden gekommen ist., das jetzt, die unmittelbare summe der von uns wahrnehmbaren sinnesreize, zu sein. die art dieses nichtlinearen bewusstseinszustandes kann einen unmittelbaren nutzen für das inividuum mit unserem heutigen wissen bis die korrektur nicht auslösen, es scheint sich um einen rest einer stammesgeschichtlich weit zurückliegenden verhaltensweise zu handeln, in der der hominide in verfolgung oder auf der jagd eine kurze zeitlang befreit von angst oder gier die gesamte ihn umgebende wirklichkeit so zeitlos aufnehmen konnte, dass sich seine chancen nicht gefressen zu werden oder fressen zu können, durch das ruhige reagieren, wenn eine lösung für den unmittelbar darauffolgenden augenblick gefunden war, stark verbesserten. mir ist der rein spekulative charakter dieser feststellung klar, aber so lang ein merkbares nachlassen meiner nach innen gewandten aufmerksamkeit keine entwicklungsgeschichte der bewusstseinsbedeutungen der einzelnen gehirnteile esxistiert, muss ich doch annehmen, dass gerade solche bewusstseinsstrukturen, auf grund der seit langem berichteten beschreibungen, in uns angelegt sind und keine spezielle neuentwicklung des homo sapiens darstellen. vor einiger zeit hat Andreas Okopenko (4) einen bericht über eine ausserordentliche erlebnisart veröffentlicht, den blick starr nach vorne, in der er der vorstehenden beschreibung ähnliche und unähnliche zustände mit dem namen „fluidum“ bezeichnet. er selbst weist auch auf eine grosse anzahl von beispielen aus der europäischen und asiatischen literatur hin, in der diese bewusstseins-zustände beschrieben sind. im gegensatz zu ihm scheint mir die von ihm herausgestellte affektive komponente für die besondere nichtlineare struktur des erlebnisses nicht bedeutend zu sein. trotz der relativ gleichlautenden beschreibung des bewusstseinzustandes misst Okopenko dem äusserst kurzen zeitraum des zu ihm führenden oder den von ihm im nachhinein ausgelösten gefühlen einen so wichtigen anteil zu, das manche seiner darstellungen einen übergrossen anteil davon zu enthalten scheinen. es mag die bedeutung für den erlebenden darin zu suchen sein, dass sein interesse am erreichen bzw an der vorbereitung des nichtlinearen bewusstseins-zustandes - dem fluidum - sehr gross ist, wie bei anderen die rituale der meditation.

Anmerkungen: (1) zu dem sobenannten „hard problem“ in der bewusstseinsforschung gibt es eine fülle von artikeln und diskursen, siehe unter anderen die zusammenstellung „Explaining Consciousness: The ‘Hard Problem’“ Part 1 bis 4, erschienen in „Journal of Consciousness Studies“ Vol 2 No. 3 ‘95 und Vol 3 No.1, 3 und 4, ‘96
(2) „A Rdzogs-Chen Buddhist Interpretation of the Sense of the Self“ by Jeremy Hayward in Journal of Consciousness Studies Vo. 5, No 5-6, ‘98, p 611-626.
(3) Piaget, Lévi-Strauss
(4) Andreas Okopenko: „FLUIDUM“ in protokolle 77/2 S 170-194


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