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Thesen zu Telematik, Arbeit und Freizeit


© Franz Nahrada

Spätestens, seit auf dem Donauinselfest 1995 zwischen Konzertbühnen und Marktständen ein "Cyberzelt” zum "Surfen” im "Web” einlud, sind die neuen interaktiven Medien sichtbar in die Wiener Freizeitkultur eingedrungen. Im selben Jahr hatte das erste "electronic Cafe” Premiere und wurde zur Dauereinrichtung, in der man an der "elektronischen Bar” statt in Zeitschriften in Webpages blättert. Am Laurenzerberg eröffnet ein "Virtuality” - Treffpunkt, in dem man sich mit anderen in elektronisch verteilten Phantasiewelten treffen kann. Im Wiener Kabeltext wird mit interaktiven Spielen experimentiert. Eine in die tausende gehende Wiener Subkultur benutzt Mailboxen wie "Blackbox” und "Magnet”, um zu tratschen, zu spielen, neue Bekanntschaften zu schliessen....- und so weiter.
Man kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß es sich bei den beschriebenen Beispielen um Vorboten handelt, um die Spitze einer Entwicklung, die Freizeitverhalten und Freizeitbedürfnisse ebenso nachhaltig beeinflussen und verändern wird wie das Auto und das Fernsehen. Vielleicht sind die Wirkungen und Einflüsse, die aus diesem Bereich auf Stadtplanung und Stadtentwicklung resultieren, nicht weniger wichtig als jene, die parallel dazu im Bereich der Wirtschaft vor sich gehen (Telearbeit-EDI-virtuelle Firmen). Vielleicht gehen diese Einflüsse sogar so weit, daß Begriffe wie "Arbeit” und "Freizeit” als Beschreibung sozialer Realität ausgedient haben. Im folgenden dazu einige thesenartige Überlegungen:

1. Die digitale Revolution verändert unseren Raumbezug

Eigentlich verdankt die Telekommunikationsrevolution ihre Dynamik dem Zusammenwirken zweier unterschiedlicher technischer Errungenschaften: Einerseits der Fähigkeiten des Computers zur unterschiedslosen universellen Symbolverarbeitung im Bereich von Bits und Bytes und andererseits einer drastischen Verbesserung der digitalen Übertragungsmedien. Beide sind für sich genommen spektakulär, entfalten aber in der Kombination eine epochal zu nennende Synergie. Während eine klassische Fernsehübertragung noch ein eindeutiges Verhältnis von Abbild und Realität kennt, ist die Realität der digitalen Medien "überall zugleich”, weil sie sich in bits und Bytes verselbständigt. Die Telekommunikationstechnologie transportiert im Computer repräsentierte, simulierte, manipulierte Realität.
Daß dadurch physische Entfernungen auf Null zusammenschrumpfen ist die erste Folge der Synergie von Telekommunikation und Computern. Man "trifft” sich an "virtuellen Orten”, ebenso wie man über das Internet eine New Yorker Straßenkreuzung aufsuchen kann, weil dort eine Kamera am Netz hängt. Der Computer ist Wegweiser und Weg zugleich.
Das Interface zwischen Mensch und Maschine ist durch die Telekommunikationstechnologie zu einem Interface des unmittelbaeren Bezugs zwischen Räumen geworden. 1
Die zweite Folge der oben beschriebenen Synergie ist Mischung der digitalen Repräsentation mit verschiedenen, an ihren Aus- und Eingabeterminals vorhandenen "Realitäten” - und sie ist der eigentliche Witz und enthält das enorme Potential der neuen Medien im Freizeitbereich. Der Computer für sich genommen kann noch so schöne Simulationen bieten - die in ihm gespeicherten Daten sind grundsätzlich endlich und damit langweilig 2. Ganz anders, wenn wirkliche Subjekte und Objekte als Spieler einbezogen und mittels Telekommunikation Eintritt in die mystische Sphäre Digitalität erhalten: Dann wird Realität zum Anhängsel ihrer virtuellen Repräsentation und eine neue "Hyperrealität” entsteht, in der Wirkungen und Ursachen ihre bisherige raumzeitliche Fixierung verlieren.
