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2. In der neuen, alten Welt, in der ich lebe, findet der unmittelbare Verkehr mit den höheren Mächten, sozusagen mit dem Himmel nicht mehr statt.


© Helmut Eisendle

Erschöpft geht der Mann weiter.

Ich mache keine gute Figur. Das einzige, was imponiert ist mein Alter. Dadurch habe ich den Mut und Wunsch auf diesen Berg zu steigen und von einer inneren Ruhe zu träumen. Obwohl alles umsonst ist, gehe ich und weiche keinen Meter ab. Wohin auch ? In den Abgrund oder hinaus, aus mir heraus. Ich bleibe am Weg und in mir aus Angst, daß ich die innere und äußere und überhaupt meine Haltung verliere, ja auch meine Posen. Doch wär´s nicht endlich ehrlicher diese liebenswürdige Egomanie als die ewige Zurückhaltung und die Vorstellung von Tüchtigkeit, die mich allen sympathisch gemacht hat ? Obwohl den wenigen, die es wissen, klar ist, daß es nichts Schöneres gibt als gerade es, die verlogene Darstellung zu verlieren und damit endlich, ja, endlich außerhalb seiner selbst zu sein, ach, dieser Gedanke, nämlich außerhalb meiner selbst zu sein, läßt mich geradezu jeden Verlust akzeptieren in dieser gefahrlosen Welt bar jeder Wirklichkeit, zumindest der Wirklich-keit, die mich nicht kümmert und auf die ich so gerne pfiffe wie auf Krieg und Frieden, Liebe und Haß, oben und unten, da und weg, Widerstand und Kapitulation, ein Widerstand - ist er noch in mir ? - ein Widerstand, der mich aufreibt oder zumindest zersetzt, wie ich mich zersetze, wenn ich mich eben nicht zulasse, gleichsam ewig durch mich durchschaue, weil ich so weit gekommen bin, fast schon für einen Schlußstrich reif, obwohl ich doch keine echte Absicht habe, sondern nichts anderes als mein Bild beschädige, ein wenig nur oder genau genommen anders aufstelle, mich hin- und herrichte, in einem ständigen Rückzug irgendwohin oder möchte ich jetzt doch statt zu zerbrechen oder auszubrechen nur etwas unter- oder abbrechen oder in Stücke zerbrechen, die dann brach daliegen, das ist es ja, nein, ein Stück, nein, eigentlich nur die Gewißheit verlieren, daß ich meiner Sache nicht gewachsen bin, wie aber würde etwas ausschauen, dem ich gewachsen bin ? Na ? Na ? Wie denn ?
Der Mensch, zumindest so einer wie ich, ist ein Derwisch. Was aber ist ein Derwisch, ein Geist ? Ein Geist ist das Selbst, das Ich, das Ego. Was aber ist das Selbst genau ? Ein Ich. Das Selbst, auch das Ich, ist also nicht das Verhältnis, sondern das Verhältnis zur Welt, das sich zu sich verhält. Irgendwas zwischen Freiheit und Notwendigkeit. Eine Synthese, ein Verhältnis zwischen zwei Polen. Also ist der Mensch kein Selbst, kein Ich ? Er ist ein Verhältnis.
Oder ist der Mensch ein Ich erst dadurch, daß er durch einen anderen erkannt wird, so daß er nur existieren kann, indem er etwas darstellt, also indem er sich im Sich-zu-einem-Verhalten zugleich zu einem andern verhält ?
Das Verhältnis, ja, das Verhältnis zu wem ?
Die Welt draußen ist doch gescheitert ?
Abgewrackt ?
Sie mißfällt wie üblich. Und der Berg ? Ist ruhig und wartet, wartet, wartet.
Auf was ?
Auf meinen Absturz ?
Er sieht einen Vogel, der über ihm zu stehen scheint.
Turning and turning in the widening gyre, the falcon cannot hear the falconer, sagte Yeats in einem Gedicht.
Der Falke hört, wenn er seine freien Spiralen in der Luft zieht, nicht den Falkner.
In der neuen, alten Welt, in der ich lebe, findet der unmittelbare Verkehr mit den höheren Mächten, sozusagen mit dem Himmel nicht mehr statt.
Ja, das Ewige hat mich tatsächlich nie besonders erbaut.
Gott ist ein Kuckuck im falschen Nest. Zumindest für mich.
Die Natur gibt es, weil es eine Sprache über sie gibt.
Die Natur, die Monstren hervorbringt und die sich selbst nachahmt, bis sie sich unmerklich verwandelt - die Natur, die ja auch wahrhaft unbegrenzte Wiederholungen nicht scheut und deren treuestes Abbild eine ungeheurer Schotterhaufen ist auf der eine sich fortpflanzende Alge liegt und wächst und wächst.
Und ich klettere auf einen Haufen aus Schotter, Felsen, Erde, um etwas zu beweisen ? Was ? Im Detail treibt die Natur ihr Wesen und Unwesen. Auch mit mir. Das Erlöschen unserer Sonne hat für die Natur keinerlei Bedeutung. Blind und ohne irgendein vernünftiges Ziel kann sie unendlich viele neue Sonnen hervorbringen, total verschieden gegenüber den Bedingungen, die für unser Leben sind. Das Leben als selbstorganisierter Prozeß kennt keinen Sinn und keinen Endzweck. Die Natur ging nie mit uns schwanger und nimmt auch keine besondere Rücksicht auf unsere oder meine Kapriolen, wenn ich auf diesen riesigen Klumpen steige. Nehme ich Rücksicht auf die Natur meines Lebens, um meines eigenen Überlebens willen ? Zerstören wir nicht mutwillig die Vielfalt, die der Natur selbst völlig gleichgültig ist ? Es ist natürlich widersinnig, sich zu verantworten, indem wir uns eine zweite Natur, eine soziale Welt und die Zivilisation mit allen Vor- und Nachteilen schaffen.
