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3. Der Tod ist ein schwarzes Kamel, das vor jeder Türe niederkniet, sagen die Araber.


© Helmut Eisendle

Der Mann geht weiter, bleibt nach einiger Zeit schnaufend stehen und blickt hinunter auf den Weg. Der Tod ist ein schwarzes Kamel, das vor jeder Türe niederkniet, sagen die Araber.
Jeder glaubt, etwas anders und ein Anderer zu sein.
Auch wenn er sich fortschleppt, hinauf auf einen Berg wie ich gerade.
Jeder spürt sich als Einzelner. Vielleicht entsteht daraus die Zuversicht, daß der Tod zwar das Leben, nicht aber die Welt der Gedanken, die man in sich birgt, beendet. Gedanken leben länger, länger als jedes Leben.
Ich meine die Gedankenwelt jedes Einzelnen ist nicht auf das Leben beschränkt; wäre es so, hielte ich mich als der Betroffene für ein gerade noch lebendes Nichts, denn vor der Geburt war ich nichts und nach dem Tod auch nicht. Ich zerfalle zu Staub und mein Geist wäre dahin.
Weder das eigene, noch die anderen Ichs sind vergänglich. Irgend etwas bleibt nach dem Tod, wenn ich im Leben etwas dafür getan habe. Und wenn es nur Gedanken waren, die ein anderer aufgefangen hat, so wie man Schmetterlinge fängt.
Wie, wann und wo ich auch immer gerade bin, stets bin ich mit dem Bewußtsein im Zentrum der Zeit und im Zentrum meiner Gedankenwelt, nie an ihren Endpunkten, Geburt oder Tod.
Das ist wohl auch der Grund für das Zutrauen zum Leben, jenseits der dauernden zurecht vorhandenen Todesangst.
Und diese Gedankenwelt kommt aus der Vergangenheit oder braucht sie, denn ohne sie entstünde sie nicht. Wenn ich mich aber an Tatsachen klammere, die von der Außenwelt kommen, bin ich dabei meine Identität zu verlieren.
Es ist eben die Gegenwärtigkeit des Denkens und Fühlens, welche identisch ist; ein Gefühl. Die Wirklichkeit ist ein Gefühl. Mehr nicht.
Auch wenn ich gezwungen bin, zu glauben, daß bei meinem Tod zwar die Welt untergeht, weiß ich doch, daß mein Geist, meine Gedankenwelt weiter lebt. Sie hat an der Wirklichkeit doch möglicherweise Anteil, dort, wo mein Gefühl dafür vorhanden ist. Ja ich weiß. Daß dadurch etwas geschehen ist oder weiterhin geschehen wird. Durch unzählige Gedanken.
Alles, was ich mir ausdenke, veranlaßt mich zur Behauptung, sie, diese Gedanken, seien mir schon einmal zu Ohren gekommen, ich oder irgendwer hätte diesen oder jenen Gedanken schon einmal gehabt und sie, diese Gedanken hätten in meinem oder einem Leben schon Bedeutung gewonnen oder diese verloren.
Der Geist ist doch etwas, das bleibt.
Eine Zeit lang zumindest. Er bleibt vielleicht nur wegen eines kleinen Gedankens, der mitgeteilt worden ist, irgendwann, irgendwo, durch Zufall oder Absicht. Ein Gedanken von diesen vielen, vielen, einer dieser unzähligen Gedanken auf dieser Welt in irgendeinem Moment.
Die einhundertsechundneunzigste Fabel von Aesop heißt: Der Tod und der alte Mann. Der Tod fordert einen alten Mann auf, ihm zu folgen. Der Alte entschuldigt sich und sagte:
Ich bin in Welt geworfen worden, die so groß ist, ohne daß mir einer von dieser Größe etwas gesagt hat. Jetzt willst Du mich aus ihr holen und in eine andere Welt werfen, die noch größer ist und von der ich noch weniger wissen kann ? Gib mir noch Zeit, daß ich meinen letzten Willen in meiner Welt kundtun kann.