Sehr schön anschaulich gemacht wurde diese Vermischung von Virtualität und Realität unlängst bei einem Projekt im Rahmen der Ars electronica namens "checkpoint 95”. In zwei Studios in Moskau und New York saßen russische und amerikanische Kriegsveteranen in Autoattrappen, deren Bedienungselemente mit Modellautos auf der Linzer Nibelungenbrücke verbunden waren. Kleine Kameras in den Modellautos versorgten die VR-Brillen der Teilnehmer, die dadurch in Linz "telepräsent” waren - als Liliputaner in einem Spektakel von Riesen.
Diese digitale Mischrealität mag dem Probanden heute noch Übelkeit zufügen angesichts der auftretenden Zumutungen an den Wahrnehmungsapparat, aber sie hat eine ganze Reihe von Verlockungen in petto.
- Zum ersten verspricht die "telepräsente” Reise etwas mehr zu sein als ein pures Abbild von Realität: ein Hauch von Unmittelbarkeit, von Authentizität, von eigenem Erlebnis wird da geboten ohne alle damit verbundene Risiken und Mühen. Andreas Okopenko hat die Möglichkeit des selbständigen "Navigierens” durch die Hyperrealität als Überwindung langweiligen "Ostblock-Tourismus” gepriesen, der nur vorgeschriebene und geprüfte Blicke erlaube. Der Internet Jargon bezeichnet das Navigieren im World Wide Web als "surfen”. Das Modellauto fährt jetzt, und weil ich es so gewollt habe, an den Fuß des Moderators - der mir vorkommt wie ein Felsen.
- Damit verbunden ist auch die faszinierende Möglichkeit, die Grenzen der eigenen Identität zu überschreiten. Wie gesagt - "nobody cares if you are a dog on the Internet”. Für Rollenspiele muß man sich nicht maskieren, das besorgt die Hyperrealität. Im Chat der Geschlechter kann sich "Mann” als "Frau” ausgeben, mit Verhaltensweisen kokettieren und seinesgleichen täuschen. - Wo die Hyperrealität Handlungsfeld ist, ist zum dritten auch das Überschreiten des in der Realität Erlaubten und Möglichen kein Problem mehr. Man trifft sich mit Gleichgesinnten in Fantasy-Welten, benimmt sich wie ein echter Barbar, oder erkundet die Galaxis mit millionenfacher Überlichtgeschwindigkeit. Auf Internet Ethik-Foren wird die Verwerflichkeit virtueller Morde diskutiert.
- Wo heute noch der Einsatz persönlicher Phantasie notwendig ist, um der Hyperrealität die nötige Plastizität und Tiefe zu verleihen, versprechen neue Interfaces sensorische Stimulation. So verspricht viertens die Hyperrealität tiefer und nachhaltiger "unter die Haut” zu gehen als Erlebnisse, die auf abgestumpfte Sinne treffen.

