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1. Durch das Alter betrachte ich vielleicht ein bestimmtes Detail der Welt genauer und werde auf etwas hingewiesen, was Jüngere ohnehin nie vermuten würden.


© Helmut Eisendle

Ein Mann steigt auf einen Berg.
Es ist ein riesiges, mit Erde durchzogenes, mit Pflanzen bewachsenes felsiges Bollwerk mit turmartigen Rundungen, Zacken, Fugen und Narben, Rissen und Wunden, aus denen Wasser springt wie Blut aus Verletzungen. Er steht am Rande eines Abgrundes, hinter ihm der Pfad, und blickt hinunter:
Die Welt wird mir nach und nach für Augenblicke bewußt, sagte der Mann.
Die Natur als solche ist eine, meine Maschine. Daß ich sie nicht begreife, daß ich nichts von ihr weiß, ist ein einfacher Fall von Bewußtlosigkeit. Die Natur, ein Berg, ein Fluß, das Meer und die Gefühle darüber, unsere Gefühle darüber, drücken nichts anderes aus als unsere Unwissenheit.
Der aschgraue Berg wird durch blanke weiße Felsen, Blöcke und das Grün unterbrochen. Im Hintergrund, wenn das Grün ins Blau übergeht, liegt die offene Landschaft einer Ebene. Ein steiler nach oben führender Pfad endet an einem Felsen, der einem Phallus gleicht. In den aschfarbenen Stellen des Berges, die mit Geröll, mit Schotter gefüllt waren, sieht man Spuren, Pfade von Tieren, die man niemals sehen wird.
Ein eingebuchtetes Grün wird vom steilen Grat gegen den Wind geschützt. Der Wind schlägt wild um sich.
Der Mann ist über das Maß seiner Jahre hinaus - er ist Ende fünfzig - behäbig, wohlbeleibt und wirkt darum älter.
Er rastet gerne und bietet das Bild eines Menschen, der an die Beschwernis des Gehens gewöhnt, eine Technik entwickelt hat, die täglich auftretende Mühsal, zwar auf Kosten der Zeit, aber ohne größere Erschöpfung, hinter sich zu bringen. Je weiter er kommt, je länger der Weg ist, desto länger werden die Pausen. Er hat sich mit dem zunehmenden Wandel der Muskeln und Organe abgefunden.
Er hat gleichsam resigniert, sein Körper ist zurückgeblieben oder eben gealtert und hat ihn in einen hilflosen Zustand des Abfindens gedrängt. Sein Äußeres und sein Inneres sind für ihn von denkbarem Desinteresse, solange sein Geist nicht betroffen ist. Auf diesen vertraut er. Er beachtet das, was er mit sich herumschleppt, das, was er nach außen hin darstellt, nicht mehr, obwohl er die Mühsalen seines Körpers täglich und stündlich erdulden muß. Eine wahrhafte Gleichgültigkeit hat ihn erfaßt. Seine Augen sind nicht richtig geöffnet und wie durch Rauch verschleiert, seine Lider sind feucht, die Haut an den Schläfen gespannt und um die Augen in kleinen Falten erstarrt, sein Haar, das sich täglich mehr lichtet und grau zu werden beginnt, ist durcheinander und sein ganzer Körper, der in Kleidungsstücke eingezwängt scheint, behindert ihn mehr als er will. Der Herbst ist der Philosoph unter den Jahreszeiten, sagt er laut, wie einer, der sich besinnt, was und wie etwas geschehen soll. Er hat etwas Sorgsames, Bedächtiges, beinahe Edles. Ist es nicht so ?
