Alberto Giacometti bei HatjeCantz, in Wolfs- und danach in Salzburg

praesentiert von Franz Krahberger

Schauen / Schauen / Nochmals Schauen / Passanten / peoples in motion / such a vibration / Skulptur / Skizze / Portrait / + surrealistische Plastik aus den fruehen Tagen /

Tatsaechlich hat Giacometti den Raum als Fluidum der Wahrnehmung genutzt. Ich bezweifle jedoch entschieden, dass Alberto Giacometti den virtuellen Raum erfunden hat, wie dies Markus Bruederlin und Julia Wallner behaupten. Diese Behauptung ist eine unnoetige Anbiederung an die Neuen Medien. Giacometti ist einer der ganz grossen klassischen Bildhauer, der ohne die Neuen Medien ausgekommen ist. Ich habe sein Werk in jungen Jahren bewundert und tue es heute noch.

Doch der Virtual Space ist ein Ereignis der Neue Medialitaet. Er ist strukturierte und codierte Elektrizitaet. das ist alles. Doch ist es mehr, viel mehr, als bislang dagewesen ist. Die genutzte Elektrizitaet kennzeichnet den paradigmatischen Wandel, sie ist eine voellig neue energetische Dimension. Ein wahrer Sprung in der Entwicklung der Menschheit, und kein Quantensprung, der sich ohnehin bloss immer schon im Mikrokosmos abgespielt hat. Alberto Giacometti mag etwas geahnt haben, doch gearbeitet hat er mit klassischen und traditionellen Mittel.

Der Raum existiert nicht, man muss ihn schaffen. Jede Skulptur, die vom Raum ausgeht als existiere er, ist falsch, es gibt nur die Illusion des Raumes. Alberto Giacometti, Notizen, um 1949.
Diese Kenntnisse hatte wohl jeder ernst zu nehmende Ausstellungsmacher, jeder gute Architekt, Baumeister und Innenausstatter zu haben. Etwa Mies van der Rohe, der in seinen Villenbauten, dass Auessere mit dem Inneren, ebenso wie Corbusier, zu einer neuen Einheit vom Raum, Licht und Lebens/Zeit zu verbinden verstanden hat. Als exemplarisches Beispiel aus der Kunstgeschichte kann der Treppenaufgang der Biblioteca Laurenziana in Florenz, skizziert, entworfen und gestaltet von Michelangelo Buonarotti, fertiggestellt von Bartolomeo Ammannati, genannt werden.

So man anstelle des Wortes Illusion den Begriff Eindruck verwendet, wird die unnoetige Anbiederung Bruederlins an die elektronisch&digital verfasste Virtualiaet vollends deutlich. Im Fall von Virtualitaet im actuellen Sinn (der Term virtus hatte in der Renaissance eine energetische Bedeutung: die innewohnende Kraft) kann man tatsaechlich von kuenstlichen Raeumen sprechen, vom Cyberspace. Kuenstliche Welten hat es jedoch bereits vor dem Cyberspace gegeben, von Leonardo da Vinci, von Johannes Kepler (Harmonici Mundi) bis hin zu M.C.Escher. Sie sind nicht der Evolution der Natur allein, sondern vielmehr der Geisteskraft des Menschen entsprungen. Siehe auch meinen Essay in meinem 1997 im t r i t o n Verlag publizierten Buch Das Babylonprojekt Little Nemo & Alice: Instant Dreams.

Sowohl Marcus Bruederlin wie Julia Wallner machen bloss das Dilemma des traditionellen Ausstellungsmachers und der Kunsthistoriker deutlich, die zwar in die Neuen Zeiten draengen, doch sich in der Neuen Medialen Welt mangels angewandter Theorie nicht wirklich zurecht finden. Das Giacometti den Kunstraum und das kuenstliche Licht in der Praesentation perfekt auf seine Wahrnehmung abgestimmt zu nutzen wusste, ist bei weitem nicht signifikant genug, um die Erfindung der Virtualitaet seitens Giacometto zu behaupten. Das ist und bleibt eine Anbiederung an die Neuen Medien, ohne deren Substanz zu verstehen. Es ist schlicht und einfach ein Irrtum, der Giacometti nichts nuetzt.

Nicht gezeigt werden in Wolfsburg die surrealistischen Skulpturen Giacomettis, die ich hier in den kleinen Bilderbogen eingebunden habe. Zum Auftakt Boule suspendue aus den Jahren 1930/31, bereits in Paris entstanden, eine Skulptur die vorwegnehmend die raeumlichen Spannungsbeziehungen in Giacomettis kuenftigem Werk erkennen laesst. Brancusis fruehen Einfluss auf Alberto Giacometti zeigt noch die eine oder andere Arbeit. Giacometti entledigte sich dieser Praegung in radikaler Weise. Fast alles aus seinem Fruehwerk, dass noch an Brancusi angelehnt gewesen ist, kippte er in den Tiber. Man muss sich von seinen Vorbildern und Lehrautoritaeten befreien, um wahrhaft Neues beginnen zu koennen. Wer immer nur in der Schule hockt, der laesst den Zug ausfahren, der fuer einen selbst bestimmt gewesen ist, ohne darin Platz genommen zu haben.





























Portraitfotos von Bresson, Hubmann, Avadon in non-commercial using

Alberto Giacomettis (1901-1966) unübertroffene Fähigkeit, seinen Figuren einen eigenen Raum und ihre eigene Zeitlichkeit einzuschreiben, steht im Zentrum der Publikation, deren ungewöhnliche Gestaltung neue Umsetzungsmöglichkeiten für die Darstellung dieser Besonderheiten findet. Es zeigt sich deutlich, wie präsent das Werk des Schweizer Künstlers bis heute ist und welch ungebrochenen Einfluss es auf nachfolgende Künstlergenerationen nimmt. Mit seiner völlig neuartigen Auffassung der menschlichen Figur im Verhältnis zu Raum und Zeit kann Giacometti buchstäblich, so eine der Thesen des Bandes, als einer der Erfinder des virtuellen Raums gesehen werden.

Die Publikation präsentiert Alberto Giacomettis reiferes Werk in einem umfassenden Überblick. Anhand einer Vielzahl von Skulpturen - neben Bronzen auch einige Originalgipse des Künstlers - sowie mit Gemälden und Zeichnungen gibt der reich illustrierte Band einen vielschichtigen Einblick in das faszinierende Werk eines der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. (Englische Ausgabe ISBN 978-3-7757-2715-0)

Ausstellungen: Der Urspung des Raumes Alberto Giacometti im Kunstmuseum Wolfsburg > 20.11.2010-6.3.2011 | Museum der Moderne Mönchsberg, Salzburg > 26.3.-3.7.2011

/ Alberto Giacometti / Der Ursprung des Raumes / Hrsg. Markus Brüderlin, Toni Stooss, Texte von Gottfried Boehm, Markus Brüderlin, Thomas Schütte, Toni Stooss, Julia Wallner, Gestaltung von Double Standards / Deutsch / 2010. 256 Seiten, 230 farbige Abb. / 25,20 x 31,60 cm / gebunden mit Schutzumschlag / Lieferbar / ISBN 978-3-7757-2714-3/

HATJE CANTZ



·^·