2. Die Simulation ist die perfekte Ware

Kein Wunder also, wenn weltweit Computerfirmen, Telekommunikationskonzerne und die Unterhaltungsindustrie Allianzen und Zusammenschlüsse bilden, um mit enormem technischen und finanziellen Aufwand den digitalen Freizeitmarkt der Zukunft zu erobern. Einstweilen haben wir zwar nur das Internet als "Datenhighway”, aber schon wird in den Marketingabteilungen der Konzerne die Frage aufgeworfen, wie der Konsument zum Produkt kommt. Die Manager der Freizeitindustrie denken zum Beispiel an "digitale Freizeitparks”: "Mit der richtigen Ausrüstung (raumhohe Projektionsflächen, bewegliche Plattformen, einige Crimson Reality Engines zur Erzeugung hochauflöslicher Bilder) kann man ganz Disneyland in einen Dodge Caravan stecken”, erklärt ein Manager des Entertainmentkonzerns Sega dem Redakteur der amerikanischen Computerzeitschrift Wired. 3
Andere wollen sich mehr dem Haushaltsmarkt widmen und sehen in "Video on demand” die Vorstufe einer "Reality on Demand” - Industrie, die interaktive Abenteuer jeder Art in Millionen von Haushalte liefert. Wenn jeder Film ohnehin in tausende digitale Schnippselchen zerschnitten wird, warum sie dann nicht interaktiv neu zusammensetzen, je nach Reaktion des Betrachters? Und mit der selben Inbrunst, mit der vor einem Jahrzehnt noch an Reagans Wunderwaffe gegen das Reich des Bösen gewerkt wurde, widmet sich die Ingenieurskunst dem höheren Auftrag, schiere Rechenleistung zuwege zu bringen, um mittels Breitbandkommunikation den Konsumenten die perfekte Simulation ins Haus zu liefern.
Kein Zweifel, daß dieser Auftrag erfüllt werden wird, technisch gesehen. Aber jede Menge Zweifel sind gerechtfertigt, ob das ganze Unterfangen, einen neuen Wachstumsmarkt Freizeitindustrie zu schaffen, nicht von vorneherein an einer Unmöglichkeit ganz anderer Art scheitern wird. Die Überlegungen der Mediengiganten gehen nämlich davon aus, daß sie auch in Zukunft genug zahlungsfähige Konsumenten vorfinden werden, in deren Haushalte sie gegen gutes Geld die Ware Information und Simulation transportieren können.
Die eine Seite der Gleichung, die dabei unterstellt wird, ist die Kommodifizierbarkeit von Information und Simulation. Im Prinzip geht die Medienindustrie von einer linearen Extrapolation der Hollywood-Ära in die digitale Zukunft aus, von globalen Traumfabriken mit einer noch stärkeren Komponente auf der Verbindung zwischen Marketing, Moovies und Merchandising. War im Film das product placement bereits fester Bestandteil des Sets, wird das digitale Movie auch gleich noch zum Verkaufskatalog. Bei den Technologiegesprächen Alpbach 1994 wurde das mittleweilen sprichwörtliche Bild von der online Auktion von Indiana-Jones’ Hut geboren: das Feilbieten von Waren im Kontext ihrer Präsentation im Entertainment. Die Medienintegration bedeutet vor allem die zunehmende Ununterscheidbarkeit von Werbung, Information und Marktplatz. Der elektronische Marktplatz ist nicht nur universell, er vermag Zugriff auf mehr Anbieter zu vermitteln als die größte Shopping Mall 4, er soll auch noch gleich das Kaufmotiv mittransportieren. Kein Wunder, daß sich im Gegenzug die Einkaufszentren in Unterhaltungszentren verwandeln wollen, um den Anschluß an die Konsumenten nicht zu verlieren.
Die Medienindustrie und ihre elektronischen Transportwege machen praktisch wahr, was der Ende 1994 durch Freitod aus dem Leben geschiedene Guy Debord in seiner "Gesellschaft des Spektakels” vorausgesagt hat: die tendenzielle Ununterscheidbarkeit von Warenproduktion und Unterhaltungsindustrie. Seine Kritik der "Trennungen”, der abstrahierenden und zerstörerischen Qualität des warenförmigen Reichtums ist aktueller denn je: je mehr "Schein” und "Spektakel” die Distributionsform gesellschaftlichen Reichtums bestimmen, umso geringer wird die Chance, daß dieser sich als System von sinnlich-konkreten Bezügen überhaupt noch erhält. Der Bestand an Irrationalität im Gesamtsystem nimmt in genau dem Ausmaße zu, je perfekter die Details funktionieren. Der Schein von Konkretheit, der für den Akt der Konsumtion erzeugt werden muß, ist genau die Abstraktion, die das Leben in unzusammenhängende Stücke zerschneidet.