Ei, sprach der Tod, ich habe Dich oft genug gewarnt und ich meine, daß Du längst bereit sein müßtest, mir zu folgen. Hast Du in Deinem langen Leben nicht genug Beispiele der Sterblichkeit erfahren ? Ich habe sie dir gezeigt; an jungen, vornehmen, armen Menschen und Kreaturen, an allen. Sind Dir diese Tode nicht hinlängliche Warnungen gewesen ? Erinnerst Du Dich nicht an die schwere Krankheit, die Du vor vier Jahren erlitten hast, warst Du nicht im Krieg und hast überlebt und doch gesehen wie sie gestorben sind, neben dir ? Weißt Du nicht, daß jeder von diesen Zufällen ein vorausgeschickter Bote war, der Dir meine Ankunft vorausgesagt hat ? Sperre Dich nicht, guter Freund, Deine Zeit ist um, komm´, fort mit Dir.
Es ist eine seltsame Einbildung, wenn die Menschen behaupten oder sich einbilden, daß irgendeiner, der Nachbar, die Frau, das Kind, ein Freund aus der Welt gerissen werde, ohne Zeit gehabt zu haben, sich auf den Tod vorzubereiten. Doch aber ist die Forderung nach Aufschub ein Fehler; letzten Endes machen wir eine Fahrlässigkeit zu einer Sünde, die mangelnden Vorbereitung zu einer Entschuldigung.
Jedes Atemholen ist nicht nur ein Schritt zum Tod, sondern ein Teil von ihm. Der Tod wird mit uns geboren und wir tragen ihn in uns. Er ist mein einziger beständiger Gefährte, den ich in der Welt habe und doch denke ich so wenig an ihn, als hätten ich nichts, absolut nichts mit ihm zu tun.
Der Ausspruch: Wir sterben täglich, ist wahr, nur ich glaube es nicht, obwohl jedes Ding unter der Sonne mir eine Lektion von Sterblichkeit gibt. Worin soll der Unterschied zwischen den Dingen und den Menschen sein, wenn es ums Sterben geht oder ums Verschwinden oder ums Abtreten oder Sich Auflösen ?
Und doch, der alte Mann in der Fabel will noch einen Aufschub.
Ich gebe den Dingen einen Aufschub, wenn ich sie noch brauche. Oder ich verlange Aufschub, weil etwas nicht erledigt worden ist ? Wann ist mein Leben erledigt ?
Ja, vielleicht werde ich als alter Mann noch gebraucht. Von irgendwem.
Und der Einsame stirbt deswegen zurecht ?
Ich habe doch mich und meine Gedankenwelt, eine Welt, die nie zu Ende gebracht werden kann.
Für mich und andere Menschen.
Langsam geht der Mann weiter.
Wenn ich dies alles glaube, muß ich der Zeit ihre Schicksalhaftigkeit zuerkennen. Sie, die Zeit existiert unabhängig von mir. Jedermann ist mehr oder weniger zufällig in sie hinein geworfen und kann nur eines kleinen, winzigen Teils von ihr habhaft werden.
In dieser kurzen Zeit bestimmt mein Denken eine vorübereilende Wirklichkeit wie tausend andere Wirklichkeiten davor und abertausend Wirklichkeiten danach. Und auch diese Wirklichkeiten werden irgend-wann aus der Welt verschwunden sein. Was über bleiben wird, sind Erinnerungen, Lügen, Gespinste. Und diese Traumgebilde nehme ich als das, was meine Vernunft, meinen Charakter, mein Bewußtsein bestimmt.
Ist es so, gehöre ich mit all meinen Eigenheiten eher einem träumenden als einem wachen Menschenschlag an.
Es kann zwar sein, daß es nicht jedem so geht mit den Gedanken. Es ist sogar billig und typisch für mich, das Leben als Schauspiel zu sehen und selbst, wenn mich das Leben mißhandelt hat, hat mich Neugierde und Freude am Erleben und Zusehen, wie es eben so abläuft, nie verlassen.
Mir ist diese Selbstbetrachtung und diese Koketterie, mich selbst zum Objekt zu machen, lieber als das, was uns die Religionen zu vermitteln versuchen. Ein Sammelsurium aus dem Jenseits mit einer überirdischen Verantwortung, Sühne und Verurteilung, Lob und Strafe, alles eingebaut in ein paar Ebenen: Himmel, Fegefeuer, Hölle. Literatur wie bei Dante mit der Göttlichen Komödie. Oder ? Reagieren wir nicht nach der Wirklichkeit, die wir uns einbilden ? Ein Gefühl ist tatsächlich ? Es ist die Wirklichkeit.
Oder ist die Welt, nach Wittgenstein, tatsächlich alles, was der Fall ist ?