Etwas Geistiges geht in ihm um. Oft unterbrechen die letzten warmen Sonnenstrahlen des Sommers die Kühle. Die Blätter fallen von den Bäumen. Ein Blatt nach dem anderen löst sich von den Ästen und fällt in einem kleinen Wirbel, sich drehend zu Boden. Manchmal schaut es ein wehmütig aus wie es verspielt auf die Erde schwebt und dann daliegt, um irgendwann vom Wind wieder in die Luft getragen zu werden. Mit dem Fallen der ersten Blätter beginnt der Herbst, mit dem letzten hört er auf. Ja, die Bäume wandeln sich. Auf den Wiesen und Wegen ist alles voll Farbe; Gelb, Braun, Grün und Rot stehen einander gegenüber und versuchen den Tagen ihre Farbe zu geben. Geht man durch das Laub, raschelt es und die Blätter fliegen durch die Luft. Manchmal schleicht schon der Nebel durchs Land. Beim Spaziergang tauchen aus ihm Häuser, Menschen, ein Bach mit einer Brücke auf, so als hätte die Natur es verborgen. Man fühlt sich freundlich angezogen, weil es plötzlich da ist. Zur Herbstzeit hat man großes Zutrauen. Aus der Kühle des Tages fliegt einem auch ein wenig Fröhlichkeit entgegen. Und Mut, sagt der Mann, Mut. Kopf und Herz fühlen sich frischer als sonst. Und doch irgendwann, macht sich die Kälte breit. Die Sonne strahlt zwar, aber kälter als im Spätsommer. Der Winter hat lange Nächte, kurze Tage und kahle Bäume. Es frieren die Seen und Bäche, es schneit und die Kinder erinnern uns an die lang vergangene Jugend. Der Schnee fällt langsam, er schwebt zur Erde. Der Begriff des Herbstes ist eine Träu-merei, das heißt, daß er sein Ziel in sich selbst hat oder ?
Ja, ja. Ich träume. Ich bin alt genug.
Keinen einzigen Augenblick, murmelt er, habe ich mich im Nichts eingerichtet. Und verhindert habe ich auch nichts. Etwas gab es und gibt es immer. Menschen sind Säugetiere, mammifere, von Anfang bis zum Ende gibt es etwas, zuerst das Saugen, dann das Röcheln, immer.
Er lacht in sich hinein.
Durch das Alter betrachte ich vielleicht ein bestimmtes Detail der Welt genauer und werde auf etwas hingewiesen, was Jüngere ohnehin nie vermuten würden.
Die Erinnerung ist absurd, zusammengesetzt, hinter ihr liegt die Wahrheit oder das, was man für sie hält.
Auch ich kann natürlich das Wunder der Natur anstaunen oder ich erstarre, wenn ich den eigenen Verfall sehe. Was schaue ich denn an ? Meinen eigenen Werde- und Untergang. Und was denke ich mir ? Das ist die Natur, das muß so sein. Oder ? Nein, nicht bei mir, nicht bei mir. Auch wenn Tag für Tag in meiner Umgebung einer stirbt, glaube ich tatsächlich, daß es mir nicht passiert. Solange ich so was denke, passiert es mir auch nicht. Ich könnte das Leben hereinlassen. Aber was will ich ? Hinaus, hinaus. Dort draußen, wo es die Freiheit gibt. Und gerade die gibt es nur im Kopf. Ich bin in meinem Leben wie in einem Zimmer gefangen. Die Türe ist versperrt. Ich will hinaus, hinaus. Wenn aber die Türe offen wäre, wüßte ich nicht, was ich damit anfangen soll. Ich bleibe doch drinnen im Zimmer und warte, bis ich wieder weiß, daß ich eingesperrt bin. Dann drücke ich gegen die Türe. Verschlossen. Und doch, vielleicht geht sie nach innen auf ? Der Mann bleibt stehen und blickt in die Landschaft. Ein Weg führt zwischen verkrüppelten Bäumen hindurch, zu einer Erhöhung, hinter der es rauscht und er vermutet einen Fluß. Er setzt sich auf die Anhöhe. Eine Weile sitzt er da und atmet die frische Luft ein.
Die Natur des Menschen, die Natur der Sache. Das Wunder des Lebens beruht auf der Verbindung von augenscheinlich spontanen und augenscheinlich gut organisierten Reaktionen chemischer und physikalischer Grundelemente. So ist es doch.
Die Natur scheint, wenn sie uns Menschen, die Tiere, die Pflanzen herstellt oder macht, die von uns aufgestellten Gesetze der Physik und Chemie zu kennen. Oder aber: Diese von uns aufgestellten Gesetze sind von der Natur in milliardenfachen Experimenten umgangen worden, indem was entstanden ist.
Wasser - neben Feuer, Luft und Erde eines der vier Lebenselemente - ist unter Umständen das kostbarste. Als Geburtsort des Lebens durchdringt es die Zellen jedes Lebewesens. Die Behauptung, daß wir zu sechzig Prozent aus Wasser bestünden, hat mich als Kind beunruhigt, weil ich mich fragte, warum ich nicht von selbst schwimmen kann.
Der Kreislauf des Wassers pulsiert in der Welt; Verästelungen in Bächen und Flüssen, die wir regulieren, um sie zu benützen oder uns zu schützen, bestimmen unsere Abhängigkeit vom Wasser. Städte liegen an Flüssen oder am Meer, das heißt, die ersten Ansiedlungen sind am Wasser entstanden, um zu überleben.