3. Die Arbeitsgesellschaft geht zu Ende - und mit ihr die Freizeit

Die andere Seite der Gleichung, mit der die Freizeitkonzerne ihre Milliardeninvestitionen rechtfertigen, ist nicht weniger fragwürdig geworden. Um "video on demand” zu einer lohnenden Investition zu machen, muß der durchschnittliche "verkabelte” Haushalt tausende Dollar jährlich ausgeben. Die Existenz einer breiten Mittelschicht gutverdienender Konsumenten ist conditio sine qua non solcher Projekte. Was aber, wenn gerade aufgrund der rasenden Fortschritte der Informations- und Kommunikationstechnologien die Voraussetzungen dieser Gleichung unwiederbringlich aufgehoben werden? Der amerikanische Ökonom und Trendforscher Jeremy Riffkin behauptet in seinem Buch "The End of Work”, daß die neuen Technologien mit den Produzenten auch die Kaufkraft der Konsumenten abschaffen:
"Unsere führenden Geschäftsleute, Ökonomen und Politiker sagen uns, daß die steigenden Arbeitslosenzahlen nur kurzfristige "Anpasungen” darstellen, die von den weltweiten Fortschriten ins Informationszeitalter kompensiert würden. Aber Millionen von arbeitenden Menschen bleiben skeptisch. Allein in den Vereinigten Staaten vernichten die Unternehmen zwei Millionen Arbeitsplätze jährlich. Obwohl auch neue Arbeitsplätze geschaffen werden, so doch hauptsächlich in Niedriglohnsektoren, und viele davon sind befristete und Teilzeitarbeitsverhältnisse.”5
So ist es in den USA heutzutage in den Mittelschichten durchaus verbreitet, zur Haltung des bisherigen Lebensstandards zwei oder gar mehrere Arbeitsverhältnisse einzugehen. Damit wird aber die bisherige Freizeitsphäre zur statistischen Fiktion und verwandelt sich immer mehr in den Kampf ums Überleben: bei den einen als Mehrarbeit, bei den anderen als Arbeitslosigkeit.
Die Telekommunikationstechnologien und der Datenhighway sind Schlüsseltechnologien bei dieser dramatischen sozialen Entwicklung: war es zunächst die unternehmensinterne Vernetzung durch Local Area Networks und die dadurch mögliche Kommunikationseffektivierung, die vor allem Kahlschläge im unteren und mittleren Management verursacht hat - Eastman Kodak hat zum Beispiel heute nur noch vier Managementstufen, wo vor wenigen Jahren noch dreizehn üblich waren -, so folgt nun die "Selbstbedienungsgesellschaft”. Andersen Consulting, eine weltweit führende Unternehmensberatung, sieht allein im Bankwesen einen Personalabbau von rund 30 bis 40 Prozent in den nächsten Jahren voraus. Telebanking, Bankomaten, Kundenberatung per Video sind nur einige der Innovationen, die hier zu greifen beginnen, ähnliche Entwicklungen vollziehen sich im Bereich des Handels. Die dritte und möglicherweise dramatischste Stufe der Veränderung des Verhältnisses von Arbeit und Freizeit besteht in der Ausbreitung von Telearbeit. Die Möglichkeit, mithilfe von Computern und Telekommunikation auch zu Hause oder im Nachbarschaftsbüro zu arbeiten, wird von vielen Arbeitnehmern durchaus mit Sympathie betrachtet - bedeutet doch schon die schlichte Ersparnis an Wegzeit einen Gewinn an Freizeit. Für Firmen eröffnen sich freilich damit ganz neue Freiheiten der Kalkulation, die im Endeffekt den spürbarsten Einschnitt in die Freizeitsphäre bringen könnten. Der Nutzen von Telearbeit besteht auf dieser Seite vor allem in der Flexibilisierung der Arbeitskraft. Ein Manager aus Großbritannien drückte das bei der Telearbeitskonferenz 1993 mit dem Vergleich aus, "Telearbeit wie die Flammen auf einem Gasherd” handhaben zu können. Die Mitarbeiter - die Firma besteht zu 99% aus Teleheimarbeitern - würden je nach Auftragseingang in Anspruch genommen und bezahlt, statt eines Mindesgehalts erhielten sie für die ständige Dienstbereitschaft vom Unternehmen eine Treueprämie in der Höhe von 10% ihres Normalverdienstes.