Die Bedingungen der Erschaffung, Erhaltung und des Zivilisierens von Leben und Zusammenleben sind so zahlreich, so unabhängig voneinander, so speziell, so wahrscheinlich; ihre Varianten so sonderbar; ihre Organe, Funktionsweisen, die Beziehungen Zwischen den Menschen zugleich so undifferenziert und so subtil, so schwach und so unverwüstlich, so gut angepaßt und so anfällig, daß man schier meinen könnte, all dies sei dazu geschaffen, den Geist bis zum Wahnsinn zu verwirren, ihn, der sich diesem System zugehörig und zugleich nicht zugehörig fühlt. Ein riesiges Fragelabyrinth zaubert die Natur in uns vor.
Die Natur ist eine große Hieroglyphe, die einer Deutung bedarf, sagt Schopenhauer. Und ? Die Sonne zieht über den Himmel, als wünschte sie mir zu beweisen, daß ich das Recht hätte, selig zu glauben, aus einer immer wiederkehrenden Vorstellung Gesetze und Regeln der Natur ableiten zu können. Und irgendetwas zu begreifen. Wenn sie mich verbrennt oder durch ihre Abwesenheit erfrieren ließe, würde es keiner ihr, sondern nur mir vorwerfen.
Mit den Jahreszeiten wächst Jahr für Jahr etwas aus der Erde, kriecht in ihre Fugen und Ritzen, versteckt sich in den Ecken und Sprüngen; ein Grasbüschel, ein Fleckchen Moos zwischen den Felsen am Wegrand, Zirben, die auf der Wetterseite mit silbernem Moos verrotten, in ihren Ästen die Nester von Insekten und Mäusen und Vögeln, die das Astwerk durch neues zu ersetzen versuchen, die Spinnweben im Inneren, welche die Spalten und Risse verkleinern, die Ameisen, welche Straßen und Bahnen über die Erde und die Rinde legen, um kleine Reste, Abfälle irgendwohin zu transportieren, die Schneehasen und Mäuse, die mit nagenden Bissen Fugen öffnen, um Eingänge für die Natur zu schaffen.
Überall kehrt die Natur zurück; auch in den Städten, in den Dörfern, überall. Eine Laube überwuchert grün ein Dach, Hornissen, Borkenkäfer und fliegende Ameisen schwirren auf dem Dachboden und bauen kleine Städte, der wilde Flieder erobert die Wände, Efeu schlingt sich durch Ritzen ins Innere, ein Baum stürzt um, ein Windstoß wird ihn niederreißen, und dem Mauerwerk den Rest geben, das Dach durchschlagen und vor einem Eisentor liegenbleiben, das sich langsam in Rost zersetzt.
Es wird alles zur Natur zurückkehren.
Menschen werden auftauchen, die Äste des Baumes absägen, den Stamm in Blöcke teilen, den Schutt mit einem Caterpillar wegräumen und ein neues Haus bauen.
Und die Tiere werden auch dort wieder einziehen.
Ratten bevölkern die Kanäle der Städte und Schwärme von Möven fliegen über die riesigen Abfallhaufen vor den Städten.
Er blickt auf den Berg.
Die Pflanzen, verkrüppelten Latschen, knorrigen Zirben, Kiefern und Moose. Diese Faltenwürfe der Natur werden vorderhand so bleiben oder etwas vortäuschen. Ich sehe das Ganze, doch aber die Veränderung des einzelnen nicht. Was mag es sein, daß man vor allem im Alleinsein immer mehr dazu neigt, das zu sehen, was stirbt, abblättert, zerfällt. Betrachte ich die wackere Zirbe nur, weil sie einen abgebrochenen Ast mit vorzeitig gewelktem Laub aufweist? Warum sehe ich, wenn ich die Kiefer oben am Weg betrachte, nicht die stacheligen grünen Früchte, sondern das hölzerne Gerippe, welches aus seiner Kuppel ragt ? Ein Blitz, sicher, was kann es sonst gewesen sein? Ich denke alles im Vergleich. Ja, es fehlt mir die Ablenkung der Verlorenheit, die unten in der Stadt meine Sicherheit ist. Die Zirbe, so hoch, prächtig und alt sie auch sein mag, sehe ich nur wegen ihrer dürren Äste, in denen die seltsamen Krähen und Dolen nisten, ich denke an die kleinen Zerstörungen, welche sie anrichten, ich spüre den Wind, wenn er die gelben Blätter durch die Luft wirbelt und den Sommer auflöst. Je genauer ich dies alles, seine Natur betrachte, desto schärfer nehme ich den Untergang wahr. Als Ganzes betrachtet, scheint alles in Ruhe, in einer Ordnung befangen zu sein. Jedes Detail aber ist unsicher und in Gefahr.


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