Viele Ansichten über Leben und Tod, Sein und Nichtsein sind der Fall.
Der Mann bleibt stehen und blickt nach vorne.
Der Berg. Hier ist etwas der Fall.
Ein paar undeutlich gezeichnete Wege führen nach oben durch die Berglandschaft. Kiefern und verkrüppeltes Gebüsch säumen die Ränder. Ein Windstoß löst die Blätter und weht sie zu ihm herunter. Die Felsen und Schotterhaufen stehen da in ihrer stillen Schönheit als seien sie die Väter der Bäume, die den Wind lieben. Ein Rauschen ist zu hören. Auf einer Anhöhe steht ein Felsen wie ein Phallus, starr zum Himmel hin. Ganz oben, wo die Landschaft den Himmel berührt, sieht er ein Tier. Es blickt zu ihm und wendet den Kopf. Es hebt die Hand und das Tier verschwindet hinter dem Horizont.
Es gibt wohl kaum einen Flecken Erde, das mir so vertraut und doch so wüst und leer ist. Ein verlassener Friedhof der Natur. Aus unvordenklicher Zeit.
Und doch erweckt, das, was ich sehe, in mir so etwas wie Anhänglichkeit. Etwas Vertrautes löst es aus. Ein verworrenes Dickicht, drahtartiger Büsche begrenzen den Weg, auf dem ich stehe. Aus den tiefen Rissen verkalkter Felsen wachsen kleine Büschel heraus, umgeben von blühendem Moos. Und das alles in einer trümmerübersäten Landschaft.
Von dem zerklüfteten, treppenförmigen Sockel, ausgewaschen von Wind und Regen, blickt er nach vorne, als erwarte er etwas.
Ein paar Krähen kommen direkt auf ihn zu und er hält die Hände vor sein Gesicht.
Mit ohrenzerreißendem Schreien feiern die wilden Vögel ihren Sieg über ihn.
Sie stoßen als Schwarm vom turmartigen Felsen herab und werfen sich in einem luftigen Chor, über ihn hinweg in die Tiefe.
Der Mann setzt sich an den Wegrand und wartet, bis der Schauder vorüber ist.
Das Alter, das Älterwerden, das alter-ego der Erinnerung. Was empfinde ich ?
Was spüre ich ? Eine Erinnerung an Wunderdinge, außerordentliche Schauspiele, Marksteine meines Lebens von den Kindheitstagen an, über die Jugend, bis heute hin.
Mit solcher Art unsinniger Fragen treten gewöhnliche Menschen an das heran, was man unter der Altersfrage versteht. Es ist eine naive, kokette, geradezu luxuriöse Begierde, sich darzustellen, die dann auftritt, wenn man einen gewissen Wohlstand erreicht hat; dieser Wohlstand aber ist kein materieller, sondern rückblickend ein Wohlhaben über Stunden und Zeiten, eine Erinnerung, welche das Positive glorifiziert und das Negative geschickt verschwinden läßt.
Und trotzdem ist jener Zustand gleich jener Begierde von jüngeren, braven und unauffälligen Menschen, die das erfahren wollen, was sie noch nicht erlebt haben oder nie erleben werden, doch aber davon träumen.
Die Begierde des Erahnens von einem Leben.
In der Vorstellung der Menschen, die unter einem Joch der Unauffälligkeit ihr Dasein verbracht haben, ist das Leben anderer stets ein Wunderland, ein großartiges Zauber- und Gaukeltheater, in dem alles geheimnisvoll und unvorhersehbar war und ist. Das eigene aber ist erfüllt von belanglosen Erfolgen, kleinen Lohnerhöhungen und Mißtönen.
Die anderen haben immer viel erlebt. Ja, die anderen.
Für gewöhnlich verbinden die Fragenden mit dem Wort Leben Gedanken an eine seltsame, auf den Kopf gestellte Welt, verwickelt in Träume, weitab von dem, was mit Überleben zu tun hat.
Und doch ist das Leben - irgendeines und vor allem das der anderen, die es nach Ansicht des Fragenden eben erlebt haben, durch die Frage allein schon eine Art von Kolportage über etwas, das durch sein Zusammendrängen plötzlich besonders wird. Vielleicht wie eine Cola-Dose und eine Schachtel Marlboro plötzlich etwas werden, weil man sie nebeneinander auf der Straße liegen gesehen hat. Die Beachtung gibt den Wert.


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