Telearbeit bedeutet die Verlagerung der Arbeitsaktivitäten in den Kernbereich der Freizeit. Alleine die mangelnde räumliche Trennung begünstigt Workoholismus, Überzeiten, Unschärfen und Instrumentalisierung des Privat- und Freizeitbereiches. Die Verantwortung für die Ergonomie der Arbeitsumgebung, für Kosten aller Art, für Ausfälle und Störungen kann sehr viel leichter auf die Arbeitnehmer abgeschoben werden. Die grenzüberschreitende Flexibilität der Arbeitskraft vergrößert die Konkurrenz unter den Arbeitnehmern und gefährdet sozialpartnerschaftliche Arrangements, die im nationalen Rahmen noch möglich waren. Wenn heute schon eine österreichische Fluglinie ihre Buchhaltung in Indien erledigen lassen kann, dann schafft das eine gewisse Vorstellung von dem, was zu erwarten ist, vor allem angesichts der zuvor beschriebenen Ungleichgewichte in Angebot und Nachfrage.
Peter Drucker hat "das Verschwinden der Arbeit als Schlüsselproduktionsfaktor” als das "größte unerledigte Problem des Kapitalismus” bezeichnet. In einer Studie der ILO in Genf, zitiert vom ehemaligen Vorsitzenden der International Association of Machinists, Winpisinger, wird gar die drastische Vorhersage unternommen, daß in den nächsten Jahren durch Automation und Biotechnologie nur mehr 2 Prozent der heute benötigten Arbeitskraft benötigt werden, um alle nachgefragten Güter zu produzieren. Rifkin dazu: "Viele Beobachter fragen sich, wie eine zunehmend arbeitslose und minderbeschäftigte Bevölkerung, ersetzt durch die neuen Technologien, überhaupt noch in der Lage sein wird, sich die Produkte und Dienstleistungen, die da massenhaft angekurbelt werden, überhaupt zu leisten.”6
Wie sehr sich die Realitäten verändert haben, sieht man auch an den Utopien. Die totale Freizeitgesellschaft, wie sie zum Beispiel in den legendären Entwürfen der Gruppe "Archigramm” Gestalt angenommen hat, kommt uns seltsam antiquiert vor. Die Propheten von "Plug-In Cities” und "Datasuits”, die in den 60er Jahren die Entstehung der Hyperrealität vorhergeahnt und eine architektonisch - stadtplanerische Antwort darauf zu geben versuchten, können uns keine Antwort geben auf die erschreckende Realität der Neunziger, in denen nicht nur im Weltmaßstab, sondern in unseren Städten selber die Disparität der Lebensbedingungen zunehmend auseinanderklafft: in denen sich enormer Reichtum auf Gewinnerinseln ebenso akkumuliert wie ein Meer von Verlierern der Weltmarktkonkurrenz.