Wir machen Wüsten mit Wasser fruchtbar, wir erleben den Mißbrauch des Wassers als Transportmittel von Giften der Industrie und sind beunruhigt, wenn die Polarkappe zu schmelzen droht und das Meer sich zu unserem Schaden vermehrt. Wasser bestimmt unser Leben und unsere Erde.
Er sieht ein Bild vor sich.
Ein Fundstück. Ich ging dicht am Meer entlang. Ich folgte dem unendlichen Strand, irgendwo in Spanien. Da fand ich etwas, daß das Meer ans Land geworfen hatte. Etwas sehr Weißes, Abgewetztes, Glattes - von besonderer Form; ebenmäßig; unaufdringlich, hart, leicht.
Der Gegenstand auf meiner Hand in der Sonne. Was war es denn wirklich ? War es ein Menschenwerk oder irgendein Meeresgebein, das geblieben ist, wie es war ? Wer hat die Arbeit getan ?
Ich habe das Ding zurück ins Wasser geworfen und dabei gedacht, daß der schlichteste Naturkundler mir hätte weiterhelfen können. Ein Mikroskop hätte ergeben, ob es ein Stoff war, den ein Gerät behandelt hatte, oder nur Elfenbein, von Wasser und Strand gerieben. Ja, ich weiß, die Welt ist hinter mir her.
Er geht langsam auf die Anhöhe vor sich, bleibt stehen, blickt zurück und sieht in der Ferne den Wasserfall, der in einem See mündet.
Da ist es, das Wasser.
Das angeschwollene Wasser geht wirbelnd durch den See, der es in sich verschließt, und mit kreisenden Strudeln gegen verschiedene Objekte prallend und mit schlammigem Schaum in die Luft aufspringend und im Zurückfallen das gepeitschte Wasser in die Luft zurückwirft. Die Kreiselwellen, die vom Ort des Stoßes weglaufen, mit ihrem Anstoß quer über die Bewegung der anderen Kreiswellen hinweggehend, bewegen sich entgegen; Und beim Wasserfall, der in den See stürzt, sieht er aufgelöste Wellen. Das Wasser wirbelt durch die Luft und fließt hinaus, vermengt mit Holzstücken. Die Wellen nehmen ihren Ursprung nach dem Fall und sie wachsen um so mehr im Umfang, je mehr sie an Bewegung zunehmen: und diese Bewegung macht sie um so niedriger, je breiter ihre Basis ist. Wenn die Wellen an den verschiedenen Dingen anprallen, so springen sie zurück, über die herankommenden andern Wellen hinweg, indem sie das Anschwellen derselben Kurve verändern, die sie erreichen und die schon begonnene Bewegung weiter verfolgt hätten.
Als ich jung war, wunderte es mich manchmal, warum jeder Mensch eine andere Vorstellung davon hat, wie das Leben so vor sich geht. Mit den Jahren gewann ich Abstand davon und die bewunderten Modellfiguren büßten ihren Glanz ein. Jeder Mensch dachte ich, hat sein Rezept für den Triumph über die Grenzen das Alltäglichen gefunden und er wisse nun ganz genau, was es überhaupt heißt, irgendwer zu sein.
Ich habe in meinem Leben bei den Menschen wenig Kluges gefunden. Die meisten sind nach meiner Erfahrung nach unfähig, ängstlich, erbärmlich, bemitleidenswert. Und doch sind meine Lebenserfahrungen nicht anders als irgendwelche.
Mit der Wahrheit kann ich als Alter und als Junger nicht leben. Um mit meinem Leben zurecht zu kommen, brauche ich Illusionen und zwar nicht nur äußere, vermittelt beispielsweise durch Kunst und Kultur, Philosophie und Wissenschaft, nein, innerliche, zum Beispiel ein sicheres Gefühl meiner eigenen Stärke meinem Bewußtsein gegenüber. Je eher ich die Wirklichkeit als Wahrheit sehe, werde ich der Selbsttäuschung verfallen und zugrunde gehen. Oder alt sein, alt und grau und sanft und lächeln. Ich lächle mich dann in den Tod. Im Grunde ist es die Phantasie, die mich hinausträgt ins Unendliche. Sie trägt mich einfach weg und hindert mich zurückzukehren. Wohin auch ? Wenn die Gefühle phantastisch werden, wird sich das Ich nie mehr verflüchtigen. Und das ist gut so.


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