4. Die monadische Phase ist eine transitorische

Gerade unter den Bedingungen einer durch wirtschaftliche Globalisierungsprozesse verstärkten Unsicherheit, eines zunehmenden Auseinanderbrechens der einstmals so homogenen Außenwelt, dem verstärkten Kontrast zwischen den Gewinnern und Verlierern der globalen Marktwirtschaft, erscheinen "cocooning” und neues Biedermeier auf der Bildfläche, als ob "sich im nächsten Jahrtausend der durchschnittliche Städter ohnehin hinter seinen eigenen vier Wänden verbarrikadiert und mittels Satelitenantenne, Modem- und Faxanschluss mit der Umwelt nur mehr telematisch kommuniziert”.7
Einiges von diesen Szenarien sehen wir heute schon in Metropolen der westlichen Welt vorweggenommen: Die "unsafe areas” auf der einen, die gutbewachten Ghettos der Reichen auf der anderen Seite, das verweifelte Suchen nach kultureller Identität auf beiden Seiten. Simulation scheint allenthalben zum Lebenszweck geworden zu sein, nicht nur bei den New Yorker Schwulen, die allwöchentlich auf ihren Bällen mit geklauten Klamotten darum konkurrieren, wer die von der Medienindustrie aufgebauten Lebensstile - von "Dynasty” bis zum "successful businessman” - in seiner Person am glaubhaftesten verkörpert. Robert Kurz spricht in seinem "Kollaps der Modernisierung” von der "monadischen Subjektivität”, der mit der Strukturkrise der Arbeit (und, darauf aufgebaut,Geld, Familie,Politik etc.) sämtliche gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten unter den Füßen weggezogen zu sein scheinen. Der Zerfall einer bestimten Form von Gesellschaftlichkeit erscheint als Zerfall von Gesellschaft überhaupt, und das Bild der Leibnitzschen Monade - jeder Mensch ausweglos eingeschlossen in eine Sphäre subjektiver Realität - paßt treffend auf diese Zeitbefindlichkeit.
Es sind freilich Zweifel angebracht, ob die monadische Lebensform von Dauer ist. Die zunehmende Zahl der Single-Haushalte und die fundamentale Auflösung der funktionellen Geschlechterdifferenz kündigen wohl weniger einen neuen Lebensstil an als vielmehr die schlichte Unmöglichkeit, im biedermeierlichen Familienidyll der Auflösung der Arbeitsgesellschaft zu entkommen. Zu stark sind die wechselseitigen Anforderungen, einander die Sicherheit und den Halt zu geben, den die schwindende gesellschaftliche Form versagt. Die Ungesellschaftlichkeit der Monade ist zugleich Zufluchtsort und Quelle eines Leidensdruckes von eigentümlich moderner Qualität: sich in einem Universum menschlicher Möglichkeiten scheinbar frei entscheiden zu können, ohne daß eine davon wirklich konkrete, gesellschaftliche Gestalt annehmen würde.
Die Telematik hat in diesem Kontext einen eigentümlichen Doppelcharakter. Sie kommt dem Bedürfnis nach Rückzug und Isolation entgegen, sie ist fast identisch mit den Schreiben eines Tagebuches. Zugleich eröffnet sie ein absolut neuartiges Kontinuum reichhaltigster gesellschaftlicher Kommunikation durch die scheinbare Vereinsamung hindurch:
"Die virtuelle Gemeinschaft...die der amerikanische Soziologe Howard Rheingold jüngst anschaulich beschrieben hat, funktioniert so nach einem neuen Prinzip, das seiner Struktur nach paradox ist: die durch die digitale Technik erzwungene reale Isolation des Users ermöglicht eine virtuelle Kommunikation, die nach den Parametern Raum und Zeit alle bisherigen Kommunikationsformen übertrifft. Quasi autistisches Verhalten und intensivste Kommunikation fallen ineinander” 8 Wenn diese Kommunikation zu "virtuellen Gemeinschaften” führt, dann könnte sich durch diese Virtualität hindurch auch ein Diskurs entfalten lassen, der sich in der gesellschaftlichen Realität manifestiert.
"Die populäre Sorge, daß Computer und Telekommunikationsmittel uns den unmittelbaren persönlichen Face-to-Face Kontakt nehmen werden und menschliche Beziehungen noch künstlicher werden, diese Sorge ist naiv und vereinfachend. Es könnte genausogut umgekehrt kommen. Während einige Kontakte im Büro oder in der Fabrik weniger intensiv werden, könnten die Bindungen im Heim und in der Nachbarschaft durch diese Technologien vebessert werden. Computer und Kommunikation können uns sehr wohl helfen, Gemeinschaft zu bilden.” 9
Dieses Szenario eines "Global Village”, einer durch digitale Kommunikationsmedien intensivierten und aufgewerteten physischen Lebensumgebung, gewinnt seine Wahrscheinlichkeit in dem Maße, in dem sich die arbeitsgesellschaftlichen sozialen und politischen Netze aufzulösen beginnen. Wo die globalen Pipelines mit Waren und Dienstleistungen aller Art überfüllt sind, ergibt sich die Chance, einen neuen nichtmonetären gesellschaftlichen Sektor zu schaffen, der nicht nur an die Stelle der nicht mehr finanzierbaren staatlichen Versorgungssysyeme tritt, sondern dessen Tätigkeiten fürsorgenden und gemeinschaftsbildenden Charakters eine neue Basis lokaler Lebensqualität bilden. Diese Tätigkeiten - Kinder- und Altenbetreuung, Gesundheitsvorsorge, lokale Kulturinitiativen, Betreuung lokaler Stoffkreisläufe, Spiritualität etc. - haben nicht den scharfen, distinktiven Charakter von "Arbeit” in Gegensatz zu "Freizeit”, sie gründen sich auf lokalen Arrangements und Vernetzung und ihnen liegt das Bewußtsein zugrunde, daß Probleme lokal gelöst werden oder gar nicht.
Die Informationstechnologien spielen in diesem Kontext eine dreifache Rolle:
erstens erlauben sie es, daß die Zentren wirtschaftlicher Aktivität und die lokalen "dualen” Lebensräume überhaupt in eine ökonomische Beziehung treten können: durch Telearbeit lassen sich Segmente globaler Produktion (meistens handelt es sich um die immateriellen Tätigkeiten, doch deren Anteil an der Wertschöpfung steigt ständig) räumlich dorthin auslagern, wo stoffliche Ressourcen in reicherem Ausmaß vorhanden sind als in den städtischen Zentren.
zweitens ermöglichen sie es, diese stofflichen Ressourcen in einer Art zu nützen, die einen Ausgleich für die stets schwindende Kaufkraft und Zahlungsfähigkeit der Gemeinde bedeutet. "Doing more with less”, dieses Motto von Buckminster Fuller, bedeutet die ständig steigende Umsetzung von Wissen in Effizienz. Dieses Wissen ist global vorhanden, muß aber jeweils lokal realisiert werden. drittens schaffen die Informationstechnologien jene "kommunikative Dichte”, die Austausch- und Koordinationsvorgänge im Mikrokosmos unserer Siedlungsräume mit minimaler Bürokratie erlaubt.

5. Der wahre Wert der Telekommunikationstechnologie liegt in der Erschließung mikrokosmischer Lebensräume.

Telekommunikationspolitik ist heute noch geprägt von industriegesellschaftlichen Zielen und Effizienzvorstellungen. Der "Aktionsplan für Europas Weg in die Informationsgesellschaft” der Europäischen Komission stützt sich auf das Weißbuch "Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung” und die Maxime, "daß Informations- und Kommunikationstechnologien und darauf basierende Dienste ein stetiges, anhaltendes Wachstum fördern, die Wettbewerbsfähigkeit steigern, neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnen und die Lebensqualität aller Europäer verbessern können” 10
Die Ideologie der "Wettbewerbsfähigkeit” übersieht, daß sie strukturell ihre eigenen Grundlagen untergräbt. "Wenn jeder mit jedem konkurriert, bricht früher oder später das System zusammen” 11. Nicht konkurrenzfähige Teile der Ökonomie werden geopfert, nicht konkurrenzfähige Regionen und Staaten werden marginalisiert, nicht warenförmige Ressourcen (vor allem die natürlichen Lebensgrundlagen) werden verschwendet.
Die grundlegende Neuerung des Informationszeitalters ist nicht die Schaffung neuer Mittel im ökonomischen Wettbewerb; vielmehr ist die grundsätzliche Neuerung die Steigerung der Autonomiefähigkeit und somit das ziemlich genaue Gegenteil. In der "alten” Ökonomie ist materieller Export das Mittel des Reichtumserwerbs: am Schluß nur mehr für ganz wenige Gewinner. In der "neuen” Ökonomie des Informationszeitalters verwandelt Wissen Stofflichkeit. Anstatt Materie von einem Raum zum anderen zu bringen, um sie zu bearbeiten, wird von dem Umstand Gebrauch gemacht, daß Prozesse in beliebiger Komplexität raumübergreifend gesteuert werden können. Dann aber macht es erst recht Sinn, Materie nicht zu transportieren, sondern in mehr oder minder geschlossenen Kreisläufen an Ort und Stelle zu zirkulieren. Und im Unterschied zum gnadenlosen Wertgesetz der Industrieware - je mehr die Produktivität steigt, desto mehr sinkt der Warenwert - macht sich das Grundgesetz der neuen Ökonomie des Wissens geltend: je mehr das Wissen angewandt und verbreitet wird, umso mehr Werte schafft es. 12 Die telekommunikativ vermittelte Hyperrealität und die ökologische Vernunft sind natürliche Bündnispartner. Die von der Arbeitsgesellschaft zurückgelassenen Freiräume und die prekäre Freizeit bieten eine Chance, dieses Bündnis in die Tat umzusetzen.

1 "Die alten Technologien entfalteten ihre unmittelbare Wirkung nur am Ort ihres Seins. Die Bewegung eines Fahrzeuges ist an dessen Lokalisation gebunden. Die Kraft des Baggers verursacht genau dort auch ein Loch in der Erde. Die Prozesse, deren Verarbeitung Aufgabe der neuen Technologien ist, sind delokalisierbar, weil sie keinen im Koordinatensystem fixierten Ort haben. Alles ist immer, überall und jetzt. Computer haben die Funktion von Kapellen. Der Eintritt in die Kapelle führt immer zu derselben metaphysischen Sphäre.” (Roland Alton-Scheidl et al., Technologische Kultur, Wien 1993, p.24)
2 Es existieren durchaus ernstzunehmende Versuche, quasi einen Gegenbeweis anzutreten. So hat der Komponist Karlheinz Essl mit seiner "Lexikon-Sonate” einen hochkomplexen Algorithmus geschaffen, mittels dessen ein gewöhnlicher Personal Computer über alle unsere Zeitbezüge hinaus ständig neue Musik generiert, "komponiert”. Permutationen, Variationen Zufallsgeneratoren vermögen auch innerhalb des abgeschlossenen Kontinuums der virtuellen Realität für gewisse Tiefe zu sorgen. Und doch wird uns erst durch derartige Vergleiche der informationelle Reichtum der uns umgebenden "physischen” Realität bewußt.
3 John Battelle, "Seizing the next level - Sega’s plan for World Domination” in Wired 1.6, Dezember 1993
4 Es gibt übrigens schon eine "Internet Shopping Mall”, in der besonders leichte Preisvergleiche, aber auch das Auffinden seltener Produkte möglich sind. .
5Jeremy Rifkin, After Work - a blueprint for social harmony in a world without jobs, in: Utne Reader No.69, May-June 1995, p.53
6 derselbe ebenda, p.56, ebenso die weiteren Zitate aus diesem Absatz.
7 Thomas Proksch, "über den Traum von der ökologischen Stadt...” in: Perspektiven 6/7.1993, p.19
8 Konrad Paul Liessmann, "Die neuen Medien und ihre Feinde”, in: Raum, österreichische Zeitschrift für Raumplanung und Regionalpolitik, Nr.18,Juni 1995, p.29
9 Alvyn Toffler, The third Wave, New York 1981,p.225
10 Europas Weg in die Informationsgesellschaft, Brüssel, 19.7.1994, Einleitung
11 Group of Lisbon, Limits to Competition, Lissabon 1993, p.125
12 "With physical goods, there is a direct correlation between scarcity and value....the situation with information is often precisely the reverse. Most soft goods increase in value as they become more common.” JohnPerry Barlow, the Economy of Ideas, Wired, March 1994, p.126


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